Die Gesundheitsberichterstattung hat in Deutschland eine lange Geschichte, die über 200 Jahre bis zu den medizinischen Topografien des 18. Jahrhunderts in der Tradition von Johann Peter Frank zurückreicht. Sie ist von ihrer Entstehungsgeschichte her dem Projekt der Aufklärung verpflichtet: Die Gesundheit der Menschen ist durch staatliches Handeln beeinflussbar, dazu bedarf es aussagekräftiger und handlungsorientierter Daten. Die „Dialektik der Aufklärung“, wie Horkheimer und Adorno das Janusgesicht der rationalen gesellschaftlichen Planung genannt haben, ging auch an der Gesundheitsberichterstattung nicht vorbei. Im Nationalsozialismus war sie Teil des Programms zur Erfassung der Menschen, die ausgesondert und ermordet wurden. In der Nachkriegszeit trug die Sozialmedizin in Deutschland ein Kainsmal und die Gesundheitsberichterstattung ist zu einer weitgehend anwendungslosen Medizinalstatistik geworden.

Mit dem Wiederaufbau von Public Health in Deutschland in den 1980er-Jahren hat die Gesundheitsberichterstattung eine moderne Ausrichtung als Instrument der indirekten Steuerung im Gesundheitswesen erfahren. Die Idee einer datengestützten Gesundheitsplanung wurde wiederbelebt, verbunden mit der Anknüpfung an eine Leitwissenschaft – nun „Public Health“. In diesem Verständnis wurde vor 25 Jahren die Gesundheitsberichterstattung des Bundes, unmittelbar angestoßen durch ein Gutachten des Sachverständigenrats, neu konzipiert. Sie wird seitdem gemeinsam vom Robert Koch-Institut und dem Statistischen Bundesamt getragen. Auf Länderebene und kommunaler Ebene gab es ebenfalls Reformimpulse. Sie gingen einerseits von den vor allem in den 1990er-Jahren auf den Weg gebrachten Gesundheitsdienstgesetzen der Länder aus, die schrittweise das alte, verbal entnazifizierte Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens ablösten. Andererseits wurde in den Ländern und Kommunen der Impuls der Ottawa-Charta von 1986 aufgegriffen, die das Gesundheitswesen am Paradigma der Gesundheitsförderung ausrichten wollte. Dabei gingen Gesundheitsberichterstattung und Gesundheitsförderung konzeptionell eine enge Verbindung ein und wurden in den Gesundheitsämtern nicht selten von den gleichen Personen verantwortet.

In den 1990er-Jahren war die Situation in Deutschland durch einen eklatanten Mangel an aussagekräftigen Gesundheitsdaten geprägt. Diesen Mangel zu beseitigen, stand auch im Zentrum des Sachverständigengutachtens 1987, das zum Neuaufbau der Gesundheitsberichterstattung in Deutschland aufforderte. Demgegenüber gibt es heute zu manchen Themenfeldern eine kaum mehr zu bewältigende Datenfülle. Gleichwohl bestehen auch Datendefizite fort, etwa was Aspekte der gesundheitlichen Lebensqualität angeht, des Gesundheitsverhaltens, der Gesundheit bestimmter Personengruppen (Menschen mit Migrationshintergrund, Wohnungslose etc.) oder der kleinräumigen Gesundheitsdaten. Des Weiteren weist die Gesundheitsberichterstattung heute eine größere Nähe zu konkreten Public-Health-Anliegen auf als früher. Ob es um die Prävention von Krebs geht, die Weiterentwicklung des Arbeitsschutzes oder die Vermeidung von Diabetes – Daten der Gesundheitsberichterstattung spielen dabei stets eine wichtige Rolle.

Ein in seiner langfristigen Bedeutung noch nicht in Gänze überschaubarer Entwicklungsimpuls ging von dem 2015 in Kraft getretenen Präventionsgesetz aus. Es sieht zum einen explizit eine Umsetzungsbegleitung durch die Gesundheitsberichterstattung in Form eines nationalen Präventionsberichts vor, zum anderen hat es auf Länder- und kommunaler Ebene den Aufbau einer regionalspezifischen Präventionsberichterstattung angeregt. Teilweise wird die Präventionsberichterstattung schon als eigenständiges Berichtswesen neben der Gesundheitsberichterstattung gesehen. Auch hier zeigt sich die strukturbildende Kraft der Verbindung von Public-Health-Initiativen und einer darauf bezogenen Berichterstattung. Ähnliche Entwicklungen kann man im Zusammenhang mit der nationalen Diabetes-Surveillance sehen, bei der ebenfalls gesundheitspolitische Initiativen und Berichterstattung eng verbunden sind. Mit der vom „Zukunftsforum Public Health“ (https://zukunftsforum-public-health.de/) konzeptionell vorbereiteten nationalen Public-Health-Strategie könnte es für die Gesundheitsberichterstattung einen weiteren Knotenpunkt zu gesundheitspolitischem Handeln geben. Die beim Robert Koch-Institut im Aufbau befindliche „NCD(non communicable diseases)-Surveillance“, also die systematische Beobachtung nichtübertragbarer Erkrankungen, lässt solche Perspektiven jedenfalls aufscheinen.

Mit der Ausdifferenzierung der Matrix aus Zielen und Daten geht auch eine große Vielfalt von Akteuren einher, die Berichte über Gesundheit schreiben. Der Fokus kann dabei auch auf Umwelt und Gesundheit oder Arbeit und Gesundheit liegen. Neben den staatlichen und kommunalen Gesundheitsbehörden, die traditionell Gesundheitsberichte erstellt haben, gibt es inzwischen zahlreiche neue Akteure, von den Krankenkassen bis hin zu den im Arbeitsschutz oder Umweltschutz tätigen Organisationen, die eigene Berichtssysteme aufgesetzt haben. Bei den Krankenkassen hat auch die immer weiter fortschreitende technische Handhabbarkeit der Versorgungsdaten dazu beigetragen, Gesundheitsberichte auf der Grundlage von Krankenkassendaten zu entwickeln und gemeinsam mit der Versorgungsforschung zu profilieren.

Die Digitalisierung hat auch der Gesundheitsberichterstattung insgesamt neue Möglichkeiten erschlossen. Waren noch vor 20 Jahren Karten in der Gesundheitsberichterstattung seltene Ausnahmen, weil sie technisch nur mit großem Aufwand zu erstellen waren, gehören sie heute zum Standardrepertoire der Gesundheitsberichterstattung. Unterstützt wird dies durch die Entwicklungen in der geografischen Statistik, sodass analytische Methoden und kartografische Darstellungsmöglichkeiten gleichermaßen für neue Impulse in der Gesundheitsberichterstattung sorgen. Innovativ in einer anderen Richtung sind partizipative Ansätze in der Gesundheitsberichterstattung. Forderungen nach einer stärkeren Orientierung auf Bürgerinnen/Bürger und Patientinnen/Patienten im Gesundheitswesen haben somit auch die Gesundheitsberichterstattung erreicht.

Entwicklung bedeutet immer auch Aufforderung zur Reflexion, zum Nachdenken darüber, was eigentlich Sinn und Zweck der Gesundheitsberichterstattung ist. Solche methodischen Reflexionen in der Gesundheitsberichterstattung gab es wiederholt in größeren zeitlichen Abständen. Ein Produkt des jüngeren Nachdenkens war die Verabschiedung einer „Guten Praxis Gesundheitsberichterstattung“ – ein Widerschein der im Versorgungsbereich beheimateten Leitlinienphilosophie. Gesundheitsberichterstattung entwickelt sich unter vielen Gesichtspunkten koevolutionär zum Gesundheitswesen und zur Wissenschaft insgesamt.

Vor dem Hintergrund dieser Dynamik lohnt sich eine Bestandsaufnahme zur Gesundheitsberichterstattung in Deutschland. Das vorliegende Heft stellt dazu Entwicklungslinien, Formate und Perspektiven der Gesundheitsberichterstattung vor. Es hat daher einen hohen Anteil an konzeptionell-reflektierenden Artikeln. Es beleuchtet ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige aktuelle „Knospen“ der Gesundheitsberichterstattung, in denen Potenziale für die Zukunft angelegt sind. Wir hoffen, damit auch die eine oder andere Seite dieses Themenfeldes einer Leserschaft näherzubringen, die sonst mehr mit konkreten medizinischen Fragen des Versorgungsalltags befasst ist. Es würde uns freuen, wenn uns das mit diesem Heft gelungen ist.