Der o. g. Artikel wurde mir zugänglich gemacht. Leider verspätet möchte ich dennoch einige Anmerkungen machen:

Als Krankengymnastin mit dem Arbeitsschwerpunkt der Neuropädiatrie, seit fast 50 Jahren aktiv, bin ich mehr als erstaunt, dass in dem Artikel Aussagen gemacht und Sachverhalte aufgelistet werden, die ich vor eben fast 50 Jahren verzweifelt zur Kenntnis nehmen musste. Wir hatten damals keinerlei Kenntnis, worauf es bei der Beurteilung der Spontanmotorik der Patienten ankam, wir wussten nicht, auf was wir achten mussten, um zu erkennen, welche Art von Störung der Bewegungskoordination, -harmonie und/oder -schnelligkeit vorlag. Wir kannten damals keinerlei „Messlatte“ (die gesunde sensomotorische Ontogenese) oder sahen gar eine Möglichkeit, diese genau zu definieren, zu analysieren und mit dem Gesehenen in Beziehung zu bringen. Weder eine umfassende quantitative noch qualitative Beurteilung war uns damals möglich, was zur Folge hatte, dass es häufig verschiedene Diagnosen und Prognosen zu dem selben Patienten gab.

Beim Lesen der Beschreibung von statisch bewerteten Einzelfunktionen in den Tabellen des Beitrags entsteht bei mir der Eindruck, wir befänden uns teilweise wieder an den Anfängen der 1960er Jahre.

Wiederholt von Prof. Michaelis gehört, und hier noch ein wenig deutlicher, wird dem Leser klar mitgeteilt, dass der Zeitpunkt der Diagnose einer Zerebralparese nach dem 2. Lebensjahr liegt. Das allerdings wäre geradezu entsetzlich! (Zu diesem Zeitpunkt hat selbst die Großmutter längst das Problem erkannt.) Im Beitrag wird zu sehr vielen aufgelisteten Einzelfähigkeiten – ohne das Kind im Ganzen zu beurteilen – Stellung genommen im Hinblick auf abzuprüfende Funktionen, die ein Erkennen von Defiziten nicht nur erleichtern, sondern trennscharf objektivierbar und vergleichbar machen sollen.

Ein Beispiel aus Tabelle 3, S. 527: Im Score „Bimanual Fine Motor Function“ ist der Parameter „Die eine Hand manipuliert ohne Beschränkung“ aufgeführt. Hier stellen sich mehrere Fragen:

  • In welcher Position befindet sich das Kind?

  • Kann es alleine seine Körpermitte steuern, und wenn ja, wie tut es das:

  • Liegt es sicher und stabil auf dem Rücken, sitzt es, ist es von der Mutter in genau dieser Körpermitte fest fixiert?

Außerdem stellt sich die Frage, welche Art von Manipulation gemeint ist: Das Anschupsen eines Spielzeugs, das Wegstoßen mit halber/totaler Fausthaltung, oder kann das Kind ulnar die Gegenstände in Handgröße ergreifen?

Heißt „manipulieren“ loslassen können? Was machen dabei der Körper, das Gesicht…?

Nur die genaue Analyse der gesunden ontogenetischen Entwicklung ermöglicht eine klare Aussage

Dieser Score ist absolut ungenau und sagt über die Fähigkeit des Kindes in der Greif-/Ergreifsituation gar nichts aus. Der gesunden Entwicklung folgend darf man nicht vergessen, dass eine große Anzahl an Vorbedingungen erfüllt sein müssen, um überhaupt zufassen/ergreifen zu können. Nur die exakte Kenntnis und die genaue Analyse der gesunden ontogenetischen Entwicklung als Maßstab für die Beurteilung von Abweichungen ermöglichen eine klare Aussage.

Was bedeutet für die Lebensprognose eines jungen Säuglings, der zu früh geboren wurde und eine mögliche Zerebralparese entwickelt, der Einsatz nichtklinischer, bildgebender Verfahren mit der Feststellung, dass in seinem Gehirn dies oder jenes nicht in Ordnung scheint? Gar nichts, denn das junge Gehirn ist so plastisch, also lernfähig, dass wir häufig gar nicht sagen können, wie sich das Kind entwickeln wird. Kinder mit riesigen Ausfällen im Gehirn lernen laufen. Eltern, die weinend die schreckliche Lebenserwartung – abgeleitet von einem auffälligen MRT – erfahren, sind überglücklich, wenn die Entwicklung einen positiven Verlauf nimmt. Nie kann sicher vorausgesagt werden, wie sich das kleine Gehirn entwickeln wird, aber mit zu frühen Prognoseäußerungen stürzt man oft genug die Familie in tiefe Depressionen.

Der klinische Blick erscheint mir das Entscheidende, um wirklich von Frühdiagnose sprechen zu können. Im Zusammenhang mit den Ergebnissen und Interpretationen der Spontanmotorik, insbesondere der ersten 6 Monate, der primitiven Reflexe und der Lagereaktionen sollte es gelingen, eine Zerebralparese deutlich vor dem 2. Lebensjahr zu diagnostizieren und einer neurokinesiologischen Therapie zuzuführen.