Zusammenfassung
Paraneoplastische Leukozytosen bei soliden Tumoren sind mit einer schlechten Prognose assoziiert. Während milde paraneoplastische Leukozytosen regelhaft auftreten, sind nur wenige Fälle mit Leukozytenzahlen über 100.000/µl beschrieben. Dargestellt ist der Fall eines 73-jährigen Mannes mit Adenokarzinom der Lunge und Leukozytenzahlen bis 178.000/µl. Der Patient verstarb in der Neutropenie nach dem zweiten Zyklus Immunchemotherapie nur etwa 8 Wochen nach initialer Vorstellung. Spezifische Therapieansätze werden erforscht, sind bisher allerdings noch nicht im klinischen Alltag etabliert.
Abstract
Paraneoplastic leukocytosis in solid tumors is associated with poor prognosis. While mild leukocytosis is common, paraneoplastic hyperleukocytosis is extremely rare. The case of a 73-year-old male diagnosed with an adenocarcinoma of the lung and a peak white blood cell count of 178,000/µl is reported. The patient succumbed to the disease after two cycles of immunochemotherapy only 2 months after first hospital admission. Specific treatment options are still under investigation and have not been reported in clinical use.
Anamnese
Ein 73-jähriger Patient stellte sich mit seit 4 Wochen andauerndem Husten, Abgeschlagenheit und Appetitlosigkeit in der Notaufnahme vor. Einmalig sei der Husten blutig tingiert gewesen. Fieber wurde verneint.
Der Patient war bis dato sehr agil. Anamnestisch habe er 40 „pack years“ geraucht. In der medizinischen Vorgeschichte sind ein R0-reseziertes Melanom, ein Basaliom und eine koronare Herzerkrankung erwähnenswert.
Klinischer Befund
Es präsentierte sich ein Patient in reduziertem Allgemeinzustand und schlankem Ernährungszustand. Die Herzfrequenz war mit 98 Schlägen pro min grenzwertig erhöht bei normalen Blutdruckwerten. Die Atemfrequenz lag bei 15 pro min. In der Auskultation der Lunge fand sich rechts apikal ein abgeschwächtes Atemgeräusch bei sonst unauffälligem Befund und fehlenden Rasselgeräuschen. Der Patient war zu allen Qualitäten orientiert. CRB-65-Score: 1.
Diagnose
Laborchemie
Laborchemisch imponierte eine deutliche Erhöhung des C‑reaktiven Proteins (CRP) bis 143 mg/l (Normwert < 5 mg/l) bei normwertigem Prokalzitonin. Ein Rachenabstrich schloss eine Infektion mit SARS-CoV‑2, Influenza A und B sowie dem respiratorischen Synzytialvirus (RSV) aus. Blutkulturen verblieben steril.
Das Blutbild wies eine ausgeprägte Leukozytose (91/nl) mit prädominanter Neutrophilie auf (siehe Tab. 1). In einem Blutausstrich zeigte sich eine Linksverschiebung ohne Nachweis von Blasten. Zudem fanden sich eine Thrombozytose (554/nl) und eine milde, normozytäre Anämie (Hämoglobin 12,7 g/dl).
Bildgebung
Es erfolgten ein Röntgen und eine Computertomographie (CT) des Thorax (siehe Abb. 1a, b). Im rechten Oberlappen konnte eine dreieckige Konsolidierungszone mit positivem Bronchoaerogramm nachgewiesen werden. Eine zusätzliche tumoröse Komponente konnte radiologisch nicht ausgeschlossen werden.
Verdachtsdiagnose
Der Patient wurde mit der Verdachtsdiagnose einer ambulant erworbenen Pneumonie stationär aufgenommen.
Therapie und Verlauf
Der Patient erhielt nach Aufnahme intravenös Ampicillin/Sulbactam. Der Verlauf der Leukozyten und des CRP ist in Abb. 2 aufgeführt. Bei persistierend hohen Infektparametern wurde die antibiotische Therapie zunächst auf Piperacillin/Tazobactam mit Clarithromycin, dann auf Meropenem mit Clarithromycin eskaliert. Auch unter der breiten Therapie kam es zu keinem laborchemischen Ansprechen. Es folgte eine Bronchoskopie mit bronchoalveolärer Lavage sowie Biopsie bei differenzialdiagnostisch okkultem Lungenkarzinom.
Bronchoskopie und bronchoalveoläre Lavage (BAL)
In der Bronchoskopie zeigte sich eine mäßige chronisch atrophe Bronchitis mit geschwollener Schleimhaut und engen Ostien im rechten Oberlappen. Es wurden 10 ml Lavageflüssigkeit sowie mehrere transbronchiale Biopsien gewonnen.
Erregerdiagnostik
Die Diagnostik auf Legionellenantigen im Urin sowie Serologien auf atypische Pneumonieerreger fielen negativ aus. In der Lavageflüssigkeit waren in der Mikroskopie und Kultur keine Keime nachweisbar. Die Diagnostik auf Viren, Bakterien und Pilze mittels „multiplex polymerase chain reaction“ (PCR) verlief negativ.
Pathologie
In den im Rahmen der Bronchoskopie transbronchial entnommenen Biopsien zeigte sich ein schlecht differenziertes, solide und diffus wachsendes TTF(thyreoidaler Transkriptionsfaktor)-1-negatives Adenokarzinom, welches als Primarius eingeordnet wurde. Ein lepidisches Wachstumsmuster ließ sich nicht nachweisen. Immunhistochemische Negativität für Melan A schloss eine Metastase des anamnestisch vorbekannten Melanoms aus. 40 % der Tumorzellen exprimierten PD-L1 (programmed cell death 1 ligand 1). Immunkompetente Zellen in Tumorumgebung färbten negativ für PD-L1 (TPS 40 %/CPS 40 %). Therapierelevante Treibermutationen in BRAF, EGFR (Epidermal Growth Factor Receptor), ALK (Anaplastische Lymphomkinase) und ROS1 wurden ausgeschlossen.
Staging
Eine Knochenszintigraphie, eine CT von Thorax/Abdomen sowie eine Kontrastmittelsonographie der Leber blieben ohne Nachweis von Fernmetastasen. In der Kernspintomographie des Schädels zeigten sich zahlreiche zerebrale Mikrometastasen ohne klinisches Korrelat. Eine FDG(Fluordeoxyglucose)-PET(Positronen-Emissions-Tomografie)-CT-Untersuchung erfolgte nicht.
Differenzialdiagnostik der Leukozytose
Die Leukozyten stiegen trotz breiter Antibiotikatherapie weiter an und erreichten nach etwa 4 Wochen ein Maximum von ca. 178.000/µl. Dem Patienten waren zuvor keine Steroide oder Wachstumsfaktoren verabreicht worden. Eine Infektion war trotz ausführlicher Diagnostik nicht nachweisbar.
In der Knochenmarkbiopsie zeigte sich histologisch eine prominente Granulopoese mit normaler Ausreifung ohne Dysplasiezeichen. Eine Knochenmarkkarzinose konnte ausgeschlossen werden. Das BCR-ABL-Fusionsgen wurde nicht nachgewiesen. Die Hyperleukozytose wurde als Paraneoplasie des neu diagnostizierten Adenokarzinoms der Lunge gewertet.
Verlauf
In der interdisziplinären Tumorkonferenz wurde eine Immunchemotherapie mit dem PD-L1-Checkpoint-Antikörper Pembrolizumab kombiniert mit Carboplatin und Pemetrexed empfohlen. Der Patient erhielt den ersten Zyklus ohne Dosisreduktion einen Monat nach Erstvorstellung und konnte nach der Gabe zügig nach Hause entlassen werden.
Nur wenige Tage nach der Entlassung stellte sich der Patient mit Allgemeinzustandsverschlechterung, Fieber, Tachyarrhythmien und Hypotonien erneut in unserer Notaufnahme vor. Radiologisch (Abb. 1c, d) zeigten sich eine deutliche Zunahme der Konsolidierung im rechten Oberlappen und neu aufgetretene Pleuraergüsse. Der Patient entwickelte eine drittgradige Neutropenie mit Nadir an Tag 8 nach Chemotherapie. Das CRP stieg stark an (siehe Abb. 2). Bei neutropenischem Fieber wurde antibiotisch mit Piperacillin/Tazobactam, nach Versagen und klinischer Verschlechterung sequenziell mit Meropenem behandelt. Bei unklaren Durchfällen wurde präemptiv Metronidazol hinzugenommen. Stuhlkulturen auf pathogene Keime und die PCR auf Clostridium difficile blieben negativ. Der Patient erhielt einmalig 30 Mio. Einheiten Granulozyten-Kolonie-stimulierenden Faktor (G-CSF). Darunter kam es zu einem erneuten Anstieg der Leukozyten bis etwa 168.000/µl bei gleichzeitigem CRP-Abfall. Der Zustand des Patienten blieb weiter stark reduziert.
Aufgrund der starken Einschränkung des Allgemeinzustands verabreichten wir den zweiten Zyklus der Chemotherapie dosisreduziert. Erneut kam es im Anschluss der Chemotherapie zu einem Abfall der Leukozyten bei CRP-Anstieg. Eine Therapie mit Meropenem und Vancomycin wurde eingeleitet. Der Patient verstarb in der Neutropenie am Tag 9 nach dem zweiten Zyklus Chemotherapie.
Diskussion
Bei Patienten mit Karzinomen und unklarer Leukozytose ist eine paraneoplastische Genese zu erwägen. Eine retrospektive Studie untersuchte 758 Patienten mit solidem Tumorleiden und Leukozytose > 40.000/µl. Hier waren 10 % auf eine Paraneoplasie zurückzuführen. Die häufigste Tumorentität war bei diesen Patienten das nichtkleinzellige Bronchialkarzinom [1]. Paraneoplastische Hyperleukozytosen (> 100.000/µl) sind hingegen Raritäten [2, 3, 6,7,8].
Pathophysiologisch liegt eine Produktion von G‑CSF, GM-CSF (Granulozyten-Makrophagen-Kolonie-stimulierender Faktor) und/oder Interleukin‑6 durch den Tumor zugrunde. Vor Diagnosestellung einer paraneoplastischen Leukozytose sollten Infektionen, Steroid- oder Wachstumsfaktorapplikation, hämatologische Zweitneoplasien oder Knochenmarkkarzinosen ausgeschlossen werden.
Paraneoplastische Leukozytosen korrelieren mit einem schnelleren Wachstum des Tumors, schlechterem Therapieansprechen und einem signifikant schlechteren Überleben [1]. Es wird angenommen, dass durch den Tumor produziertes G‑CSF die Mobilisation von CD11b+Gr1+ myeloischen Zellen vermittelt, die wiederum die Tumorangiogenese, Metastasierung sowie die Unterdrückung der T‑Zell-Antwort begünstigen. Als spezifische Therapieoptionen werden COX(Cyclooxygenase)-2- und MEK(Mitogen-aktivierte Proteinkinase-Kinase)-Inhibitoren diskutiert, diese sind bisher allerdings noch nicht in den Behandlungsalgorithmen etabliert [4, 5].
Es gibt keine Evidenz zum Management sekundärer G‑CSF-Gaben bei therapieinduzierter Neutropenie nach paraneoplastischer Leukozytose. Im dargestellten Fall kam es nach iatrogener G‑CSF-Verabreichung im Nadir rasch zu einer erneuten überschießenden Leukozytose (Abb. 2). Da weiterhin ein zusätzlicher stimulierender Effekt auf die CD11b+Gr1+ myeloischen Zellen durch rekombinantes G‑CSF nicht auszuschließen ist, ist der G‑CSF-Support kritisch zu hinterfragen.
Fazit für die Praxis
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Die Diagnose einer paraneoplastischen Leukozytose bei soliden Tumoren erfordert den Ausschluss iatrogener Faktoren wie Kortikosteroide und Wachstumsfaktoren, Infektionen, Knochenmarkkarzinose und einer hämatologischen Zweitneoplasie.
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Paraneoplastische Leukozytosen sind mit einem schnellen Tumorwachstum und reduzierten Überleben verbunden. Spezifische Therapien sind nicht etabliert.
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Iatrogene G‑CSF-Gaben sollten bei bekannter paraneoplastischer Leukozytose zurückhaltend eingesetzt werden.
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J. Heusinger, P. Czech, H. Hengstler, F. Schaumann, A. Rückert, F. Schmid, J. Kalla, U. Diergardt, H. Bremer und P. La Rosée geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Über keine der gezeigten Bilder/Angaben ist der betroffene Patient zu identifizieren.
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H. Haller, Hannover (Schriftleitung)
B. Salzberger, Regensburg
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Heusinger, J., Czech, P., Hengstler, H. et al. Paraneoplastische Hyperleukozytose bei Lungenkarzinom. Innere Medizin 63, 1312–1315 (2022). https://doi.org/10.1007/s00108-022-01407-8
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DOI: https://doi.org/10.1007/s00108-022-01407-8
Schlüsselwörter
- Karzinom
- Nichtkleinzelliges Bronchialkarzinom
- Paraneoplastische Syndrome
- Granulozyten-Kolonie-stimulierender Faktor
- Leukämoide Reaktion