Die „coronavirus disease 2019“ (COVID-19) lässt kein Kapitel der medizinischen Lehrbücher aus und präsentiert sich mit Schäden an jedem nur erdenklichen Organ. Selbst nach milden Verläufen sind lange Rekonvaleszenzphasen mit teils schwerer Fatigue möglich, und sekundär auftretende, immunologisch vermittelte Erkrankungen wie Guillain-Barré-Syndrom, posturales Tachykardiesyndrom, Diabetes mellitus Typ 1 oder Lupus erythematodes sind keine Seltenheiten [1]. Immer deutlicher imponiert in dieser unerfreulichen Sammlung eine schon lange bekannte Entität, die noch immer zahlreiche Rätsel aufgibt: die Myalgische Enzephalomyelitis (ME) bzw. das Chronische Fatigue-Syndrom (CFS).

Leitsymptom Fatigue: mehr als Müdigkeit

Der Begriff Fatigue bezeichnet eine zu den vorausgegangenen Anstrengungen unverhältnismäßige, durch Schlaf nicht zu beseitigende Erschöpfung, die sowohl körperlicher als auch geistiger und/oder seelischer Art sein kann. Sie ist damit von der klassischen Müdigkeit oder auch dem diffusen Begriff der „Erschöpfung“ klar abzutrennen.

Als häufiges, aber unspezifisches Symptom tritt Fatigue bei einer Vielzahl von insbesondere internistischen und neurologischen Erkrankungen auf, wie etwa bei chronischen Organerkrankungen, Autoimmunerkrankungen, Schlafstörungen oder Tumorerkrankungen („Tumorfatigue“; Tab. 1). Besonders häufig und für die Differenzialdiagnose relevant ist die oft hartnäckige, aber meist selbstlimitierend verlaufende postinfektiöse Fatigue, die im Rahmen vieler Infektionskrankheiten wochen- bis monatelang anhalten kann, etwa nach einem Pfeiffer-Drüsenfieber durch das Epstein-Barr-Virus (EBV) oder auch nach COVID-19.

Tab. 1 Wichtige Differenzialdiagnosen der Fatigue. (Aus [2])

Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom

Bei ME/CFS handelt es sich um eine komplexe, im Erwachsenenalter in der Regel lebenslange Erkrankung noch nicht vollständig geklärter Ursache. Auslöser sind meist Infektionskrankheiten. Im Mittelpunkt der klinischen Symptomatik steht neben der chronischen, über mindestens 6 Monate anhaltenden Fatigue eine ausgeprägte Belastungsintoleranz mit Symptomverschlechterung nach alltäglichen Anstrengungen. Die Kernsymptomatik der Belastungsintoleranz grenzt ME/CFS gleichzeitig gegen die anderen Erkrankungen mit chronischer Fatigue ab. Wegen der begleitenden Funktionsstörungen des zentralen und autonomen Nervensystems wird die Erkrankung von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als neurologische Erkrankung geführt, und zwar unter dem Begriff Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS). In der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) ist ME/CFS als Erkrankung des Nervensystems unter G93.3 codiert. Im Zuge der COVID-19-Pandemie ist ME/CFS in den Fokus der klinischen und forschenden Medizin gerückt, weil ein substanzieller Teil der Long-COVID-Syndrom-Fälle – womöglich um die 20 % – klinisch als ME/CFS verläuft [3,4,5].

Epidemiologie

Die Prävalenz von ME/CFS ist schwer zu schätzen, weil noch immer nur wenige Ärzt*innen mit der Erkrankung vertraut sind und mit einer entsprechend hohen Rate an Unter- und Fehldiagnosen zu rechnen ist, beispielsweise als „Burn-out“ oder auch als andere psychische, psychosomatische oder psychiatrische Diagnosen. Laut (vorpandemischen) epidemiologischen Daten aus den Vereinigten Staaten dürften 0,4 % der Bevölkerung von ME/CFS betroffen sein [6]. Demnach wäre für das (vorpandemische) Deutschland von mehr als 250.000 Betroffenen auszugehen – was ME/CFS als ähnlich häufig wie etwa die multiple Sklerose ausweist. Rechnet man die in verschiedenen Studien ermittelten Raten an Post-COVID-Verläufen, die die ME/CFS-Diagnosekriterien erfüllen, auf die Gesamtbevölkerung um, so muss in den nächsten Jahren mindestens mit einer Verdopplung der Zahl der von ME/CFS Betroffenen in Deutschland gerechnet werden [4].

ME/CFS ist keine seltene Erkrankung

ME/CFS kann in jedem Alter auftreten, mit einem Gipfel in der Adoleszenz und einem Gipfel bei Erwachsenen im Alter von 30 bis 40 Jahren – was die volkswirtschaftliche Bedeutung der Erkrankung unterstreicht. Frauen erkranken 2‑ bis 3‑mal so häufig wie Männer.

Terminologie und Pathogenese

Die Medizin tut sich bis heute schwer mit ME/CFS. Dies dürfte unter anderem daran liegen, dass die Pathogenese von ME/CFS nur in Teilen geklärt ist und es in der Routinediagnostik bisher keinen eindeutigen Biomarker für die Erkrankung gibt. Zudem sind die für die Erkrankung verwendeten, historisch gewachsenen Begriffe zum Teil missverständlich. Im deutschsprachigen Raum wird oft der Begriff „Chronisches Fatigue-Syndrom“ (CFS) verwendet, im angelsächsischen Sprachraum wird der Begriff „Myalgische Enzephalomyelitis“ (ME) bevorzugt. Beide Begriffe sind – aus unterschiedlichen Gründen – unscharf. So handelt es sich bei ME/CFS nicht um eine klassische Enzephalomyelitis, auch wenn eine Inflammation des zentralen Nervensystems (ZNS) als mögliches pathobiologisches Korrelat diskutiert wird [7]. Zudem ist ein myalgisches, also von Muskelschmerzen geprägtes Bild zwar häufig, aber nicht immer zu beobachten. Eine ähnliche Problematik haftet dem landläufig gerne verwendeten Begriff des chronischen „Erschöpfungs“-Syndroms sowie den nach ICD-10 G93.3 möglichen Bezeichnungen „chronisches Müdigkeitssyndrom“ oder „postvirales Müdigkeitssyndrom“ an. Diese Begriffe verkennen, dass eine Fatigue etwas anderes ist als Müdigkeit (Infobox 1); sie haben lange Zeit dazu geführt, dass die Erkrankung bagatellisiert wurde („Ich bin auch oft müde“).

Die wohl treffendste Bezeichnung für ME/CFS wurde im Jahr 2015 in einer für das Institute of Medicine erstellten Expertise vorgeschlagen: „systemic exertion intolerance disease“ (SEID; systemische Belastungsintoleranzerkrankung; [8]). Auch wenn sich der Begriff nicht durchgesetzt hat, gibt er den Schlüsselaspekt von ME/CFS gut wieder, nämlich die auch für die Differenzialdiagnostik entscheidende pathologische Reaktion auf Belastungen.

ME/CFS entwickelt sich meist nach einer Infektionskrankheit

Eine genetische Prädisposition ist aufgrund von Zwillingsstudien anzunehmen. Bei über zwei Drittel der von ME/CFS Betroffenen lässt sich ein zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Symptombeginn und einer Infektionskrankheit feststellen. Zumeist handelt es sich hierbei um eine virale Infektion, beispielsweise mit Herpesviren wie EBV, Herpes-simplex-Virus Typ 1 (HSV-1) oder humanem Herpesvirus Typ 6 sowie mit Enteroviren, Influenzaviren, Dengue-Virus, Chikungunya-Virus und Severe-acute-respiratory-syndrome(SARS)-Coronaviren. Es sind aber auch Fälle nach Infektionen mit Bakterien, Pilzen und Protozoen beschrieben, etwa mit Coxiellen (Erreger des Q‑Fiebers), Borrelien, Bartonellen, Brucellen, Chlamydien, Legionellen oder Amöben. Auch Operationen, Halswirbelsäulen- oder Schädel-Hirn-Traumata sowie einschneidende psychische Stresssituationen wurden als Auslöser dokumentiert.

Die grundlegende Pathogenese des ME/CFS ist in Teilen aufgeklärt, in Teilen unklar. Nach den verfügbaren Evidenzen handelt es sich bei ME/CFS um eine Multisystemerkrankung mit Dysregulation des Immunsystems, des autonomen Nervensystems, des Gefäßsystems und des zellulären Energiestoffwechsels [9]. Psychosomatische Hypothesen zur Ätiopathogenese sind heute nicht mehr haltbar. Patient*innen mit nach stringenten Diagnosekriterien diagnostizierter ME/CFS weisen durchgängig pathobiologisch auffällige Befunde auf, etwa bei der nach orthostatischer Provokation (beispielsweise mit Kipptisch) gemessenen Hirndurchblutung. Während hier die Durchblutung bei Gesunden im Schnitt um 7 % abfällt, sinkt sie bei Patient*innen mit ME/CFS um durchschnittlich 26 % [10]. Bei kardiopulmonalen Belastungstests lassen sich ebenfalls durchgängig abnorme kardiorespiratorische und metabolische Reaktionen auf körperliche Belastung nachweisen [11, 12]. Die endotheliale Gefäßfunktion ist bei vielen Patient*innen beeinträchtigt. Alle diese Befunde werden inzwischen auch an Patient*innen mit durch „severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2“ (SARS-CoV-2) ausgelöster ME/CFS erhoben [13,14,15].

Die biopathologischen Grundlagen werden immer besser verstanden

Die derzeitigen Forschungsbemühungen konzentrieren sich vor allem auf ein besseres Verständnis der Immundysregulation bei ME/CFS. Der Fokus liegt dabei auf der Rolle von Autoantikörpern gegen bestimmte G‑Protein-gekoppelte Rezeptoren (GPCR) des Gefäß‑, Immun- und Nervensystems, die sich bei einem Teil der Patient*innen nachweisen lassen; dies gilt auch für durch SARS-CoV‑2 induzierte Verläufe [16, 17]. Untersucht wird auch, welche Rolle eine mögliche Reaktivierung endogener Viren spielen könnte, etwa von EBV und/oder anderen humanen Herpesviren. An beiden Forschungsfragen sind deutsche Teams führend beteiligt, so etwa Scheibenbogen et al./Charité, Hohberger et al./Universität Erlangen und Prusty/Universität Würzburg [18,19,20].

Klinisches Bild

Im Mittelpunkt von ME/CFS steht ein in medizinischer Hinsicht auffälliges, weil allenfalls für sehr wenige Erkrankungen beschriebenes Phänomen: die belastungsabhängige Symptomverschlechterung, auch „post-exertional malaise“ (PEM) genannt. Darunter versteht man eine nach (auch leichter) Alltagsanstrengung auftretende Verschlechterung der Beschwerden, die meist erst nach mehreren Stunden oder am Folgetag einsetzt, mindestens 14 h nach Belastung noch spürbar ist und oft mehrere Tage (bis Wochen) anhält. Auslöser können dabei körperliche, kognitive wie auch emotionale oder sensorische Belastungen sein.

Fatigue und Belastungsintoleranz sind Leitsymptome von ME/CFS

Zweite Conditio sine qua non für die Diagnose ME/CFS ist die neu auftretende, anderweitig nicht erklärbare, über mindestens 6 Monate persistierende, tiefgreifende Fatigue (mehr zu diesem Leitsymptom im Abschnitt „Leitsymptom Fatigue: mehr als Müdigkeit“).

Infobox 1 Fatigue bei Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS): „tired and wired“

Die Fatigue bei ME/CFS spiegelt die außergewöhnliche pathophysiologische Konstellation bei ME/CFS wider. Einerseits sorgen die verminderte zerebrale Durchblutung und ineffektive Sauerstoffverwertung für ein profundes Versagen der Leistungsfähigkeit und Erholungsfähigkeit. Andererseits liegt aber eine adrenerge Hyperstimulation mit Tachykardie, Hypervigilanz und ineffektiver Ausgrenzung sensorischer Reize vor. Die Fatigue bei ME/CFS wird deshalb oft mit dem Ausdruck „tired and wired“ beschrieben. Die meist gleichzeitig bestehende muskuläre Fatigue mit verminderter Handkraft und fehlender Regeneration nach Belastung unterstreicht den systemischen Charakter der Fatigue bei ME/CFS [21].

Zur komplexen und variablen Symptomatik von ME/CFS zählen darüber hinaus:

  • Neurokognitive bzw. „enzephalopathische“ Beschwerden: Typisch sind der oft als „brain fog“ bezeichnete Komplex („klebriges“ Denken, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Wortfindungs- und Artikulationsstörungen, verwaschene Sprache) sowie die oft ausgeprägte Reizüberempfindlichkeit (vor allem gegen Licht und Geräusche, aber auch gegen Gerüche und in schweren Fällen gegen Berührungen).

  • Oft schwere Schlafstörungen: Häufig sind unerholsamer Schlaf, erschöpftes Aufwachen unabhängig von der Schlafdauer sowie ein gekippter oder rollierender Tag-Nacht-Rhythmus. Auch Ein- und Durchschlafstörungen können auftreten.

  • Kopf- und/oder Muskel- bzw. Gelenkschmerzen sind typisch und oft stark beeinträchtigend.

  • Zeichen einer autonomen Dysfunktion bzw. einer orthostatischen Intoleranz (OI) sind fast durchgängig vorhanden (zu OI siehe Infobox 2). Dazu gehören: Tachykardie (teils mit Palpitationen), Schwindel, Benommenheit, Atemnot bei leichter Belastung, intermittierend kalte Extremitäten mit Minderperfusion der Akren (teilweise mit Akrozyanose, Raynaud-Syndrom), Mundtrockenheit sowie generalisierte Ödembildung (aufgedunsenes Gesicht, gespannte Waden, erschwerter Faustschluss). Die autonome Dysfunktion kann sich auch in Reizdarm oder Reizblase sowie Gastroparese mit Refluxsymptomatik manifestieren.

  • Neuroendokrine Störungen, die sich beispielsweise als gestörte Anpassung der Körpertemperatur, Temperaturempfindlichkeit, Appetitstörung oder Gewichtsveränderung manifestieren.

  • Weitere typische, aber nicht immer vorhandene Begleiterscheinungen sind Zeichen der Immundysregulation (Grippegefühl, Halsschmerzen, druckschmerzhafte Halslymphknoten) sowie Rötung der Bindehaut und Verstopfung der Nase. Viele Patient*innen leiden zudem unter einer Häufung von Infektionen oder neu aufgetretenen Allergien. Infektionskrankheiten verlaufen oft protrahiert und führen meist zu einer Zunahme aller Beschwerden.

Weitere Symptome, die häufig nur im Rahmen der anstrengungsinduzierten Verschlechterung auftreten, sind emotionale Erschöpfung, Angstzustände, eventuell auch Panikattacken. Als Folge von Unter- oder Fehlversorgung und der schwierigen Lebenssituation können sich depressive Reaktionen und Zukunftsängste einstellen. Häufiger berichtet werden auch – meist intermittierende – akrale Parästhesien, Muskelzucken und „restless legs“.

Der klinische Gesamteindruck ist je nach Schwere unterschiedlich. Während leicht Betroffene an ihren guten Tagen kaum Funktionseinschränkungen aufweisen, sind etwa 25 % der Patient*innen so schwer betroffen, dass sie ans Haus gebunden sind [22]. Moderat Betroffene verlieren bereits 50 % ihrer Leistungsfähigkeit. Sehr schwer Betroffene können nur intermittierend sprechen, teilweise auch ihren grundlegenden kalorischen Erhaltungsbedarf nicht mehr decken und sind von künstlicher Ernährung abhängig. Sie verbringen ihre Tage ohne nennenswerte Bewegung in komplett abgedunkelten und geräuschisolierten Zimmern. Ein Teil dieser schwer betroffenen Patient*innen hat selbst in Deutschland keinen Zugang zu medizinischer Versorgung.

Infobox 2 Häufige Begleiterscheinung: orthostatische Intoleranz

Häufig, womöglich sogar in der Mehrzahl der Fälle, wird die Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) von Kreislaufregulationsstörungen begleitet (orthostatische Intoleranz). Diese zeigen sich vor allem durch Benommenheit, Schwindel und Tachykardie, insbesondere nach Lagewechsel bzw. Aufstehen. Hier können hauptsächlich zwei Formen auftreten, die auch als eigenständige Erkrankungen vorkommen. Sie sind deshalb wichtig, weil sie bei den betroffenen Patient*innen zur Gesamtsymptomatik beitragen und zudem separat bzw. zusätzlich zu ME/CFS behandelt werden können:

  • Die orthostatische Hypotonie (OH) ist gekennzeichnet durch einen plötzlichen Blutdruckabfall nach Aufrichtung in den Stand (systolisch um > 20 mm Hg und/oder diastolisch um > 10 mm Hg).

  • Beim posturalen Tachykardiesyndrom (POTS) kommt es innerhalb von 10 min nach Aufrichtung in den Stand zu einem anhaltenden Pulsanstieg von > 30/min (bei Kindern und Jugendlichen > 40/min) oder aber (definitionsabhängig) zu einer anhaltenden Herzfrequenz von > 120/min.

Die Diagnostik zu OH und POTS mit angelehntem 10 min-Stehtest („NASA lean test“) kann in der niedergelassenen Praxis erfolgen (siehe „Weiterführende Literatur“). Eine genauere Untersuchung ist mittels Kipptisch möglich.

Spontanremissionen oder Heilungen sind selten

Meist entwickelt sich ME/CFS nach einer Infektionskrankheit. Manchmal besteht im Anschluss an diese zunächst eine anhaltende postinfektiöse Fatigue, zu der nach und nach weitere Symptome treten, wie etwa OI, Überempfindlichkeit für Licht oder Geräusche und vor allem die typische PEM (siehe unten). Oft beginnt ME/CFS aber auch zeitversetzt: Die ursächliche Infektionskrankheit scheint schon überwunden, dann setzen plötzlich die für ME/CFS typischen Krankheitszeichen ein – oft nach einer ungewöhnlichen körperlichen (Wettkampf), kognitiven (Schulabschluss) oder seelischen Belastung. In etwa einem Drittel der Fälle erinnern sich die Betroffenen rückblickend nicht an einen Auslöser. Einmal etabliert verläuft die Erkrankung chronisch, mit einem typischen Auf und Ab von Exazerbationen infolge von körperlicher, kognitiver und/oder emotionaler Überanstrengung oder auch Infektionen und Schlafmangel.

Durch einen präventiven Lebensstil mit individuell passender „Pacing“-Strategie (siehe unten) sowie angemessener medizinischer und sozialer Unterstützung kann es langfristig zu einer Stabilisierung der Symptome kommen. Bei etwa 40 % der Betroffenen verbessert sich der klinische Zustand im langjährigen Verlauf. Etwa 60 % der Betroffenen bleiben jedoch aufgrund von erkrankungsbedingter Behinderung arbeitsunfähig [23]. Eine komplette Remission ist bei Erwachsenen selten (im einstelligen Prozentbereich; [24]). Die wenigen Daten zur Lebenserwartung weisen auf eine Einschränkung hin, insbesondere durch kardiovaskuläre Ereignisse, Krebs und Suizid. Letzterer ist besonders in der Betreuung schwer Betroffener eine relevante, in der Praxis jedoch bisher nicht ausreichend berücksichtigte oder ignorierte Realität.

Diagnostik

Bis heute steht kein für die Routinediagnostik von ME/CFS praktikabler Biomarker zur Verfügung. So stützt sich die Diagnostik – ähnlich wie bei der Migräne – auf klinische Kriterien und den Ausschluss anderer mit Fatigue assoziierter Erkrankungen (Tab. 1, Infobox 3). Hierbei kommt dem spezifischsten und quasipathognomonischen Merkmal von ME/CFS, der PEM, eine entscheidende Bedeutung zu [25].

Klinische Kriterien liefern die Verdachtsdiagnose ME/CFS

Als klinischer Kriterienkatalog für erwachsene Patient*innen haben sich in den letzten Jahren die kanadischen Konsensuskriterien (CCC) etabliert (Infobox 4; [26]). Diese stringenten klinischen Kriterien fordern 5 Hauptsymptome, 2 von 3 Nebensymptomen und eine Erkrankungsdauer von mindestens 6 Monaten [27].

Der Schweregrad von ME/CFS kann mit Fragebögen zur allgemeinen Funktionseinschränkung (Bell-Score), zur Lebensqualität (beispielsweise Short Form-36 [SF-36]) und zu einzelnen Symptomen (z. B. Fatigue Severity Scale [FSS], PEM-Fragebogen) erfasst werden (siehe „Weiterführende Literatur“).

Einige mit Fatigue assoziierte Erkrankungen schließen ME/CFS nicht aus, sondern können als Komorbidität auftreten, darunter beispielsweise die Hashimoto-Thyreoiditis, die Fibromyalgie oder ein hypermobiles Ehlers-Danlos-Syndrom, das aus bisher unbekannten Gründen häufig mit ME/CFS assoziiert ist. Abhängig von der Symptomatik ist eine Abklärung durch die betreffende Fachdisziplin angezeigt. Vor allem bei schleichendem Erkrankungsbeginn gilt es, eine Depression oder Somatisierungsstörung auszuschließen. Hierzu können entsprechende Fragebögen eingesetzt werden, diese müssen aber bei Verdacht durch ein fachärztliches Konsil ergänzt werden. Die allermeisten Betroffenen zeigen über lange Zeit eine eindrucksvolle Resilienz und leiden trotz ihrer existenzbedrohenden Erkrankung nicht an Depressionen oder Angststörungen.

Infobox 3 Praxistipps für die Diagnostik von Myalgischer Enzephalomyelitis/chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS)

  • Stets ist die Kernsymptomatik von ME/CFS, das heißt die „post-exertional malaise“ (PEM) zu erfragen. Dadurch kann ME/CFS gegenüber sehr häufigen Erkrankungen mit Fatigue wie Fibromyalgie oder Depression abgegrenzt werden. Die PEM kann beispielsweise mit einem validierten Fragebogen, dem DePaul Symptom Questionnaire, erfasst werden (siehe „Weiterführende Literatur“).

  • Die Fatigue bei ME/CFS muss über mindestens 6 Monate (bei Kindern und Jugendlichen 3 Monate) ohne Besserungstendenz anhalten und grenzt sich so von der transienten postviralen Fatigue ab, die häufig nach akuten Infektionskrankheiten auftritt, etwa nach Pfeiffer-Drüsenfieber, Influenza oder COVID-19.

  • ME/CFS und Depression bzw. „Burn-out“ teilen die Kernsymptomatik von Fatigue und Schlafstörungen. Die Unterscheidung ist zur Vermeidung von Fehldiagnosen imperativ:

    Patient*innen mit Depression bzw. „Burn-out“ sind physisch leistungsfähig, leiden aber unter einer ausgeprägten Motivations- und Antriebsarmut. Patient*innen mit ME/CFS dagegen sind motiviert, aber physisch leistungsbeschränkt. Zudem müssen sich ME/CFS-Patient*innen an ihren „guten Tagen“ aktiv bremsen, um eine Exazerbation nach Anstrengung zu vermeiden.

    Patient*innen mit Depression bzw. „Burn-out“ geht es nach Sport in der Regel besser, der Zustand von Patient*innen mit ME/CFS dagegen wird durch Sport verschlechtert.

  • Dennoch kann sich infolge der belastenden Symptomatik bei ME/CFS (vor allem bei mangelnder medizinischer und/oder psychosozialer Unterstützung) eine behandlungsbedürftige depressive Reaktion entwickeln, die dann lege artis behandelt werden sollte.

Infobox 4 Diagnose nach den kanadischen Konsensuskriterien (CCC; [26])

  1. 1.

    Fatigue

  2. 2.

    Zustandsverschlechterung nach Belastung

  3. 3.

    Schlafstörungen

  4. 4.

    Schmerzen

  5. 5.

    Neurologische/kognitive Dysfunktion

  6. 6.

    Autonome Dysfunktion

  7. 7.

    Neuroendokrine Dysfunktion

  8. 8.

    Immundysregulation

Gefordert werden 5 Haupt- (Nr. 1–5) und 2 Nebenkriterien (Nr. 6–8) über 6 bzw. 3 Monate (Pädiatrie). Für eine detaillierte Beschreibung und Hinweise zur Auswertung siehe Website der Charité (siehe „Weiterführende Literatur“).

Ähnlich wie bei der multiplen Sklerose und vielen Autoimmunerkrankungen kann der Allgemeinzustand über die Schwere der Erkrankung und den Grad der Einschränkungen im Alltag hinwegtäuschen. Bei der körperlichen Untersuchung finden sich eventuell kalte, schwitzige Extremitäten, eine milde Akrozyanose und/oder marmorierte Haut. Das Gesicht ist in den Exazerbationsphasen und bei schwerer Betroffenen oft aufgedunsen. Moderat Betroffene fallen eventuell durch einen langsamen, schlecht koordinierten Gang auf, der nur in engen Grenzen beschleunigt werden kann. Stehen ist oft schwierig oder nicht möglich, sehr schwer Betroffene können sich kaum oder gar nicht im Bett aufsetzen. Die oft ausgeprägte Überempfindlichkeit gegenüber Licht und Geräuschen zeigt sich oft an entsprechenden Hilfsmitteln (Sonnenbrille, Ohrenschützer). Im Gespräch lassen sich manchmal Konzentrations‑, Gedächtnis- und Wortfindungsstörungen, aber auch Artikulationsstörungen (verwaschene Sprache) erkennen.

Die Herzfrequenz ist in der Regel auch in Ruhe erhöht und die atemabhängigen Schwankungen sind vermindert. Oft werden Symptome einer OI berichtet, beispielsweise Benommenheit, Palpitationen, Übelkeit, Zittern und/oder verschwommene Sicht. Diese können auch im Sitzen auftreten (zur diagnostischen Abklärung der OI siehe unten) Die verminderte Muskelkraft kann mit einem Handdynamometer gemessen werden (siehe „Weiterführende Literatur“).

Im Routinelabor lassen sich manchmal milde Auffälligkeiten nachweisen, die jedoch nicht wegweisend sind. Das Laborscreening dient dem Ausschluss anderer Erkrankungsursachen. Ein sinnvolles Basisscreening umfasst C‑reaktives Protein, Blutbild mit Leukozytendifferenzierung, Ferritin, Hämoglobin A1c, Kreatinin, Leberwerte, Bilirubin, Elektrolyte, thyreoideastimulierendes Hormon, Immunglobulin G, Immunglobulin A, Immunglobulin M, antinukleäre Antikörper (ANA), Anti-Thyreoperoxidase-Antikörper und N‑terminales natriuretisches Propeptid vom B‑Typ (NT-proBNP). Die in der Routinediagnostik eingesetzten bildgebenden Verfahren sind in der Regel unauffällig.

Weitere diagnostische Schritte

Die weitere Diagnostik dient zum einen der Therapieplanung, zum anderen aber auch dem Ausschluss wichtiger Differenzialdiagnosen (Tab. 1).

Immunologische und rheumatologische Diagnostik.

Bei ME/CFS-Patient*innen und ihren Familien treten häufiger Autoimmunerkrankungen auf. Eine begleitende Hashimoto-Thyreoiditis findet sich bei 10–20 %. ANA sind bei etwa 20 % erhöht und sollten mittels Screening auf Antikörper gegen extrahierbare nukleäre Antigene (ENA) und auf Anti-DNS-Antikörper abgeklärt werden [16]. In einer Studie zeigten etwa 25 % der ME/CFS-Patient*innen einen Mangel an Gesamtimmunglobulin oder an Immunglobulinsubklassen, bei 15 % bestand ein Mangel des mannosebindendenden Lektins. Jedoch wiesen 25 % auch eine polyklonale Immunglobulinvermehrung auf [28]. Erhöhte Autoantikörper gegen adrenerge, muskarinerge und andere G‑Protein-gekoppelte Rezeptoren (GPCR) lassen sich bei einem Teil der Patient*innen nachweisen, sind aber nicht erkrankungsspezifisch und deshalb für die Routinediagnostik oder Therapie bisher nicht relevant. Bei Sicca-Symptomatik gilt es, ein Sjögren-Syndrom auszuschließen.

Neurologische Diagnostik.

Bei neurologischen Symptomen oder auffälligen neurologischen Untersuchungsbefunden sollte eine erweiterte neurologische Abklärung erfolgen. Auffällige Befunde sind beispielsweise

  • Parästhesien,

  • Sensibilitätsstörungen,

  • Muskelzucken,

  • „restless legs“,

  • kognitive Einschränkungen,

  • sakrales Grübchen oder Haare als Zeichen eines möglichen „tethered cord“,

  • Zeichen einer zervikokranialen Instabilität und

  • mögliche Zeichen einer Lyme-Borreliose.

Bei einem Teil der Patient*innen lässt sich bioptisch eine Small-fiber-Neuropathie nachweisen. Zeigt sich eine Gelenkhypermobilität, sollte mithilfe des Beighton-Scores ein hypermobiles Ehlers-Danlos-Syndrom abgeklärt werden. Bei multilokulären Schmerzen dient die lang anhaltende PEM zur Abgrenzung von der Fibromyalgie.

Abklärung von orthostatischer Intoleranz.

Liegen Symptome einer OI vor, so werden wegen der therapeutischen Relevanz eine orthostatische Hypotonie (OH) und ein posturales Tachykardiesyndrom (POTS) abgeklärt. Hierzu dient beispielsweise der NASA-Anlehntest („NASA lean test“) mit minütlicher Puls- und Blutdruckmessung, zunächst für 5 min im Liegen, dann für 10 min im Stehen und anschließend erneut für 5 min im Liegen (siehe „Weiterführende Literatur“).

Abklärung einer Schlafstörung.

Schlafstörungen sind bei ME/CFS regelhaft vorhanden. Bei sehr ungewöhnlichem Schlafmuster oder Verdacht auf eine obstruktive Schlafapnoe sollte eine Schlaflabordiagnostik erfolgen.

Abklärung von Infektionen.

Grundsätzlich sollte eine gezielte Infektionsanamnese erhoben werden, um einem akuten und chronischen Trigger gegebenenfalls bestmöglich entgegenzuwirken. Ein kleiner Teil der Patient*innen leidet an häufig rezidivierenden Reaktivierungen von HSV‑1, HSV‑2 oder Varizella-Zoster-Virus; eine Polymerase-Kettenreaktions(PCR)-Untersuchung aus Bläscheninhalt kann hier im Zweifelsfall hilfreich sein. Aktuell ergibt sich aus der EBV-Diagnostik nach bekannter länger zurückliegender Primärinfektion keine Behandlungsmaßnahme, weshalb wiederholte Bestimmungen der EBV-Last mittels PCR oder serologischer Untersuchung in der Routineversorgung nicht sinnvoll sind. Bei Patient*innen mit einer auslösenden Meningitis oder Myokarditis ist an Enteroviren als Trigger zu denken. Bei Fieber unklarer Genese ist unter anderem ein Q‑Fieber durch Coxiellen differenzialdiagnostisch zu berücksichtigen.

Symptomorientierte Behandlung

Eine ursächliche, durch Studien auf hohem Evidenzniveau abgesicherte Therapie des ME/CFS ist bisher nicht etabliert, auch mangels angemessener finanzieller Investitionen in die klinische Forschung weltweit. Im Mittelpunkt des Behandlungskonzepts stehen die ausführliche Beratung zum präventiven Selbstmanagement sowie eine symptomorientierte Therapie und verständnisvolle psychosoziale Unterstützung. Die Therapie beruht auf drei Säulen:

Vorausschauendes Energiemanagement.

Vorausschauendes Energiemanagement, auch „pacing“ genannt (zu übersetzen etwa mit „sich selbst das richtige Tempo vorgeben“), beinhaltet, die durch die Erkrankung vorgegebenen Belastungsgrenzen nicht zu überschreiten, ausreichend Ruhepausen und Schlaf einzuplanen sowie körperliche und kognitive Aktivitäten nur so weit zu steigern, dass sie zu keiner PEM führen. Die Berücksichtigung des eigenen Energiekorridors ist essenziell, um eine Abwärtsspirale im Krankheitsverlauf zu vermeiden. Das „pacing“ ist deshalb mit prognosebestimmend (Näheres zum „pacing“ siehe Infobox 5).

Stresskontrolle (Coping) und psychosoziale Unterstützung.

Mögliche exazerbierende Stressfaktoren gilt es zu vermeiden, dabei können Entspannungstechniken helfen, die der meist erheblichen adrenergen Hyperstimulation entgegenwirken, ebenso wie etwa Techniken zur Milderung der sensorischen Überlastung (beispielsweise Gehörschutz, akustische Filter, Sonnenbrille, Bildschirmfilter, Schlafmasken). Untrennbar zur Stressvermeidung gehört die psychosoziale Unterstützung, auch um der bei Exazerbationen oft ausgeprägten seelischen Erschöpfung zu begegnen. Hier spielt die respektvolle Therapeut*innen-Patient*innen-Beziehung eine entscheidende Rolle. Selbsthilfegruppen und -foren (auch auf Facebook oder Twitter) können der sozialen Isolation und erfahrenen Ausgrenzung entgegenwirken. Beratung und Informationen finden Patient*innen bei der Selbsthilfegruppe Fatigatio, der Lost Voices Stiftung und der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS (siehe „Weiterführende Literatur“).

Symptomatische Linderung der begleitenden klinischen Problematik.

  • Behandlung einer OI: Eine begleitende OI wird konsequent behandelt, inklusive Anleitung zum Selbstmanagement mit Vermeiden der Auslöser (beispielsweise großer oder bestimmter Mahlzeiten), vermehrtem Trinken (insbesondere vor dem ersten morgendlichen Aufrichten, 2–3 l/Tag), erhöhter oraler Salzzufuhr (Erwachsene ohne arteriellen Hypertonus bis 10 g/Tag) oder Elektrolytlösungen, Stützstrümpfen/-strumpfhosen oder Leibbinden und distalen Muskelübungen bzw. Einnahme geeigneter Körperpositionen. Wenn nichtpharmakologische Maßnahmen ausgeschöpft sind, kommen „off label“ auch Medikamente infrage, bei POTS beispielsweise Ivabradin (das im Gegensatz zu Betablockern spezifisch auf die Herzfrequenz wirkt), Pyridostigmin sowie das Mineralokortikoid Fludrocortison. Die medikamentöse Therapie ist jedoch oft eine Gratwanderung zwischen Wirkung und Verträglichkeit [29, 30].

  • Schlafstörungen: Melatonin 2–5 mg kann wirksam sein (beispielsweise in retardierter Form); ebenso Antihistaminika der ersten Generation, Tryptophan sowie Antidepressiva (Doxepin, Trimipramin, Mirtazapin) in niedriger Dosis. Auch einige Schmerzmedikamente fördern gleichzeitig den Schlaf (etwa Pregabalin).

  • Schmerzen: Starke Schmerzen werden nach den Prinzipien der multimodalen Schmerztherapie behandelt, ein Versuch mit Pregabalin kann sinnvoll sein. Amitriptylin sollte nicht bei Tachykardie und POTS eingesetzt werden.

  • Infektionskontrolle: Bei häufigen Herpesvirusrezidiven kann geprüft werden, ob eine Suppressionstherapie bessernd wirkt (beispielsweise mit Aciclovir 2‑mal 200 mg oder Valaciclovir 1‑ bis 2‑mal 500 mg über mindestens 8 Wochen). Bei Patient*innen mit nachgewiesenem Immunglobulinmangel und häufigen bakteriellen Infekten kann die Indikation für eine subkutane Immunglobulinsubstitution bestehen. In unkontrollierten Studien bzw. Fallberichten führten länger dauernde antibiotische Therapien mit Azithromycin sowie Minocyclin teilweise zu Besserungen, was auch auf deren immunmodulatorischen Effekt zurückzuführen sein könnte. Die Behandlung von Allergien, die bei der Erkrankung oft zunehmen oder neu auftreten, ist wichtig. Alle Impfungen werden nach Plan durchgeführt, einschließlich der COVID-19-Impfung.

  • Depression: Liegt eine depressive Verstimmung vor, ist eine psychotherapeutische Unterstützung essenziell. Ein Therapieversuch mit Antidepressiva kann gerechtfertigt sein.

  • Zur Kurzzeitbehandlung von schweren Schüben kann Lorazepam eingesetzt werden. Allerdings sind paradoxe Wirkungen dabei ebenso zu beachten wie das hohe Risiko von Abhängigkeit und Entzugserscheinungen schon nach kürzerem Gebrauch.

  • Ernährung und Nahrungsergänzungsmittel: Die Ernährung sollte proteinreich sein und ausreichend ungesättigte Fettsäuren, etwa in Form von Omega-3-Fettsäuren, enthalten. Ein Mangel an Eisen, Folsäure, Vitamin D und/oder Vitamin B12 sollte behandelt werden. Viele Patient*innen nehmen unabhängig von einem dokumentierten Mangel Nahrungsergänzungsmittel zur Unterstützung des Energiestoffwechsels oder der Redox-Balance ein, beispielsweise Ribose, Carnitin, Coenzym Q10, N‑Acetyl-Cystein, Nikotinamidadenindinukleotid (NADH), Magnesium, Selen und/oder Zink. Teils stützt sich dies auf pathophysiologische Plausibilität, teils auf geringgradige Evidenz aus unkontrollierten Studien [31]. Häufig entwickeln sich Nahrungsmittelintoleranzen, bei denen auch eine autonome Regulationsstörung mit Gastroparese eine Rolle spielen könnte. Kohlenhydrate und insbesondere fermentierbare Oligo‑, Di- und Monosaccharide sowie Polyole (FODMAPS), die in vielen Nahrungsmitteln vorkommen und im Dünndarm nur schlecht resorbiert werden, werden oft nicht mehr gut vertragen. Eine mögliche Histaminintoleranz oder Zöliakie ist bei der Ernährung zu beachten. Gegen Reizdarmbeschwerden helfen eventuell Flohsamenschalen. Schwer kranke Patient*innen sind teilweise auf pürierte Kost oder hochkalorische Trinknahrung angewiesen, sehr schwer Erkrankte werden per Jejunalsonde ernährt.

  • Besteht der Verdacht auf ein begleitendes Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS), ist ein medikamentöser Therapieversuch vertretbar; er kann gleichzeitig auch die MCAS-Diagnose erhärten oder widerlegen (beispielsweise kombinierte Behandlung mit einem H1- und einem H2-Antihistaminikum, eventuell ergänzt um einen Mastzellstabilisator wie Cromoglicinsäure oder Ketotifen).

  • Neuere, bisher allerdings rein experimentelle Therapieansätze zielen vor allem auf eine Immunmodulation (Immunadsorption, Immunglobulinsubstitution, B‑Zell-Depletion mittels Rituximab, Cyclophosphamid für schwere Verläufe [32]).

Infobox 5 „Pacing“ – das wichtigste Prinzip für das Selbstmanagement

Durch den schonenden und vorausschauenden Umgang mit den eigenen Energiereserven soll das Auftreten von „post-exertional malaise“ (PEM) mit Exazerbation der Symptomatik so gut es geht vermieden werden, da solche „Crashs“ den Allgemeinzustand und die Lebensqualität der Betroffenen dauerhaft verschlechtern können. Das individuelle „pacing“ kann anhand eines Aktivitäts- und Symptomtagebuchs erlernt werden, eventuell auch mithilfe von Wearables (Messung von Herzfrequenz, Schrittzahl, Herzfrequenzvariabilität, Schlafindikatoren etc.). Leider können schwer Erkrankte Verschlechterungen nach Anstrengung trotz „pacing“ nicht zuverlässig verhindern, weil bei ihnen auch unvermeidbare Tätigkeiten wie Essen, Waschen oder leichte Bewegungen einen „Crash“ auslösen können. Zudem besteht ein alltägliches Dilemma für Erkrankte darin, dass ihr Antrieb – anders als etwa bei „Burn-out“ oder Depression – trotz körperlicher und kognitiver Einschränkungen nicht vermindert ist, entsprechend leicht geschehen Überlastungen. Die wichtigsten Prinzipien des „pacing“ sind auf der Website der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS zusammengefasst (siehe „Weiterführende Literatur“).

Resümee: einen Kompass nutzen

Man könnte als Mediziner*in an der komplexen Multisystemerkrankung ME/CFS verzweifeln: fehlende Routinebiomarker, sehr unterschiedliche Verläufe und Schweregrade, häufige Fluktuationen im Krankheitsverlauf, teils schwerst kranke, in ihrer Kommunikationsfähigkeit eingeschränkte Patient*innen, keine ursächlich wirkende Standardtherapie und praktisch kein Rückhalt in etablierten Versorgungsstrukturen (etwa in Schwerpunktambulanzen oder spezialisierten Kliniken). Da hilft nur ein klarer Kompass, wie er im Fazit für die Praxis dargestellt ist.

Weiterführende Literatur

Informations- und Arbeitsmaterialien sowie Links zum Weiterlesen.

Weitere Informationen zu ME/CFS für Ärzt*innen finden sich:

Patient*innenorganisationen:

Kanadische Konsensuskriterien:

„Pacing“, Patient*inneninformation:

Bell-Score (Bell-Skala):

Short Form-36 (SF-36) für die körperliche Funktionsfähigkeit:

Fatigue Severity Scale:

DePaul Symptom Questionnaire für die „post-exertional malaise“ (PEM):

Handdynamometermessung, Auswertung:

NASA-Anlehntest („NASA lean test“):

Fazit für die Praxis

Kompass für die Versorgung von Patient*innen mit Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS):

Die Diagnose wird durch die kanadischen Konsensuskriterien erheblich erleichtert! Die Diagnose ME/CFS wird beispielsweise nicht vergeben, wenn

  • eine Fatigue seit weniger als 6 Monaten besteht,

  • keine spezifische Belastungsintoleranz („post-exertional malaise“) vorliegt,

  • die Fatigue durch eine andere Erkrankung erklärbar ist,

  • die anderen geforderten Diagnosekriterien nicht erfüllt sind.

Eine spezifische Therapie ist nicht etabliert, und doch sind effektive Maßnahmen möglich:

  • Komorbiditäten sind häufig und können effektiv und nach Leitlinie behandelt werden, so etwa das posturale Tachykardiesyndrom.

  • Viele Symptome von ME/CFS können effektiv gelindert werden, beispielsweise Schlafstörungen und Schmerzen.

  • Die kompetente Beratung zum Energiemanagement („pacing“) kann Verschlimmerungen effektiv verhindern.

  • Die Forschung arbeitet mit Hochdruck an ursächlichen Therapien.

Wenn man erst an das Leiden der Patient*innen denkt, dann ist ME/CFS eine ärztlich „dankbare“ Erkrankung.