Falldarstellung

Anamnese

Bei einem 57-jährigen männlichen Patienten, welcher bis auf einen arteriellen Hypertonus gesund war, erfolgte drei Jahre vor der Konsultation in unserer Klinik eine Gamma-Knife-Therapie (13 Gy, Volumen 0,13 cm3, 65 % therapeutische Isodose, die Cochlea lag vollständig außerhalb der 6‑Gy-Isodose) eines intrameatalen Vestibularisschwannoms (Abb. 1). Vor der Gamma-Knife-Therapie beklagte der Patient einen progredienten Tinnitus sowie subjektiven Hörverlust über einen Zeitraum von knapp einem Jahr. Magnetresonanztomographie(MRT)-Verlaufskontrollen zeigten zunächst einen stabilen Befund. Nun berichtete der Patient von einem zunehmenden Tinnitus, einer Schwankschwindelsymptomatik, einer stetig zunehmenden Hörminderung, schmerzhaften Verkrampfungen der Gesichtsmuskulatur und einer Taubheit der linken Gesichtshälfte.

Abb. 1
figure 1

cMRT im Jahr 2012; a T1 axial mit Kontrastmittel; Raumforderung im inneren Gehörgang, Indikation zur Gamma-Knife-Behandlung; b und c T2 axial, Ausgangsbefund des N. facialis (F) und des N. vestibulocochlearis (V)

Klinischer Befund

Es bestand ein Hemispasmus facialis, eine Hypästhesie im Versorgungsgebiet des N. trigeminus (V2 und V3) und ein pathologischer Unterberger-Tretversuch sowie ein positiver Romberg-Test. Audiologisch zeigte sich eine hochgradige Einschränkung des Hörvermögens. Dieses hatte sich im Laufe der letzten 3 Jahre allmählich verschlechtert (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Audiometrische Daten zwischen 2012 und 2015; Nachweis der postradiogenen Hörverschlechterung links

Diagnose

Kranielle Bildgebung

In der cMRT-Bildgebung zeigte sich im Vergleich zu den Voraufnahmen ein Progress des kontrastmittelaufnehmenden Tumoranteils im linken Kleinhirnbrückenwinkel. Ein Verlust der intrakapsulären Kontrastmittelaufnahme, wie es oft nach einer Radiotherapie beschrieben wird, kam nicht zur Darstellung (Abb. 3a) [10]. Zusätzlich zeigte sich eine massive Auftreibung des N. vestibulocochlearis und des N. facialis (Abb. 3b).

Abb. 3
figure 3

cMRT im Jahr 2015. a T1 axial mit Kontrastmittel; Progress der kontrastmittelaufnehmenden Raumforderung im Kleinhirnbrückenwinkel links, Indikation zur Operation; b und c T2 axial; Auftreibung des N. facialis (F) sowie des N. vestibulocochlearis (V)

Therapie und Verlauf

Aufgrund des klinischen und radiologischen Progresses wurde die Indikation zur mikrochirurgischen Tumorentfernung mit neurophysiologischem Monitoring gestellt. Perioperativ erfolgte die i.v.-Gabe des Kalziumantagonisten Nimodipin. Während der Operation über einen retrosigmoidalen Zugang imponierte der N. vestibulocochlearis proximal des eigentlichen Tumors als massiv aufgetrieben (Abb. 4a). Als Tumorursprung konnte der N. vestibularis inferior identifiziert werden. Intraoperativ kam es zu einer Verschlechterung der akustisch evozierten Potenziale (AEP). Bei bereits hochgradiger Einschränkung des Hörvermögens präoperativ entschloss man sich, den N. vestibulocochlearis zugunsten einer kompletten Tumorentfernung zu resezieren (Abb. 4b). Intraoperativ wurde ebenfalls eine kontinuierliche Elektromyographie (EMG) der vom N. facialis innervierten Muskulatur abgeleitet. Hier kam gehäuft zu A‑Train-Aktivität, auch ohne Manipulation des Nervs. Als Korrelat zu dieser Spontanaktivität im EMG zeigte sich der N. facialis intraoperativ an der Root-Exit-Zone ebenfalls massiv aufgetrieben (Abb. 4c). Ein Gefäß-Nerven-Konflikt als potenzielle Ursache des Hemispasmus facialis konnte nicht identifiziert werden.

Abb. 4
figure 4

Intraoperative Befunde. a N. vestibulocochlearis mit massiver Auftreibung (V); b Bild nach Resektion des N. vestibulocochlearis; c N. facialis (F) mit massiver Auftreibung an der Root-Exit-Zone

Histologisch wurde ein Vestibularisschwannom WHO I mit älteren Blutungen beschrieben. In der histologischen Aufarbeitung des N. vestibulocochlearis fanden sich Zeichen der Demyelinisierung, ödematöse und degenerative Veränderungen mit reduzierter Nervenfaserdichte und Makrophageninfiltraten (Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

Histologische Aufarbeitung: N. vestibulocochlearis. a HE: peripheres Nervengewebe mit degenerativen Veränderungen und Zeichen der Demyelinisierung (1), Schwannom (2); b HE: peripheres Nervengewebe mit Ödem und Degeneration; c CD68: Infiltration von Makrophagen im degenerierten peripheren Nervengewebe; d HE: peripheres Nervengewebe des N. vestibulocochlearis eines Gesunden im Vergleich

Abb. 6
figure 6

cMRT im Jahr 2021. a T1 axial mit Kontrastmittel; kein Anhalt für Rest- oder Rezidivbefund; b T2 axial, Normalisierung des N. facialis

Postoperativ kam es zunächst zu einer ausgeprägten fazialen Parese (House & Brackmann Grad IV), welche sich im Verlauf sehr gut erholte (House & Brackmann Grad I). Die Hypästhesien V2 und V3 sowie der Hemispasmus facialis zeigten sich komplett regredient. Subjektiv habe sich ebenfalls sich Schwindelsymptomatik gebessert. MRT-Verlaufskontrollen über bislang 63 Monate bestätigen eine vollständige Tumorresektion (Abb. 6).

Diskussion

Bei intrameatalen Vestibularisschwannomen stellen radiochirurgische Therapien wie Gamma-Knife oder CyberKnife etablierte Modalitäten dar, welche in den meisten Fällen eine Tumorkontrolle ermöglichen, gute Chancen eines Hörerhalts haben und nur selten mit Komplikationen verbunden sind [1, 3]. Eine operative Versorgung nach radiochirurgischer Vorbehandlung ist nur in wenigen Fällen nötig [9].

Dieser Fall zeigt, als bisher einziger, eine direkte Korrelation zwischen der postradiogenen Hörverschlechterung und dem histologischen Nachweis einer Demyelinisierung mit chronisch degenerativen Veränderungen des N. vestibulocochlearis. Bereits präoperativ war in der MRT-Bildgebung auffällig, dass sowohl der N. vestibulocochlearis als auch der N. facialis an Volumen zugenommen haben.

Nach radiochirurgischen Eingriffe sind Komplikationen wie Hypästhesie des N. trigeminus, Hemispasmus facialis oder Hörminderung bereits regelmäßig beschrieben [2, 5]. Dass diese Effekte auf eine Demyelinisierung durch die vorherige Therapie zurückzuführen sind, konnte bisher jedoch nicht gezeigt werden. Dass Demyelinisierung infolge einer Strahlentherapie auftreten kann und dieser Effekt dosisabhängig ist, konnte bei Tierversuchen gezeigt werden [11].

Bildgebend kam es bei dem gezeigten Fall nach der Gamma-Knife-Therapie zu einem Progress des kontrastmittelaufnehmenden Tumors im Kleinhirnbrückenwinkel. Differenzialdiagnostisch muss neben einem reinen Tumorprogress auch eine maligne Transformation in Betracht gezogen werden, welche in Einzelfällen nach vorheriger Bestrahlung beobachtet werden konnte [7]. Hinweise für Malignität ergaben sich bei unserem Fall nicht.

Neben dem Hörerhalt ist das Vorhandensein und die Ausprägung einer fazialen Parese ein wichtiger postoperativer Aspekt. Typischerweise ist hier das Outcome nach vorheriger Bestrahlung als schlecht einzustufen [4], allerdings konnten wir im vorliegenden Fall postoperativ eine sehr gute Erholung der Parese beobachten. Dies wird möglicherweise durch die perioperative Gabe von Nimodipin begünstigt. Es gibt Hinweise, dass Nimodipin neuroprotektive Eigenschaften besitzt und einen positiven Einfluss auf die Myelinisierung zu haben scheint [6, 8].

Dieser Fall zeigt erstmals ein morphologisches Korrelat für unerwünschte Effekte nach radiochirurgischer Therapie eines Vestibularisschwannoms und weist darauf hin, dass trotz einer gewissen räumlichen Distanz zum eigentlichen Tumor mit degenerativen Veränderungen nervaler Strukturen zu rechnen sein kann.

Generell empfehlen wir eine Behandlung von Vestibularisschwannomen im Fall eines nachgewiesenen Wachstums, es sei denn die Tumoren sind bei Diagnosestellung bereits als Koos 3 oder 4 klassifiziert. In solchen Fällen besteht eine Indikation zur Operation. Bei Tumoren bis Koos 2 ist alternativ eine strahlentherapeutische Behandlung möglich, bei Patienten unter 50 Jahren favorisieren wir auch in diesen Fällen eher den operativen Eingriff, wobei in jedem Fall ein Behandlungskonzept interdisziplinär (HNO, Neurochirurgie und Strahlentherapie) und individuell erstellt werden sollte.

Fazit für die Praxis

  • Radiochirurgische Therapien wie Gamma-Knife oder CyberKnife sind etablierte Modalitäten, welche in den meisten Fällen eine Tumorkontrolle und gute Chancen auf der Hörerhalt erlauben.

  • Trotz sorgfältiger Therapieplanung müssen bei der Beratung der Patienten auch seltene Komplikationen berücksichtigt werden.

  • Radiochirurgische Eingriffe können zu chronisch degenerativen Veränderungen und einer Demyelinisierung angrenzender neuraler Strukturen führen.