Für onkologisch interessierte Ärzte und Forscher stellt die Jahrestagung der American Society of Clinical Oncology (ASCO) den größten und einflussreichsten Kongress dar. Das ASCO-Meeting 2011 fand vom 03.–07. Juni in Chicago/IL in den USA statt. Jedes Jahr werden beim ASCO-Kongress aktuelle klinische und präklinische Studienergebnisse aus allen onkologischen Subdisziplinen präsentiert und kontrovers diskutiert.

Das Kongressmotto von 2011 war kurz und prägnant formuliert: „Patients, Pathways, Progress“ – ins Deutsche übersetzt also „Patienten, Pfade, Fortschritt“. Der ASCO-Präsident 2010–2011, George W. Sledge Jr., MD, hat diesen Leitspruch mit Bedacht ausgewählt.

Der Patient kommt an erster Stelle – so sollte es auch in der onkologischen Behandlung stets sein. Mit „pathways“ (Pfade) sind schließlich zweierlei Dinge gemeint: Einerseits molekulare Signalwege von Krebszellen, andererseits die eher symbolische Bedeutung der Pfade, an denen sich die Patientenbehandlung und der Krankheitsverlauf orientieren. Das Verständnis und die weitere Enthüllung der molekularen Signalwege auf der einen Seite und die Integration dieser Ergebnisse in die klinischen Leitlinien auf der anderen, sind die Voraussetzung für Fortschritt („progress“) und Erfolg der onkologischen Therapie.

Die letzten Jahrzehnte der Krebsforschung haben uns gezeigt, was für eine heterogene Erkrankung „Krebs“ ist. Nicht nur zwischen den verschiedenen Organtumoren oder pathohistologischen Subtypen, sondern auch innerhalb jeder einzelnen Tumorentität gibt es enorme Unterschiede, was molekulare Eigenschaften, Ansprechen, Prognose und eine Vielzahl anderer Charakteristika betrifft. Diese molekularbiologischen Unterschiede zu erkennen, zu beschreiben, zu differenzieren und daraus Implikationen für die Behandlung abzuleiten, wird für die nächsten Jahre die Hauptaufgabe onkologischer Forschung bleiben.

Das übergeordnete Ziel dieser Anstrengungen ist eine Individualisierung der onkologischen Therapie. Durch eine individualisierte Therapie soll einerseits das Therapieansprechen und damit die Prognose der Patienten optimiert werden, anderseits die Rate und das Ausmaß der unerwünschten Wirkungen von Chemotherapie, Bestrahlung und Operationen minimiert werden, also die Lebensqualität der Patienten verbessert werden. Soviel zur Theorie. Der Weg dorthin ist steinig, holprig und kurvenreich. Denn einer Individualisierung von Therapien steht die notwendige Verwendung von Standards in klinischen Studien als Kontrolle einer experimentellen Therapie gegenüber.

Das übergeordnete Ziel ist eine Individualisierung der onkologischen Therapie

Diese auf den ersten Blick gegensätzlichen Ansprüche an klinische und translationale Forschung führen zu enormen Schwierigkeiten in der Planung onkologischer Studien und im klinischen Alltag. Es werden ständig neue, immer spezifischere Substanzen entwickelt, die molekulare Mechanismen zur Krebsbehandlung ausnutzen. Diese Substanzen können also ein Schlüssel zur Individualisierung einer gezielten Krebstherapie sein. Gleichzeitig führen diese Fortschritte in der Entwicklung molekular gezielter Substanzen jedoch zur Initiierung immer neuer „früher“ klinischer Studien (Phase I und II) mit geringem Zusammenhang zu bereits erprobten Therapien und nur geringen Patientenzahlen. Aus solchen Studien können allerdings kaum Implikationen für die alltägliche Praxis gewonnen werden, denn zur Veränderung von Behandlungsleitlinien sind Ergebnisse von Studien an großen Patientenkollektiven notwendig, die experimentelle Therapien mit dem „Goldstandard“ vergleichen. Dementsprechend wird es schwieriger, sich im Bereich onkologischer Therapien fortzubilden und auf dem neuesten Stand zu sein.

Um Ihnen einen Überblick über die bedeutsamsten Neuerungen in der Behandlung von Kopf-Hals-Tumoren aus aktuellen klinischen Studien zu ermöglichen, haben wir in diesem Themenheft die wichtigsten und interessantesten Kongressbeiträge des ASCO-Meetings 2011 für Sie zusammengestellt und aufgearbeitet. In den folgenden Artikeln werden drei wichtige Bereiche aktualisiert und dargestellt.

Als Erstes geht es um die primäre Radiochemotherapie. Der Bereich der primären Radiochemotherapie ist eine feste Säule der Behandlung von Plattenepithelkarzinomen im Kopf-Hals-Bereich (HNSCC). In diesem Bereich gibt es jedes Jahr neue Entwicklungen, und gerade 2011 wurden Ergebnisse von einigen wichtigen und lang erwarteten klinischen Studien präsentiert. In diesem Bereich nehmen neue Substanzen eine große Rolle in der Forschung ein. Wir möchten Sie darüber informieren, was der aktuelle Stand ist.

Der zweite Artikel handelt von HPV-positiven HNSCC. Mit der Entdeckung HPV-assoziierter Plattenepithelkarzinome im Kopf-Hals-Bereich, die sich durch eine besondere Molekularbiologie auszeichnen, wurde ein enormer Schritt zur Individualisierung der Krebstherapie gemacht. Denn kein anderer molekularer Marker bei HNSCC hat solch einen starken Einfluss auf die Prognose von Patienten. Von spezifischen Behandlungsleitlinien für HPV-positive HNSCC sind wir zwar noch weit entfernt, es gibt aber ständig neue Informationen über Kanzerogenese und molekularbiologische Eigenschaften HPV-positiver Tumoren. Zu diesem relevanten und interessanten Forschungsbereich wurden zahlreiche Beiträge präsentiert, von denen wir Ihnen die wissenswertesten darstellen möchten.

Der dritte Artikel behandelt neue Behandlungsansätze bei malignen Schilddrüsenerkrankungen. Differenzierte Schilddrüsenkarzinome zeichnen sich zwar durch eine außergewöhnlich gute Prognose im Vergleich zu vielen anderen malignen Erkrankungen aus. Aggressive Schilddrüsentumoren mit fortgeschrittener Metastasierung, gering differenzierte oder anaplastische Karzinome und medulläre Schilddrüsenkarzinome jedoch stellen weiterhin sehr schwierig zu behandelnde Erkrankungen mit unbefriedigenden Behandlungsergebnissen dar. Auch hier wird daher intensiv an neuen und gezielten Behandlungsoptionen gearbeitet, die wir Ihnen in unserem Artikel darstellen und erläutern möchten.

Da die HNO-Heilkunde – glücklicherweise – eine solch vielfältige Fachrichtung ist, ist es nicht immer einfach, in allen Bereichen auf dem neuesten Stand zu sein. Wir hoffen, Ihnen mit diesem Themenheft den Überblick in der sich rasch entwickelnden onkologischen Studienlandschaft zu erleichtern.

Ihr

R. Knecht