Über viele Generationen hinweg war die Hoffnung auf das ewige Leben eine fast selbstverständliche kulturelle Übereinkunft im Umgang mit den Schwierigkeiten des alltäglichen Lebens. Das bessere Leben war ein Versprechen für die Zeit nach dem irdischen Dasein. Das hat sich in den letzten 200 Jahren in zweifacher Hinsicht geändert. Zum einen werden die religiösen Bindungen der Menschen lockerer und damit der Glaube an das Leben nach dem Tod. Der Historiker und Demograf Arthur Imhof hat mit Blick darauf einmal etwas ironisch angemerkt, dass die Neuzeit mit einem großen Rückgang an Lebenserwartung einherging.

Zum anderen ist die gesellschaftliche Entwicklung seit der Industrialisierung – zumindest in den westlichen Industrieländern – von einer deutlichen Verbesserung der Lebensbedingungen und einer Zunahme der Lebenserwartung geprägt. Mit der Lebenserwartung steigen zugleich die Erwartungen an das Leben, d. h., die Lebenserwartung ist weit mehr als ein einfaches statistisches Maß für die Zahl der Lebensjahre, mit denen man rechnen kann.

Gesundheitswissenschaftlich betrachtet, ist die Lebenserwartung ein Globalindikator der Bevölkerungsgesundheit, die in einer Ziffer vielfältige, oft über den Lebenslauf kumulierende Einflussfaktoren auf die Gesundheit und das Outcome Lebensdauer zusammenfasst. Sie hat sich in Deutschland gegenüber der Zeit vor der Industrialisierung in etwa verdoppelt und liegt der Sterbetafel 2020/2022 zufolge bei den Männern bei 78,3 Jahren, bei den Frauen bei 83,2 Jahren. Ausschlaggebend für diese Entwicklung war zunächst die Verminderung der Säuglings- und Kindersterblichkeit, die zu einem erheblichen Teil auf die allgemeine Verbesserung der Lebensbedingungen zurückzuführen ist, von der Hygiene bis zur Ernährung. Die Säuglingssterblichkeit in Deutschland ist in dieser Zeit um den Faktor 100 gesunken. Während Ende des 19. Jahrhunderts in manchen Regionen noch jedes 3. Kind im ersten Lebensjahr gestorben ist, lag die Säuglingssterblichkeit 2022 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bei 3,1 Säuglingssterbefällen je 1000 Lebendgeborenen. In den letzten Jahrzehnten geht die Zunahme der Lebenserwartung stärker auf einen Gewinn an Lebensjahren im höheren Alter zurück und hier kommt auch der medizinische Fortschritt zum Tragen.

Hochaltrigkeit ist in Deutschland zum biografischen „Normalfall“ geworden, Deutschland zu einer „Gesellschaft des langen Lebens“. Mitte des Jahrhunderts werden in Deutschland nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes zwischen 7 Mio. und 10 Mio. Menschen im Alter von 80 Jahren und mehr leben. Allerdings ist die Zunahme der Lebenserwartung keine Naturgesetzlichkeit, wie etwa der massive Einbruch der Lebenserwartung in Russland nach dem Ende der Sowjetunion gezeigt hat, der seit einigen Jahren anhaltende Rückgang der Lebenserwartung in den USA oder die in vielen Ländern mit der Corona-Pandemie verbundenen Einbußen an Lebenserwartung. Solche zeitlichen und räumlichen Variationen verweisen auf die Abhängigkeit der Lebenserwartung von den Lebensbedingungen sowie den auch heute noch spürbaren Einfluss von Seuchen auf die Lebenserwartung. Gleichwohl ist die Debatte, in welchem Maß in den Industrieländern das Einkommensniveau oder eher die soziale Ungleichheit bestimmend für die Lebenserwartung ist, nicht abgeschlossen.

In gleicher Weise wird auch nach wie vor darüber diskutiert, ob mit der Lebenserwartung auch die Zahl der Lebensjahre steigt, die bei guter Gesundheit verbracht werden, und ein Zusammendrängen von Krankheit und Pflegebedürftigkeit am Lebensende stattfindet. Seit James Fries 1980 seine These von der „compression of morbidity“ veröffentlicht hat, hält die Debatte darüber an. Wie in vielen Bereichen der Sozialepidemiologie ist die Antwort womöglich auch hier, dass es darauf ankommt: nämlich auf die Sozialstatusgruppe, die man betrachtet.

Die im Gesundheitswesen immer virulente Frage, wie viel uns gewonnene Lebenszeit wert ist, hat in der Corona-Pandemie eine besondere Zuspitzung erfahren. Ganz offen wurde von einigen Politikerinnen und Politikern darüber diskutiert, ob es sich „lohnt“, hohe wirtschaftliche Einbußen infolge von Lockdowns in Kauf zu nehmen, um überwiegend ältere Menschen vor dem Tod durch eine COVID-19-Erkrankung zu retten. Ebenso heftig wurde darüber gestritten, ob bei Erkrankten mit Beatmungsbedarf die verbleibende Lebenserwartung ein Kriterium sein darf, ob jemand beatmet wird oder nicht. Der Bundestag hat schließlich dazu eigens ein Triage-Gesetz beschlossen, mit der Vorgabe, dass das Alter an sich, also die verbleibende Lebenserwartung, kein Kriterium für die Zuteilung lebensrettender Ressourcen sein soll. Diese soll sich allein an der „aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit“ bemessen.

Die vorliegende Ausgabe des Bundesgesundheitsblattes will rund um das Thema Lebenserwartung und Gesundheit aktuelle Debatten aufgreifen und dazu sowohl demografische als auch gesundheitswissenschaftliche Beiträge versammeln: Es gibt Beiträge zur Relevanz und Aussagekraft der gängigen statistischen Maßzahlen, zu den Determinanten der Lebenserwartung – von der Genetik bis zu den sozialen Einflussfaktoren –, zu Geschlechteraspekten und zur Ethik des langen Lebens. Wir hoffen, den Leserinnen und Lesern eine interessante Lektüre zu bieten, und bedanken uns bei den Autorinnen und Autoren dafür, diese Lektüre ermöglicht zu haben.