Was ist gesichert in der Therapie? Diese Frage lässt sich heutzutage nicht mehr einfach beantworten. Eng verbunden mit dem Siegeszug der evidenzbasierten Medizin, ihren großen randomisierten Studien und den daraus resultierenden Leitlinien kam es auch zu einer kritischen Reflexion über die Begrenztheit dieses Vorgehens. Je kritischer man die großen randomisierten Studien, welche die Grundlage unserer Empfehlungen geworden sind, analysiert, desto deutlicher werden deren Grenzen erkennbar. Treffen die Studienergebnisse im engeren Sinn nicht nur für die untersuchte Patientenpopulation zu? Wie verallgemeinerbar sind die Studienergebnisse aus einer Altersgruppe für meist jüngere Patienten? Wie ist im Vergleich von mehr als 2 Therapiestrategien die Rolle der anderen Medikamente einzuschätzen?

Bei kritischer Betrachtung werden die Grenzen randomisierter Studien erkennbar

Die 4 Schwerpunktbeiträge der Dezemberausgabe von Der Internist decken wichtige Bereiche der Inneren Medizin ab. Die Autoren haben versucht, vor dem Hintergrund einer komplexen Studienlandschaft die derzeitige Diskussion wiederzugeben und für uns Schlussfolgerungen bezüglich der aktuellen Therapie zu ziehen. Die o. g. Fragen sind implizit Teil dieser Diskussion.

Im ersten Beitrag beschäftigt sich Prof.  Schernthaner mit den Therapiestrategien bei Diabetes mellitus Typ 2. Der Typ-2-Diabetes und seine Komplikationen stellen ein großes therapeutisches Problem dar. Weltweit erkranken immer mehr Menschen an dieser metabolischen Störung. Die nachfolgende Gefäß- und Organschädigung ist darüber hinaus für eine Vielzahl von Erkrankungen auf verschiedenen Gebieten der Inneren Medizin von Bedeutung. Herzkrankheiten, Nierenerkrankungen, der Schlaganfall sowie die periphere arterielle Verschlusskrankheit sind die wichtigsten Komplikationen des Diabetes. Umgekehrt besteht bei Patienten mit diesen Erkrankungen in der Regel auch ein Diabetes. Die Zahl der Medikamente, die bei Patienten mit metabolischer Glukosestörung eingesetzt werden können, ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Waren vor 10 Jahren die Rolle der oralen Antidiabetika und die nachfolgende Insulintherapie übersichtlich und klar strukturiert, so liegen nun sowohl neue Medikamente als auch unterschiedliche Studienergebnisse für die bekannten medikamentösen Ansätze vor. Prof. Schernthaner erläutert in seinem Artikel die neuen Entwicklungen und versucht, diese in einen umfassenden therapeutischen Ansatz zu integrieren. Das Ziel ist es, einen vorsichtig kritischen Umgang mit den neuen Medikamenten und v. a. die Entwicklung sinnvoller Kombinationsstrategien aufzuzeigen.

Im Artikel von Prof. Rump und Mitarbeitern werden neue Strategien zur Behandlung einer weiteren Volkskrankheit, des arteriellen Hypertonus, vorgestellt. Ausgehend von pathophysiologischen Überlegungen der renalen Innervierung durch den Sympathikus wurde in den letzten Jahren ein Verfahren entwickelt, mit dem der renale Sympathikus ausgeschaltet und damit der Blutdruck nachhaltig beeinflusst werden kann. Es handelt sich um eine invasive Methode mit all ihren begleitenden Komplikationen. Entsprechend ist offensichtlich, dass eine solche Methode im Vergleich zur medikamentösen Therapie den schweren Hochdruckformen bzw. dem therapieresistenten Hypertonus vorbehalten bleiben sollte. Insbesondere in Deutschland hat sich allerdings gezeigt, dass die Methode von Medizinern gern breit eingesetzt und von Patienten als willkommene neue Therapie betrachtet wird. Dabei besteht die Vorstellung, dass eine solche invasive Behandlung die medikamentöse Therapie des Hypertonus überflüssig machen wird. Patienten – und Ärzte – versprechen sich nach all den mühseligen Erfahrungen mit der medikamentösen antihypertensiven Therapie eine neue „Wunderwaffe“. Prof. Rump und seine Koautoren erläutern das Vorgehen bei der renalen Ablation des Sympathikus und nehmen kritisch Stellung zu deren Einsatz. In der Übersichtsarbeit werden neuere Studien vorgestellt und die renale Sympathikusablation in den Kontext der medikamentösen Strategie gestellt. Nicht zuletzt werden weitere neue Möglichkeiten des Einsatzes dieser interessanten neuen Methode erläutert.

Den neuen Koagulationshemmern steht eine große Zukunft bevor

Über Jahrzehnte hinweg war die einzige Therapiestrategie bei vermehrter Thromboseneigung der Einsatz von Vitamin-K-Antagonisten. Patienten wurden (und werden) „marcumarisiert“. Seit Kurzem sind nun neue Koagulationshemmer, die sog. Thrombininhibitoren und Faktor-10-Antagonisten, im Einsatz. Diese Medikamentengruppe wurde von verschiedenen Firmen in den letzten Jahren entwickelt und in großen Studien bezüglich ihrer Wirksamkeit gegenüber Phenprocoumon getestet. Der große Vorteil dieser neuen therapeutischen Strategie liegt im Monitoring der Patienten. Anders als bei Phenprocoumonpatienten muss nicht regelmäßig der Quick-Wert erhoben werden. Dass dieser neuen Medikamentengruppe eine große Zukunft bevorsteht, ist offensichtlich. Allerdings ist beim Einsatz im Vergleich zu den etablierten Strategien immer noch Vorsicht geboten. Prof. Bauersachs beschäftigt sich in seinem Artikel mit den Möglichkeiten und den Risiken der neuen Koagulationshemmer und versucht zu erläutern, für welche Patienten diese Therapiestrategien in Frage kommen.

Der letzte Artikel beschäftigt sich mit den Analysen der EHEC/HUS-Epidemie des letzten Jahres in Deutschland – der größten EHEC/HUS-Epidemie bei Erwachsenen weltweit. Wie Sie sich erinnern, wurden in Norddeutschland notfallmäßig Patienten mit Plasmapherese und Dialyse behandelt. Insbesondere die neurologischen Komplikationen der Patienten waren erschreckend. Kürzlich wurden nun Analysen der Therapiestrategien publiziert. Dr. Menne, Prof. Stahl und weitere Mitarbeiter, die an der Bekämpfung der Epidemie und Analyse der Daten beteiligt waren, bieten Ihnen einen Überblick über die heutige Situation. Interessanterweise hat sich durch die Epidemie in Deutschland der bislang etablierte Einsatz der Plasmapherese relativiert. Ohne sich auf randomisierte Studien stützen zu können, versuchen die Autoren, vernünftige Schlussfolgerungen aus der Epidemie zu ziehen und Empfehlungen für das Vorgehen beim Auftreten von EHEC/HUS zu formulieren.

Mit diesem Artikel schließt sich der Bogen der Dezemberausgabe. Es wird deutlich: Auch wenn die Kriterien der evidenzbasierten Medizin nur teilweise erfüllt sind, d. h., wenn keine randomisierten Studien vorliegen, müssen wir Schlussfolgerungen ziehen und Entscheidungen treffen. Ich hoffe, dass Ihnen die vorliegende Ausgabe dabei hilft.

Mit den besten Wünschen für ein frohes Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr

Ihr

H. Haller