Einleitung

Die GeSiD-Studie „Gesundheit und Sexualität in Deutschland“ ist die erste bundesweite repräsentative Untersuchung mit durch Peer-Review-Verfahren unabhängig beurteilten, national und international publizierten Ergebnissen.Footnote 1 Anliegen dieses kurzen Beitrags ist es, eine Einführung zur Studie und zu ihren verschiedenen Untersuchungsbereichen zu geben. Nach Schilderung der Ausgangslage wird ein Einblick in das methodische Vorgehen gegeben, um anschließend auf einige Ergebnisse einzugehen und einen Ausblick für die Zukunft zu geben.

Ausgangssituation

Anfang der 2010er-Jahre existierten für die meisten europäischen sowie für viele andere Länder der westlichen Welt Survey-Untersuchungen zur sexuellen Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung [1]. Für die Frage, warum es für Deutschland bisher keine wiederkehrenden Untersuchungen gab, wie beispielsweise in den USA oder im Vereinigten Königreich, lassen sich nur unsichere Hypothesen bilden. Im Deutschland der Nachkriegszeit wurde das erste Institut für Sexualforschung 1959 an der Medizinischen Fakultät der Universität Hamburg gegründet. Der erste Institutsleiter, Hans Giese, hatte bereits in seiner Frankfurter Zeit Fragebogenuntersuchungen mit homosexuellen Männern durchgeführt. Gegenüber den die Sexualwissenschaft grundlegend verändernden ersten großen Sex-Surveys des US-amerikanischen Zoologen Alfred F. Kinsey [2, 3] zeigte sich Giese zwar einerseits skeptisch, andererseits war er aber wohl auch interessiert an der Durchführung empirischer Untersuchungen zur Sexualität in der deutschsprachigen Bevölkerung. Ab Mitte der 1960er-Jahre führte sein Mitarbeiter Gunter Schmidt eine Untersuchung zur Sexualität Studierender in Deutschland durch [4]. In der Folge wurde diese Studie in 15-jährigem Abstand mit Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft bisher noch dreimal bis ins Jahr 2012 wiederholt. Zuletzt wurde die 4. Welle der Hamburger Studenten-Sexstudien von Arne Dekker und Silja Matthiesen verantwortet [5].

Dass Deutschland sich ab Ende der 1980er-Jahre im Zuge des Aufkommens von HIV/Aids weniger stark als andere Länder auf die Rolle des Sexualverhaltens bei der Verbreitung der Krankheit konzentrierte und sich kein wiederkehrender Sex-Survey etablierte, könnte unterschiedliche Gründe haben. Wir wissen, dass es einige Skepsis bei den Sexualforschenden selbst gab [6]. Im Jahr 1983 war die damals geplante Volkszählung mit der Anerkennung des informationellen Selbstbestimmungsrechts als vom Grundgesetz geschütztes Gut zunächst gekippt und modifiziert auf 1987 verschoben worden. Dieser Vorgang hatte erheblichen Einfluss auf spätere Entwicklungen des Datenschutzes. Es ist naheliegend, dass in diesem gesellschaftlichen Klima der Versuch, Daten zur sexuellen Gesundheit und zum sexuellen Verhalten zu erheben, besonders kritisch gesehen wurde. Hinzu kommt, dass eine solche Studie organisatorisch für sexualwissenschaftliche Einrichtungen jener Zeit eine Herausforderung gewesen wäre – das Institut für Sexualwissenschaft in Frankfurt und die Abteilung für Sexualforschung in Hamburg waren damals relativ klein.

Schließlich erfolgte durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) ab 1987 zunächst jährlich eine Untersuchung zur Entwicklung von Wissen, Einstellungen und Verhaltensweisen sowie zu Veränderungen des Informations- und Kommunikationsverhaltens im Zusammenhang mit HIV und Aids in der Allgemeinbevölkerung (die Studie „AIDS im öffentlichen Bewusstsein“; [7]).

Die zunehmende Bedeutung des Themenfeldes sexuelle Gesundheit in der Weltgesundheitsorganisation [8, 9] bahnte ab 2013 den Weg für einen Sex-Survey in Deutschland. Zunächst hatte die BZgA eine Expertise zu Sex-Surveys in Europa in Auftrag gegeben [1]. Anschließend erfolgte eine Erstellung von Indikatoren und eines ersten Fragebogenentwurfs. In der Folge wurde eine Pilotstudie zur Machbarkeit und zum Vergleich verschiedener Erhebungsmethoden an einer Stichprobe von 1155 Frauen und Männern in Zusammenarbeit mit dem Sozialforschungsinstitut Kantar Emnid durchgeführt [9]. Diese Pilotstudie zeigte erstens, dass es möglich ist, in Deutschland detaillierte und intime Fragen zur Sexualität zu stellen – es gab keine ernsthaften Beschwerden oder Kritik von Adressat:innen. Außerdem zeigte sich, dass eine Interviewstudie hinsichtlich verschiedener Parameter wie Datenqualität und Anteil der Nichtteilnehmenden einer postalischen Versendung von Fragebögen überlegen ist. Schließlich erbrachte die Vorstudie erste interessante Ergebnisse zum Beispiel zum Thema sexuelle Orientierungen oder sexuelle Praktiken [10, 11]. Der Durchführung der Interviews im Rahmen der GeSiD-Studie in den Jahren 2018 und 2019 stand damit nichts mehr im Wege.

Methodisches Vorgehen

Das komplexe methodische Vorgehen der Studie kann hier nicht detailliert dargestellt werden. Es liegen ein deutschsprachiger Methodenbericht sowie eine internationale Publikation mit ausführlicher Darstellung des methodischen Vorgehens vor [12]. Die GeSiD-Studie wurde im Zeitraum 23.10.2018 bis 16.09.2019 mittels computergestützter persönlicher Interviews durchgeführt, was ein qualitativ besonders hochwertiges, aber auch aufwendiges Erhebungsverfahren ist. Die insgesamt etwa 260 seinerzeit interviewenden Personen wurden vom Institut für Sexualforschung gemeinsam mit dem Sozialforschungsinstitut Kantar Emnid geschult. Diese Schulungen dienten einerseits der Motivationssteigerung bei den Interviewenden und andererseits dazu, möglichst hochwertige Daten zu gewinnen. Frauen wurden von Frauen und Männer von Männern befragt. Nur die ersten und die letzten Fragebogenanteile, in denen es vor allem um soziodemografische Daten sowie gesundheitsbezogene Fragestellungen ging, wurden im direkten Interview durchgeführt. Die intimen sexualitätsbezogenen Fragen wurden von den damals Teilnehmenden eigenständig am Laptop beantwortet. Selbstverständlich standen die seinerzeit Interviewenden bei Nachfragen oder technischen Problemen zur Verfügung; eine wichtige Hilfestellung war dabei ein Glossar, in dem verschiedene Begriffe definiert wurden, um so Einheitlichkeit bei Erklärungen zu erwirken. Vertrauen schaffende Maßnahmen waren ein positives Votum der Ethikkommission sowie das Einholen eines schriftlichen, informierten Einverständnisses vor der Teilnahme.

Die Stichprobenziehung erfolgte über 200 „Samplepoints“ in ganz Deutschland als zweifach geschichtete Zufallsstichprobe über die Einwohnermeldeämter. Die ausgewählten Personen wurden angeschrieben und erhielten Informationsmaterialien zur Studie und die Mitteilung, dass sie zeitnah kontaktiert werden. Die ausgewählten Personen wurden, wenn sie nicht angetroffen wurden, bis zu 5‑mal aufgesucht, um eine möglichst hohe Teilnahmequote zu erreichen. Damals Teilnehmende erhielten eine Aufwandsentschädigung von insgesamt 30 €. Befragt wurden schließlich insgesamt 4955 Personen, davon 2336 Männer und 2619 Frauen. Die Altersspanne der Befragten betrug 18–75 Jahre. Die Befragungen dauerten im Durchschnitt 51 min. Insgesamt konnte eine Teilnahmequote nach American Association for Public Opinion Research (AAPOR)-Kriterien [13] von 30,2 % erreicht werden.

Insgesamt erfasste das auf der Basis internationaler Vergleichsstudien entwickelte und in einer Pilotstudie vor der eigentlichen GeSiD-Studie getestete Erhebungsinstrument eine Vielzahl von Themenbereichen: So wurde nach partnerschaftlicher Sexualität, aber auch solosexuellen Aktivitäten, sexuellen Beziehungen und Einstellungen gefragt. Im Bereich der sexuellen Gesundheit konzentrierten sich die Fragen auf sexuell übertragbare Infektionen (STI), sexuelle Funktionsstörungen und Erfahrungen mit sexueller Gewalt und sexuellen Übergriffen sowie auf eine Reihe anderer gesundheitsbezogener Fragestellungen. Dem Themenbereich der Nutzung von digitalen Medien für sexuelle Zwecke wurde besondere Bedeutung beigemessen. Das GeSiD-Team wird von einem wissenschaftlichen Beirat beraten und verschiedene assoziierte Wissenschaftler:innen arbeiten gemeinsam an Veröffentlichungen (siehe Homepage: https://gesid.eu/studie [14]).

Ausgewählte Ergebnisse

Sexuelle Identität, Beziehungen und sexuelles Verhalten

Untersuchungen zur Sexualität Erwachsener konzentrieren sich in weiten Teilen darauf, wie Menschen sich selbst einschätzen, welche (sexuellen) Beziehungen sie führen, was sie sexuell erleben und wie sie sich sexuell verhalten. In Hinblick auf die Selbsteinschätzung der sexuellen Identität bezeichneten sich in der GeSiD-Studie 96,2 % der Frauen und 96,9 % der Männer als heterosexuell, 0,9 % der Frauen und 1,8 % der Männer als homosexuell, 1,8 % Prozent der Frauen und 0,9 % der Männer als bisexuell (0,4 % der Männer und 1,1 % der Frauen gaben hier eine „andere“ sexuelle Identität an).

In der Gruppe der 18- bis 35-Jährigen gaben 26 % der Frauen und 21 % der Männer an, verheiratet zu sein. In der Gruppe der 36- bis 75-Jährigen betraf dies 63 % der Frauen und 67 % der Männer. Aktuell nicht in fester Beziehung, d. h. „Single“, waren bei den 18- bis 35-Jährigen 25 % der Frauen und 36 % der Männer. Bei den 36- bis 75-Jährigen betraf dies 23 % der Frauen und 16 % der Männer.

Männer berichteten, dass sie bislang im Laufe ihres Lebens durchschnittlich 9,8 gegengeschlechtliche Sexualpartnerinnen hatten, bei den Frauen waren es 6,1 (um 1 % getrimmte Mittelwerte). Diese Unterschiede lassen sich nur zum Teil durch das Sexualverhalten erklären und können kurz gefasst auf 3 Faktoren zurückgeführt werden (vgl. [15]): Männer und Frauen zählen aufgrund unterschiedlicher sozialer Erwartungen anders, es gibt Schätz- und Rundungsfehler, wahrscheinlich existieren reale Unterschiede im Sexualverhalten, wobei Männer offensichtlich häufiger Sex mit Frauen haben, die systematisch nicht an Sex-Surveys teilnehmen, wie zum Beispiel Sexarbeiterinnen.

Frauen und Männer zwischen 18 und 35 Jahren hatten pro Monat etwa 5‑mal Sex. Bei den 36- bis 55-Jährigen kam es etwa 4‑mal im Monat dazu. In der ältesten untersuchten Altersgruppe der 66- bis 75-Jährigen hatten die Teilnehmenden noch einmal im Monat Sex. Die sexuelle Aktivität hing allgemein stark vom Beziehungsstatus ab.

Merkmale sexueller Gesundheit

Körperliche und psychische Erkrankungen sind häufig mit einer deutlichen Beeinträchtigung der Sexualität verbunden. Bei den männlichen Befragten reduzierte sich die Wahrscheinlichkeit, in den letzten 4 Wochen sexuell aktiv gewesen zu sein, von 79,1 % auf 59,0 % bzw. 30,1 %, wenn sie ihren eigenen Gesundheitszustand als mittelmäßig oder schlecht beschrieben, im Vergleich zu denjenigen mit sehr gutem Gesundheitszustand [16]. Bei den weiblichen Befragten zeigte sich ein Rückgang von 72,5 % auf 48,0 % bzw. 32,4 %.

Hinweise auf sexuelle Funktionsstörungen gemäß den ICD-11-Leitlinien [17] wurden von 13,3 % der sexuell aktiven Männer (am häufigsten erektile Dysfunktion in 6,6 % und vorzeitige Ejakulation in 4,5 %) und von 17,5 % der sexuell aktiven Frauen (am häufigsten hypoaktives sexuelles Verlangen in 6,9 % und Orgasmusstörungen in 5,8 %) angegeben. Die Prävalenz der erektilen Dysfunktion nahm mit dem Alter deutlich zu (18- bis 25-Jährige 2,7 %; 66- bis 75-Jährige 17,7 %), während die der vorzeitigen Ejakulation abnahm (18- bis 25-Jährige 6,2 %; 66- bis 75-Jährige 3,3 %). Frauen fühlten sich besonders durch Schmerzen im Zusammenhang mit der sexuellen Aktivität beeinträchtigt.

Wenn es um die Kommunikation über sexuell übertragbare Infektionen (STI) geht, zeigte sich, dass nur ein relativ geringer Anteil der Befragten jemals mit einem Arzt oder einer Ärztin über HIV/Aids oder andere STI gesprochen hat. Für 31 % der Frauen und 21 % der Männer waren STI schon einmal Bestandteil eines ärztlichen Beratungsgesprächs. Allerdings würden 15 % der Frauen und 17 % der Männer gerne einmal mit ihrem Arzt oder ihrer Ärztin über das Thema sprechen. Die weiteren Befragten fühlten sich gut informiert. Abb. 1 schlüsselt die Ergebnisse nach verschiedenen Altersgruppen auf. Dabei wird deutlich, dass jüngere Menschen häufiger als ältere und Frauen häufiger als Männer mit ihrem Arzt oder ihrer Ärztin über STI sprechen. Am häufigsten berichtete die Gruppe jüngerer Frauen und Männer bis 35 Jahre einen Wunsch nach mehr ärztlicher Beratung. Der hohe Anteil von 70,8 % der Befragten vertrat die Auffassung, dass Hausärzt:innen ihren Patient:innen häufiger sexualitätsbezogene Fragen stellen und Probleme rund um Sexualität abklären sollten.

Abb. 1
figure 1

Sexuell übertragbare Infektionen (STI) als Bestandteil ärztlicher Beratungsgespräche bei Frauen und Männern

Weitere Auswertungen der GeSiD-Studie [18] beschäftigen sich u. a. mit Erfahrungen sexualisierter Gewalt in der deutschen Bevölkerung und werden in diesem Themenheft von Brunner et al. [19] berichtet. Matthiesen et al. [20] berichten in diesem Heft darüber, wie der Wissensstand bezogen auf STI in Deutschland ist.

Diskussion und Ausblick

Aus der GeSiD-Studie liegen erstmalig für Deutschland in wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlichte Ergebnisse zu Sexualität und zu sexueller Gesundheit an einer repräsentativen Stichprobe vor. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass es in Deutschland im Themenfeld sexueller Gesundheit weiterhin einen hohen Bedarf an Aufklärungsangeboten, Informationsvermittlung und Fortbildungen gibt. Mit der GeSiD-Studie können solche Notwendigkeiten besser als bisher identifiziert werden, Maßnahmen geplant, durchgeführt und in der Folge durch weitere Untersuchungen hinsichtlich ihres Erfolgs überprüft werden. Dazu sollte die GeSiD-Studie in einem angemessenen Zeitrahmen wiederholt werden. Damit könnte eine Allokation von Ressourcen innerhalb des Gesundheitssystems durch die Studie ähnlich erfolgen, wie das mit der englischen NATSAL-Studie gelungen ist (https://www.natsal.ac.uk [21]). Dazu ist es notwendig, bestimmte methodische Vorgehensweisen und Indikatoren bei Folgeuntersuchungen beizubehalten. Gleichzeitig könnten spezifische neue Fragestellungen in der Zukunft genauer untersucht werden. So wären Untersuchungen bestimmter Untergruppen, wie zum Beispiel Männer, die Sex mit Männern haben, Menschen mit Migrationshintergrund oder Hochbetagte, interessant. Daneben könnten bestimmte Ereignisse wie die COVID-19-Pandemie hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die sexuelle Gesundheit untersucht werden. Mit GeSiD ist dafür nun eine sehr gute Ausgangslage geschaffen.