An der Frage des protektiven Stomas bei tiefer anteriorer Rektumresektion (TAR) scheiden sich bis heute die Geister. Weder die Frage Ob noch die Fragen Wie oder Wie lange sind mit gesicherter Evidenz eindeutig geklärt. Dies dokumentiert sich in den anhaltenden kontroversen Diskussionen auf nahezu allen Kongressen zum Thema TAR, den divergenten Empfehlungen verschiedener aktueller Operationslehren und nicht zuletzt der Bereitschaft zweier hochrangiger Universitätschirurgen ihre Pro- bzw. Kontraargumente an dieser Stelle unserer Leserschaft darzulegen, d. h. sie und sich der Diskussion zu stellen. In welch anderem derart zentralen Bereich der Chirurgie wäre heute ein so konträrer Standpunkt noch denkbar, wie er offensichtlich über 6 Jahrzehnte nach der Erstbeschreibung der TAR durch C.F. Dixon 1948 noch besteht. Noch komplexer wird die Problematik durch die Tatsache der Komplikationsträchtigkeit des Stomas mit Retraktion, Prolaps oder Blutung und dem Verzicht auf Rückverlegung bei bis zu 60% der älteren Patienten. D. h. was protektiv gedacht war, wird zur ungewollten eigenen Krankheit oder Dauerbelastung.

Und dennoch favorisieren viele und durchaus nicht nur ängstliche Chirurgen das protektive Stoma im Rahmen einer TAR. Es geht ihnen um die Sicherheit des Patienten, der trotz aller chirurgischen Kunst in 15% eine Nahtinsuffizienz erleiden wird, die klinisch stumm, abszedierend oder mit dramatischem peritonitischem Verlauf auftreten kann. Jetzt schon ein Stoma zu haben, ist allemal besser, als es dann anzulegen. Jeder weiß das, nur in der Einschätzung dieses Risikos scheiden sich die Geister. Der eine steht postoperativ „Gewehr bei Fuß“ höchst aufmerksam neben dem Krankenbett mit ständigen Sonographie-, Labor-, Drainage- oder Röntgenkontrollen. Der andere beruhigt sich in der Risikobegrenzung durch das Stoma, investiert damit für seinen Patienten zwar das Risiko der 2fachen Operation, der Unannehmlichkeit eines Stomas, ohne die Insuffizienzrate letztlich zu senken, versteht sich aber im Bemühen, die Folgen einer etwaigen Insuffizienz zu minimieren. Die Art des Stomas spielt hierbei nur eine sekundäre Rolle, zu ähnlich sind die Ergebnisse der Ileostomie und der Kolostomie, d. h. beider Verfahren. Den Ausschlag gibt der Sicherheitsaspekt, der beim Pro oder Kontra protektives Stoma jeweils unterschiedlich eingeschätzt wird.

Und der Patient? Wo bleibt in dieser ungeklärten Situation sein Recht auf Selbstbestimmung? In der Regel nimmt er es wahr, indem er sich unseren Empfehlungen anschließt, d. h. uns die Entscheidung überlässt. Aber wissen wir wirklich immer, was für ihn das Beste ist? Kennen wir alle entscheidungsrelevanten Faktoren, beherrschen wir die Gleichung mit den vielen Unbekannten? Gilt das gleiche Konzept für den jungen „Fast-track-Patienten“, der uns nach wenigen Tagen in die ambulante Betreuung ggf. durch einen Onkologen verlässt, d. h. sich der weiteren chirurgischen Betreuung entzieht und damit womöglich eine inapparente Insuffizienz mit Spätabszess erleidet (s. ZEIT-Artikel vom 30.09.10), wie für den 80-Jährigen mit längerer Liegezeit aufgrund seiner Komorbidität. Auch in diesem Bereich wird die Chirurgie dem Patienten und damit ihrem Auftrag nur durch eine konsequente Individualisierung gerecht werden. Hierzu aber müssen verlässliche Parameter definiert werden, die das Pro und Kontra verbindlicher erklären können als Schule, Meinungen und Gefühl. Noch haben wir diese nicht, aber wir beginnen die richtigen Fragen zu stellen.