figure a

Eva Luise Köhler

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich, mit diesem Beitrag eine neue Rubrik zu eröffnen, in der seltene Erkrankungen ab jetzt einen festen Platz in einer der renommiertesten Fachzeitschriften für Internisten und hausärztlich tätige Kollegen erhalten. Der Spinger Medizin Verlag und die internistischen Fachgesellschaften tragen damit der Tatsache Rechnung, dass seltene Erkrankungen bei vielen Menschen erst im Erwachsenenalter diagnostiziert werden. Somit liegt es durchaus auch in Ihrem Tätigkeitsbereich, sehr verehrte Damen und Herren, für Patienten mit unklaren Diagnosen die Weichen zu stellen und eine oft langjährige und belastende Odyssee zu beenden.

Die Möglichkeit, an dieser Stelle künftig monatlich rund 40.000 Internisten und hausärztlich tätige Kollegen über aktuelle Ergebnisse und Entwicklungen zu informieren, ist in vielerlei Hinsicht dem langjährigen Engagement von Prof. Jürgen Schäfer zu verdanken, der die Rubrik als Mitherausgeber betreuen wird. Darüber hinaus ist sie auch allgemein Ausdruck dessen, dass die besonderen Bedürfnisse von Patienten mit seltenen Erkrankungen endlich stärker in den Fokus von Politik, Forschung und Medien rücken. Ein überfälliger Schritt.

Denn zwar gilt in Deutschland eine Krankheit nur dann als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Personen darunter leiden. Jedoch zeigt sich hochgerechnet auf 80 Mio. Bundesbürger, dass die seltenen Erkrankungen gar nicht so selten sind: Etwa 4 Mio. Patienten, also etwa 5 % der Bevölkerung, sind hierzulande von einer der rund 8000 heute bekannten seltenen Erkrankungen betroffen. Tendenz steigend.

Dennoch sieht ein niedergelassener Hausarzt oder Internist in der Praxis oft nicht mehr als einen Patienten mit einer spezifischen seltenen Erkrankung pro Jahr und manchmal nur ein einziges Mal während seiner gesamten Berufstätigkeit. Dann eine präzise Diagnose zu stellen, ist angesichts der Vielzahl möglicher Diagnosen nicht leicht. Daher bitte ich Sie, sich dieser Herausforderung mit Ehrgeiz und Empathie zu stellen!

Extrem lange Diagnosewege belasten die Betroffenen und ihre Familien

Denn diese Männer, Frauen und Kinder haben trotz ihrer ganz unterschiedlichen Diagnosen mit sehr ähnlichen Problemen zu kämpfen: Extrem lange Diagnosewege und die unzureichende Versorgung mit Therapien, Medikamenten und Informationen belasten die Betroffenen und ihre Familien oft jahrelang. Der Ausdruck „Waisen der Medizin“ lässt erahnen, wie immens die Verzweiflung ist, wenn über viele Jahre kein Spezialist die Ursache für ein Leiden klären kann – und schließlich keinerlei Therapie verfügbar ist.

Die sektorenübergreifende Sicherstellung der Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen stellt daher eine der großen aktuellen Aufgaben unseres Gesundheitssystems dar. Unter Federführung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) wurde daher bereits 2009 das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) gegründet. Der Verbund von neun Universitätskliniken (Berlin, Bonn, Dresden, Essen, Hamburg, Heidelberg, Lübeck, München, Tübingen), Patientenorganisationen und gesetzlichen Krankenkassen erhält nun 13,4 Mio. Euro aus dem Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses. Damit wird derzeit an neun Universitätskliniken ein regionales Netzwerk von Zentren für seltene Erkrankungen etabliert, das sich fünf Zielen verschrieben hat:

  • Patienten mit seltenen Erkrankungen erhalten schnell und zuverlässig eine Diagnose.

  • Durch den Einsatz moderner Kommunikationstechnologien können sich Experten über alle Standorte hinweg in Fallkonferenzen austauschen, was Patienten lange Reisen von Spezialist zu Spezialist erspart.

  • Eine qualitätsgesicherte, multiprofessionelle Versorgung ist an allen Standorten sichergestellt.

  • Insbesondere der Übergang von der Versorgung durch Kinderärzte zur Erwachsenenmedizin wird neu strukturiert. Bestehende Lücken, da es für viele Erkrankungen keine Experten in der Erwachsenenmedizin gibt, werden gezielt geschlossen.

  • Die Kommunikation mit den Primärversorgern wird durch moderne Informationstechnologien verbessert.

Das ist ein Anfang. In den nächsten drei Jahren muss sich zeigen, ob dieses Konzept tragfähig ist. Um die adäquate Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen auch langfristig sicherstellen zu können, bedarf es jedoch weitreichenderer gesundheitspolitischer Entscheidungen und Reformen. Da die Diagnose und Versorgung schwerer und komplexer Fälle vom geltenden DRG-Vergütungssystem nicht ausreichend abgebildet wird, muss hier dringend nachjustiert werden. Für Patienten mit seltenen Erkrankungen kann der ökonomische Imperativ mit erheblichen Risiken verbunden sein, wenn Universitätskliniken sich ihre angemessene Versorgung nicht mehr leisten können. Wenn die pauschale Vergütung den hohen Personalaufwand einer interdisziplinären, systemübergreifenden Medizin nicht abdeckt, fehlt hier ein Vergütungsmodell, das so individuell wie die Patienten ist.

Mein Mann und ich setzen uns seit über zehn Jahren mit unserer Stiftung für Menschen mit seltenen Erkrankungen ein. Und schon deutlich länger verfolgen wir die wissenschaftlichen und gesundheitspolitischen Entwicklungen, die über Wohl und Wehe von Patienten mit seltenen Erkrankungen entscheiden können. Die Erfahrung zeigt, dass – hier wie überall – „gut Ding Weile braucht“. So wecken die immensen Fortschritte der Molekulargenetik Hoffnungen, dass durch die „Präzisionsdiagnostik“ auch Patienten mit bisher unklaren Befunden eine genaue Diagnose erhalten werden. Ob daraus in absehbarer Zeit für alle auch passgenaue, höchst individuelle Therapieoptionen abgeleitet werden können, ist und bleibt allerdings vielfach zweifelhaft.

Patienten mit seltenen Erkrankungen brauchen daher mehr denn je eine umsichtige Begleitung durch die niedergelassenen Fach- und Hausärzte, die gemeinsam mit den jeweiligen Spezialisten eine adäquate, wohnortnahe Versorgung sicherstellen.

Ich hoffe, dass Ihnen die neue Rubrik von Der Internist bei dieser Herausforderung eine Hilfe sein wird, und wünsche viel Freude und Erkenntnisgewinn bei der Lektüre!

Mit herzlichen Grüßen

figure b

Ihre Eva Luise Köhler

Eva Luise und Horst Köhler Stiftung für Menschen mit Seltenen Erkrankungen

Schirmherrin der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) e. V.