Seit es die Chirurgie gibt, steht die Indikationsstellung zur Operation im Zentrum unseres ärztlichen Bemühens, dem Patienten in der hippokratischen Tradition gerecht zu werden und das heißt bedingungslos den folgenden Vorgaben zu folgen: „salus aegroti suprema lex“ und „primum non nocere“. Die moderne Medizin bietet mittlerweile in allen Lebensphasen, von der intrauterinen Entwicklung des Fötus über die Geburt des Säuglings, die frühkindliche und jugendliche Phase bis in die Zeit des Erwachsenseins und des hohen Alters, vielfältige Möglichkeiten, Erkrankungen zu erkennen und auch operativ zu behandeln. Aber nicht alles, was technisch möglich ist, muss notwendigerweise auch sinnvoll sein.

Blickt man zurück auf die Veränderungen, die in der Indikationsstellung und operativen Therapie während der eigenen chirurgischen Laufbahn stattgefunden haben, wird einem die fast unglaubliche Dimension des Erkenntnisgewinns und des medizinischen Fortschritts in knapp einer Medizinergeneration in allen chirurgischen Disziplinen bewusst. Was früher an pathologischen Veränderungen nicht erkennbar war, wird heute durch die bildgebende Diagnostik mit Ultraschall, Computertomographie, Magnetresonanztomographie und Positronenemissionstomographie mit überzeugender Auflösung sichtbar. Und gerade diesbezüglich sind wir, das haben die rasanten Entwicklungen der letzten Jahre gezeigt, noch längst nicht am Ende angelangt. So wie wir heute staunen, wie unsere chirurgischen Vorgängergenerationen allein anhand des klinischen Patientenzustands und weniger Laborwerte richtige Indikationen zur Operationen gestellt haben, werden zukünftige Generationen den Kopf darüber schütteln, unter welchen Bedingungen wir es heute immer wieder wagen, einen Patienten einer Operation zu unterziehen. Die Digitalisierung und alles, was diesbezüglich im Zusammenhang mit Informationsgewinnung und -verarbeitung derzeit stattfindet, können uns nur eine leise Ahnung davon vermitteln, was in 20, 30 oder gar 100 Jahren möglich sein wird.

Operativer Eingriff und die zu erzielende Lebensqualität sind abzuwägen

Aber eines wird, so jedenfalls muss unsere Hoffnung sein, immer gleich bleiben: die Verantwortung des Chirurgen, in Würdigung der individuellen Situation des Patienten auf der Grundlage seines Wissens und Könnens eine Entscheidung zu treffen, ob eine Operation, und wenn ja welche, angezeigt ist. Dabei geht es natürlich ganz unabhängig davon, ob es sich um eine maligne oder benigne Grunderkrankung handelt, in erster Linie um Heilung. Gleich große Bedeutung muss aber auch die Frage erlangen, welcher operative Eingriff welche Lebensqualität erzielt. Der umfassend informierte Patient und sein familiäres Umfeld müssen die Gelegenheit erhalten, gemeinsam mit dem Chirurgen einen Entscheidungsprozess in Gang zu setzen, der den betroffenen Patienten schließlich voller Zuversicht in die Operation gehen lässt. Alle Beteiligten werden dabei immer wieder in Grenzbereiche geführt, und es erfordert vom Chirurgen ein hohes Maß an Wissen, technischem Können, aber auch kritischer Selbsteinschätzung und schließlich Fürsorge für den Kranken, unter hohem Druck während der Operation die der individuellen Patientensituation angemessenen Entscheidungen zu treffen. Jeder weiß, egal in welchem Teilgebiet der Chirurgie er tätig ist, was damit gemeint ist: radikale Tumorresektion ja oder nein, Amputation einer Extremität ja oder nein, Rekonstruktion oder Destruktion unter Inkaufnahme mutilierender Effekte und vieles mehr.

Althergebrachtes muss auch immer hinterfragt werden

Dieses Heft mit dem Leitthema „Grenzsituationen in der Chirurgie“ versucht, schlaglichtartig aus dem Blickwinkel einzelner Disziplinen operative Felder zu beleuchten, die den Chirurgen im Sinne des „primum non nocere“ in Grenzbereiche der Entscheidungsfindung führen. Wo der Chirurg sich in Indikation und Technik fragen muss, wie weit kann ich gehen, wo überschreite ich gegebenenfalls für mich selbst und den Patienten unzumutbare Grenzen? Gleichzeitig sollen diese Beiträge auch einmal mehr aufzeigen, dass wir über die Jahre einen mutigen und weiten Weg gegangen sind, um in welcher Situation auch immer die Versorgung schwer kranker Menschen zu verbessern. In Wahrnehmung unserer Verantwortung sehe ich uns Chirurgen aber täglich aufgefordert, uns couragiert in Grenzbereiche vorzuwagen, Althergebrachtes („… das haben wir schon immer so gemacht …!“) auch immer wieder zu hinterfragen und aktiv wissenschaftlichen Fortschritt in der operativen Medizin zu gestalten.

Ich danke allen Autoren, die sich mit hochwertigen Beiträgen an der Gestaltung dieses Heftes beteiligt haben. Ich hoffe, dass der interessierte Leser den Eindruck gewinnt, dass, in welcher Situation auch immer man sich befindet, vorzeitiges Aufgeben und Nichtausschöpfen aller diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten keine Wahl ist!

Der 136. Deutsche Chirurgenkongress, zu dem dieses Heft erscheinen wird, steht unter dem Motto: „Volle Kraft voraus – mit Herz, Hand und Verstand“. Dieses Motto muss gerade in Grenzsituationen in der Chirurgie, denen wir uns mehr und mehr ausgesetzt sehen, unseren Geist beflügeln, unseren Willen stärken und unser Handeln bestimmen!

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Prof. Dr. Matthias Anthuber