Trotz aller Fortschritte und Erfolge in der medikamentösen Therapie solider Tumoren bleibt Chirurgie eine feste Säule in der onkologischen Behandlung dieser Erkrankungen. Aufgrund der Oligosymptomatik wird allerdings die Mehrzahl der Tumoren erst im fortgeschrittenen Tumorstadium diagnostiziert, sodass trotz eines primär kurativen Behandlungsansatzes mit neoadjuvanten Therapiekonzepten und onkologisch adäquater radikaler Chirurgie nicht bei allen Patienten eine Heilung erzielbar ist. Die Chirurgie ist in diesen Fällen quasi „zu spät“ zum Einsatz gekommen.

Ganz anders sind die Bedeutung und Rolle der operativen Therapie bei vererbten Tumorprädispositionssyndromen. Die Möglichkeit zur frühzeitigen Diagnose eines Tumorleidens, im günstigsten Fall noch bevor eine maligne Transformation stattgefunden hat, eröffnet die Möglichkeit, eine präventive und somit potenziell auch kurative Therapie durchzuführen.

Die prophylaktische Chirurgie gewinnt zunehmend an Bedeutung

Mit dem vermehrten Wissen um hereditäre molekularbiologische Tumordispositionen gewinnt die prophylaktische Chirurgie zunehmend an Bedeutung. Prophylaktische Operationen verfolgen somit in dieser klinischen Situation das Ziel, die mit hoher Wahrscheinlichkeit entstehenden malignen Tumoren im Rahmen von vererbten Tumorprädispositionssyndromen zu verhindern. Die Entscheidung für oder gegen eine prophylaktische Operation sollte immer individuell getroffen werden, basierend auf dem individuellen Risiko und der persönlichen Situation des Patienten, aber auch auf Grundlage der heutzutage bestehenden Evidenz.

Beim Stellen einer prophylaktischen Operationsindikation müssen die Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen malignen Entartung bei Vorliegen eines hereditären Tumorprädispositionssyndroms, das notwendige Ausmaß und die Radikalität des operativen Eingriffs und die daraus möglicherweise resultierenden funktionellen Einschränkungen für den Patienten Berücksichtigung finden. Eine prädiktive Diagnostik setzt immer ein interdisziplinäres Beratungskonzept einschließlich einer angemessenen Darstellung der genetischen Grundlagen der Erkrankung voraus. Eine detaillierte Diagnostik in Bezug auf klinisches Erscheinungsbild, Familienanamnese und Molekulargenetik ist für die Festlegung der Therapiestrategien essenziell und ermöglicht die Identifikation von familiären Risikopersonen.

Das vorliegende Schwerpunktheft der Zeitschrift Die Chirurgie beschäftigt sich mit der Thematik prophylaktischer chirurgischer Eingriffe am Beispiel von 4 unterschiedlichen Krankheitsentitäten. Das Ziel des vorliegenden Schwerpunkthefts ist, dem Leser einen aktuellen Überblick zu dem Thema prophylaktische Operationen bei hereditären Tumorprädispositionssyndromen zu geben.

Fendrich et al. aus Hamburg beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit dem hereditären medullären Schilddrüsenkarzinom, das bei MEN-2A und MEN-2B bereits in den ersten Lebensjahren auftreten kann, mit der Bedeutung der risikostratifizierten prophylaktischen Thyreoidektomie für die Prognose der Genträger.

Aus der Kölner Arbeitsgruppe von Schmidt et al. stammt der Beitrag zum hereditären diffusen Magenkarzinom. Mutationen im CDH1- oder CTNNA1-Gen werden als ursächlich für das Auftreten des hereditären diffusen Magenkarzinoms angesehen. Die Betroffenen zeigen eine Magenkarzinominzidenz von ungefähr 40 % bis zum 80. Lebensjahr. In dem Beitrag wird speziell darauf eingegangen, in welchen Fällen eine prophylaktische Gastrektomie und in welchen Fällen eine Überwachungsstrategie zu favorisieren sind.

In dem Beitrag aus Dresden thematisieren Seifert et al. die Problematik des familiären Pankreaskarzinomsyndroms, das für etwa 75 % aller hereditären Pankreaskarzinome ursächlich und durch ein aggressives Wachstumsverhalten und eine schlechte Prognose gekennzeichnet ist. Das Pankreas stellt bei prophylaktischen Eingriffen eine Besonderheit dar, da Pankreasoperationen chirurgisch anspruchsvoll und mit vergleichsweise hoher Morbidität und teilweise auch Mortalität belastet sind. Zudem sind die Auswirkungen von Pankreasresektionen, insbesondere der totalen Pankreatektomie mit exokriner Pankreasinsuffizienz und Diabetes, für den Patienten erheblich.

Schließlich beschäftigt sich der Beitrag von Kelm et al. aus der Würzburger Arbeitsgruppe mit den operativen Strategien bei hereditären kolorektalen Karzinomen. Da das hereditäre kolorektale Karzinom üblicherweise einen aggressiveren Phänotyp aufweist und sich durch ein deutlich schlechteres onkologisches Outcome als das sporadische kolorektale Karzinom auszeichnet, kommt der frühzeitigen Diagnose und präventiven operativen Therapie eine wichtige Rolle zu, und es erfordert eine spezifische Indikationsstellung sowie sehr enge interdisziplinäre Zusammenarbeit.

Wir hoffen mit diesem Themenheft der Zeitschrift Die Chirurgie allen onkologisch tätigen Viszeralchirurgen einen aktuellen Überblick zum Thema prophylaktische Operationen bei hereditären Tumorprädispositionssyndromen gegeben zu haben, der bei der Therapieentscheidung in der täglichen Zusammenarbeit mit den Behandlungspartnern hilfreich ist.

C.-T. Germer

S. Flemming