In den letzten Jahrzehnten konnten die Möglichkeiten der Früherkennung, Diagnostik und Behandlung von Krebserkrankungen erheblich verbessert werden. In der Folge hat sich der Anteil derjenigen Menschen, die eine Krebserkrankung langfristig überleben, deutlich erhöht. Bei etwa 2,6 Mio. dieser Cancer Survivors liegt die Krebsdiagnose bereits 5 oder mehr Jahre zurück.

In den letzten Jahren war die Lebenssituation von Langzeitüberlebenden Gegenstand zahlreicher internationaler Untersuchungen. Bei unterschiedlichen Gruppen von Krebserkrankten wurden substanzielle gesundheitliche und soziale Langzeit- und Spätfolgen der Erkrankung und/oder der Behandlung festgestellt. Diese beeinträchtigen die Lebensqualität deutlich und bestehen oft noch lange Zeit nach Initialdiagnose und Primärtherapie. Häufig werden sie erst Jahre nach dem Krankheitsbeginn sichtbar. Um dem in diesen Studien deutlich gewordenen Behandlungsbedarf gerecht zu werden, wurden international an einigen onkologischen Behandlungszentren sogenannte Survivorship-Programme entwickelt und erprobt. Auch im Nationalen Krebsplan der Bundesregierung wurde das Problem der Langzeitfolgen nach Krebs inzwischen aufgegriffen und kürzlich ein entsprechendes Forschungsprogramm auf den Weg gebracht.

Da davon auszugehen ist, dass sich Langzeit- und Spätfolgen auch bei anderen körperlichen Erkrankungen zeigen, soll in diesem Schwerpunktheft die Survivorship-Perspektive auch im Hinblick auf andere Erkrankungen thematisiert werden. So standen in der aktuell alles dominierenden Forschung zu COVID-19 zunächst die Diagnostik und (Intensiv‑)Therapie im Vordergrund. Inzwischen gewinnt jedoch auch die Frage nach längerfristig bzw. verzögert auftretenden COVID-19-Folgen (Long-COVID) zunehmend an Bedeutung. Ob die auftretenden längerfristigen körperlichen, psychischen oder sozialen Folgen von COVID-19 mit denen von Cancer Survivors wirklich vergleichbar sind, lässt sich zurzeit noch nicht sagen, vor allem weil bei COVID-19 derzeit noch keine Langzeitbetrachtungen im Sinne des Cancer Survivorship (5 Jahre nach Primärtherapie) möglich sind.

Über diese beiden Bereiche hinaus ist es naheliegend, dass andere schwerwiegende chronische Erkrankungen, wie etwa kardiologische Erkrankungen, chronische Niereninsuffizienz oder Schlaganfall, ebenfalls erhebliche Spät- und Langzeitfolgen mit sich bringen können. Diese sind zum Teil bereits sehr gut erforscht, wurden aber bislang nicht im Kontext einer Survivorship-Perspektive thematisiert. Genau eine solche krankheitsübergreifende Betrachtung soll mit dem hier vorgelegten Themenheft eröffnet werden.

Langzeitfolgen von chronischen körperlichen Erkrankungen werden in diesem Themenheft in 13 Einzelbeiträgen indikationsübergreifend unter verschiedenen Perspektiven analysiert. Es geht dabei um unerwünschte, individuell unterschiedlich ausgeprägte medizinische, psychische und soziale Folgen und Belastungen sowie Einschränkungen der Lebensqualität bei Betroffenen und ihren Angehörigen, z. B. durch Langzeitnebenwirkungen der Therapie oder Auswirkungen der Erkrankung auf die Lebens- und Berufsperspektive.

In 2 Einführungsbeiträgen werden am Beispiel von Krebserkrankungen übergreifende Aspekte von Langzeitüberleben und Survivorship behandelt. C. Bergelt et al. geben in ihrem Artikel einen Überblick über die zunehmende Bedeutung des Themas „Survivorship“. Sie definieren die relevanten Begrifflichkeiten und formulieren die wesentlichen Anforderungen an die Gestaltung von Survivorship-Programmen für Langzeitüberlebende. Der sich anschließende Beitrag von A. Mehnert-Theuerkauf und P. Esser geht der Frage nach, wie eine qualitativ hochwertige individualisierte und gleichzeitig finanzierbare Versorgung für immer älter werdende und häufig multimorbide Langzeitüberlebende sichergestellt werden kann. Die Autorin und der Autor sehen in der Bereitstellung von maßgeschneiderten Informationen sowie risikomodifizierenden und bedarfsorientierten Angeboten die zentrale Voraussetzung für die Implementierung von Survivorship-Care-Programmen. Der Förderung von Selbstmanagement- und Gesundheitskompetenzen bei Patient:innen kommt dabei vor dem Hintergrund der Zunahme von digitalen Gesundheitsanwendungen ein besonderer Stellenwert zu.

Die nachfolgenden 4 Beiträge behandeln unterschiedliche Langzeitfolgen, die bei Krebserkrankten auftreten. Körperliche Langzeitfolgen werden von L. Ernst und G. Schilling thematisiert. Die Autorinnen verweisen auf die stetig wachsende Zahl von Langzeitüberlebenden nach malignen Erkrankungen und führen dies im Wesentlichen auf die Weiterentwicklung der unterschiedlichen in der onkologischen Behandlung eingesetzten Methoden (Bestrahlung, Operationen, Chemo‑, Immun-, zielgerichtete und auch endokrine Therapien) zurück. Sie sehen bei den Disziplinen, die in die Nachsorge von Tumorpatient:innen involviert sind, einen erheblichen Nachholbedarf. J. Weis gibt im anschließenden Beitrag einen Überblick über die psychischen Langzeitfolgen von Krebserkrankungen, insbesondere Angst, Depression, psychosoziale Aspekte der Lebensqualität, neuropsychologische Defizite sowie anhaltende Erschöpfungszustände (Fatigue), und leitet daraus Folgerungen für die notwendige Gestaltung eines psychosozialen Nachsorgeangebots ab.

U. Seifart ist es ein besonderes Anliegen, auf die sozioökonomischen Risiken und Langzeitfolgen, die bei Krebspatient:innen auftreten, aufmerksam zu machen. Mit einer reduzierten Leistungsfähigkeit können eine Reduzierung der Arbeitszeit, der Verlust des Arbeitsplatzes oder eine notwendige vorzeitige Berentung einhergehen, die aufgrund von Einkommenseinbußen erhebliche sozioökonomische Risiken darstellen. Der Autor gibt einen Überblick über sozialrechtliche Hilfestellungen und Angebote für Patient:innen.

Im Folgenden erweitert T. Zimmermann die Betrachtung von längerfristigen Krankheitsfolgen bei Krebspatient:innen um eine partnerschaftliche und familiäre Perspektive. Die bisherige Forschung in diesem Bereich gibt eindeutige Hinweise auf eine Chronifizierung psychischer Beschwerden bei Angehörigen und auf Risiken für die Entwicklung von psychischen Störungen bei Kindern. Auch eine Verschlechterung der partnerschaftlichen Zufriedenheit und ein erhöhtes Trennungsrisiko wurden nachgewiesen. Die Autorin fordert, eine Krebserkrankung nicht nur auf der individuellen, sondern immer auch auf der familiären Ebene zu betrachten.

Die Situation Langzeitüberlebender nach Krebs im Kindesalter ist Gegenstand des Beitrags von P. Kaatsch et al. Grundlage ihrer Analyse ist ein bemerkenswerter Datensatz, nämlich die Kohorte der 41.000 Langzeitüberlebenden des Deutschen Kinderkrebsregisters. Mit dieser einzigartigen Kohorte wird eine für Deutschland repräsentative Spätfolgenforschung für den Bereich der pädiatrischen Onkologie möglich.

Die beiden nachfolgenden Beiträge behandeln die inzwischen sehr aktuell gewordene Frage nach möglichen Langzeitfolgen einer COVID-19-Infektion. J. Hennigs et al. geben eine Übersicht über organbezogene Folgeerscheinungen von COVID-19 im Erwachsenenalter. Diese sind häufig und vielgestaltig und werden nach einer Persistenz von 4 Wochen nach Akutinfektion unter dem Begriff „Long-COVID“ zusammengefasst. Dauer, Intensität und Organbezug variieren interindividuell sehr stark. Die Autoren fordern bei der Diagnostik, Therapie und Rehabilitation von COVID-19-Folgeerscheinungen ein interdisziplinäres Handeln. Als eine häufig gefundene und schwierig zu behandelnde COVID-19-Langzeitfolge wird in internationalen Studien immer wieder die anhaltende Fatigue beschrieben. J. Haller und Kolleg:innen untersuchten auf der Grundlage einer großen Stichprobe von vormals COVID-19-infizierten Versicherten der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtpflege (BGW) Risikofaktoren und Auswirkungen von Fatigue auf die Lebensqualität. Die Autor:innen beschreiben den erheblichen Leidensdruck durch Long‑/Post-COVID-Fatigue und diskutieren die erforderlichen Rehabilitationskonzepte.

Die 4 letzten Beiträge beziehen sich auf Langzeitfolgen und Survivorship bei anderen chronischen Erkrankungen. Zunächst analysieren K.-H. Ladwig, J. Lurz und K. Lukaschek im Rahmen einer Übersichtsarbeit psychosoziale Versorgungsdefizite im Langzeitverlauf von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Sie kritisieren unter anderem, dass es für den Langzeitverlauf dieser Krankheitsgruppen kaum strukturierte Versorgungs- und Therapiekonzepte gibt und dass dies gravierende Auswirkungen auf die Medikamententreue und Einhaltung von Verhaltensempfehlungen habe. Defizite sehen sie auch in der Betreuung der Patient:innen mit psychischen Komorbiditäten. Diese hätten negative Auswirkungen auf die Lebensqualität und begünstigten gesundheitsschädigendes Verhalten.

Der Beitrag von F. Thaiss beschreibt und analysiert die langfristigen körperlichen und psychischen Auswirkungen von chronischer Niereninsuffizienz, bei der aufgrund von Fortschritten in Pharmakotherapie, Dialysebehandlung und Nierentransplantation heute ein langes Überleben möglich ist. Der Autor sieht als Voraussetzung für eine weiterhin gute Lebensqualität eine funktionierende Zusammenarbeit zwischen Nephrologie und Psychonephrologie.

D.L. Rimmele und G. Thomalla befassen sich mit Langzeitfolgen von Schlaganfällen. Diese sind in Abhängigkeit vom betroffenen Gehirnareal vielfältig. Lähmungen und Sprachstörungen beeinträchtigen den Alltag am offensichtlichsten. Aber auch Defizite komplexerer motorischer, sensibler und kognitiver Fähigkeiten sowie emotionale Beeinträchtigungen wie Angststörungen, Fatigue und Depressionen können die Lebensqualität mindern. Die Autoren beschreiben die inzwischen bestehenden und zum Teil sehr erfolgreichen präventiven, therapeutischen und rehabilitativen Ansätze, die auf einem interdisziplinären Behandlungsverständnis aufbauen.

Der abschließende Beitrag von B. Kulzer hat körperliche und psychische Langzeitfolgen bei Diabetes mellitus zum Gegenstand. Der Autor zeigt auf, dass trotz erheblicher Verbesserungen in der Therapie und besserer Versorgungbedingungen bei Betroffenen aktuell immer noch ein deutlich erhöhtes Risiko für physische wie psychische Folgeerkrankungen und eine verringerte Lebenszeit bestehen. Nach Einschätzung des Autors kommt personalisierten Vorhersagen von diabetesbezogenen Risiken zukünftig eine besondere Bedeutung in der Weiterentwicklung der Prävention und Behandlung von Folgekomplikationen des Diabetes zu.

Eine diagnoseübergreifende Betrachtung von Langzeitfolgen bei körperlichen Erkrankungen und deren Herausforderungen für die Versorgung weist auf eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten hin (z. B. deutliche Beeinträchtigung von Lebensqualität oder Anstieg von Depressivität und Ängsten). Insofern könnte sich bei der Suche nach innovativen Konzepten zur Nachbetreuung von Langzeitfolgen ein Blick über den Tellerrand lohnen. Wir hoffen, dass es mit diesem Themenheft gelungen ist, die Bedeutung von Langzeitfolgen bei unterschiedlichen chronischen Erkrankungen sowie die Notwendigkeit von evidenzbasierten und patient:innenbezogenen Nachsorgekonzepten herauszuarbeiten. Wir danken allen Autor:innen für die sehr gute Zusammenarbeit bei der Erstellung des Themenheftes und wünschen Ihnen, liebe Leser:innen, eine anregende Lektüre.

Uwe Koch-Gromus und Corinna Bergelt