Einleitung

Digital Health Literacy lässt sich zunächst als einer von mehreren Bestandteilen der als umfassender gedachten Health Literacy, oder in der deutschen Übersetzung Gesundheitskompetenz, bestimmen. Im Laufe der letzten 15 Jahre hat sich dabei eine größere Anzahl von Begriffsvorschlägen ausgebreitet: So finden sich neben der Digital Health Literacy [1] die Begriffe E‑Health Literacy [2], Media Health Literacy [3], Electronic Health Literacy [4] oder noch spezifischer Internet Health Literacy [5] und Mobile Health Literacy [6]. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags werden die feinen Verästelungen dieser Begrifflichkeiten nicht weiterverfolgt, sondern der Begriff „digitale Gesundheitskompetenz“ genutzt und die anderen Begriffsvorschläge darunter subsumiert.

In einer ersten Annäherung liegen im Gegenstandsbereich von digitaler Gesundheitskompetenz beispielsweise Motive wie die kompetente und souveräne Navigation durch das Internet im Zusammenhang mit der Beantwortung gesundheitsrelevanter Fragen, die Flankierung eines gesundheitsorientierten Lebensstils bzw. der kompetente Umgang mit chronischen Erkrankungen durch die Verwendung von gesundheitsbezogenen Apps oder die Erzeugung von Aufmerksamkeit für gesundheitsbezogene Themenstellung in sozialen Medien, etwa durch Partizipation an einer Facebook-Gruppe für die qualitative Verbesserung der industriellen Nahrungsmittelproduktion. Aber es wird schnell deutlich, dass der Gegenstandsbereich von digitaler Gesundheitskompetenz noch erheblich umfassender ist und bereits vor rund zwei Jahrzehnten vor allem mit der Einführung einer elektronischen Patientenakte verbunden wurde. Der Großteil der jüngeren Arbeiten zu digitaler Gesundheitskompetenz bezieht sich aber auf die erheblich angewachsenen individuellen Optionsräume, die mit der Digitalisierung und der damit zusammenhängenden exorbitanten Ausdehnung von verfügbaren Gesundheitsinformationen verursacht werden.

Die versorgungsbezogene Seite digitaler Gesundheitskompetenzen bleibt in diesem Beitrag größtenteils ausgeklammert, weil es sich hier um einen eigenständigen Diskurs handelt. Wir wollen uns in diesem Beitrag stattdessen auf die lebensweltlichen Dimensionen von digitaler Gesundheitskompetenz beziehen und damit der sukzessiven Ausdehnung des gesamten Health-Literacy-Konzepts, wie er sich in neueren und umfassenderen Health-Literacy-Definitionen widerspiegelt [7], folgen. Zudem soll ein besonderer Fokus auf Kindern und Jugendlichen liegen, weil diese Gruppe im Kontext von digitalen Gesundheitskompetenzen sehr widersprüchlich konzeptionalisiert wird: Erstens im Rahmen einer nunmehr heranwachsenden Generation von Digital Natives werden Kinder und Jugendliche als besonders kompetente und souveräne Nutzende der digitalen Welt imaginiert; zweitens werden Kinder und Jugendliche im Rahmen der nunmehr auch von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als psychische Erkrankung anerkannten Internetsucht als besondere Risikogruppe angesehen und drittens zeigen empirische Studien, dass sich vor allem Jugendliche im Selbstreport als gesundheitskompetenter einschätzen als Erwachsene.

Dieser Beitrag zielt darauf, einen Überblick zu verschiedenen Facetten der digitalen Gesundheitskompetenz im Kindes- und Jugendalter zu vermitteln. Hierfür werden zunächst bestehende Gemeinsamkeiten zwischen Gesundheits- und Medienkompetenzen diskutiert und der gesundheitsbezogene Informationszugang über Medien dargestellt, um den Gegenstandbereich der digitalen Gesundheitskompetenz an den medienpädagogischen Diskurs anzuschließen. Darauf folgen die Präsentation vorliegender Konzepte zur digitalen Gesundheitskompetenz sowie eine ungleichheitsorientierte Betrachtung digitaler Aspekte bezüglich der Gesundheit. Im Abschnitt zur Messung der digitalen Gesundheitskompetenz werden sowohl aktuell vorliegende Instrumente vorgestellt als auch die theoretischen Hintergründe der Operationalisierung besprochen. Dieser Beitrag schließt mit einer Schlussbetrachtung und einem Blick auf Interventionen zur Stärkung der digitalen Kompetenzen bei Kindern und Jugendlichen in der Schule und vor dem Hintergrund des digitalen Wandels.

Die Verschränkung von Gesundheits- und Medienkompetenzen

Das Thema der digitalen Gesundheitskompetenz ist aus der Health-Literacy-Forschung und -Debatte nicht wegzudenken und nimmt einen kontinuierlich prominenteren Stellenwert ein [3, 8,9,10,11,12,13,14,15]. Gerade in Hinblick auf die Gesundheitskompetenz von Kindern und Jugendlichen spielt Digitalisierung eine besonders zentrale Rolle, weil die heranwachsende Generation gewissermaßen mit Geburt in die technischen Möglichkeiten und Errungenschaften des Internets und seine digitalen Weiterentwicklungen hineinsozialisiert wird [11, 13, 16,17,18]. So sind digitale Medien bereits bei Kindern und Jugendlichen alltägliche Begleiter; kindliche und jugendliche (und folglich auch familiale) Lebenswelten sind vom Internet und den notwendig angeschlossenen, insbesondere mobilen Nutzungsgeräten mehr oder weniger vollständig durchdrungen [8, 9]. Die Ergebnisse der vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest durchgeführten Studien JIM (Jugend, Information, (Multi‑)Media) und KIM (Kinder, Internet, Medien) weisen darauf hin, dass etwa die Hälfte aller 6‑ bis 13-Jährigen und annähernd 100 % aller 12- bis 19-Jährigen ein eigenes Smartphone und etwa 20 % bzw. 70 % einen eigenen Computer/Laptop besitzen [19, 20]. Dabei nimmt der Anteil derjenigen, die täglich das Internet nutzen, erwartungsgemäß im Altersgang auf etwa 90 % im Jugendalter zu [19], beträgt jedoch in der Alterskohorte der 6‑ bis 13-Jährigen bereits 27 % [20].

Im Zusammenhang mit digital gestützten gesundheitsbezogenen Informationsangeboten ist unbestritten, dass historisch gesehen ein neuer Optionsraum geöffnet wurde, was für die individuelle Gesundheit im weitesten Sinne eine Reihe ambivalenter Konsequenzen hat. Für das Verhalten in diesem Optionsraum sind spezielle Kompetenzen notwendig wie etwa die digitalen Gesundheitskompetenzen zur Förderung, Aufrechterhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit sowie zur Vermeidung von oder zum Umgang mit Krankheit. Klar ist auch, dass das Internet und die sogenannten sozialen Medien, die mittlerweile ihren Siegeszug vollzogen haben, eine bedeutende Rolle bei der Bereitstellung und auch der Suche von gesundheitsbezogenen Informationen spielen [19,20,21]. Anders als früher ist also im Zeitalter des Internets auch für Kinder und Jugendliche weniger das prinzipielle Problem der Informationsknappheit und Informationsbereitstellung als vielmehr die präzise Informationssuche sowie die angemessene Informationsbewertung und -selektion immanent, wodurch jedoch zur ohnehin komplexen Thematik individueller Gesundheitskompetenz ein weiteres Komplexitätsniveau hinzutritt.

Denn Studien weisen darauf hin, dass nicht nur das Auffinden von Gesundheitsinformationen relevant ist, sondern eben auch die personale Fähigkeit, deren Verlässlichkeit einschätzen zu können. Exemplarisch angeführt werden kann eine Analyse von 140 YouTube-Videos zum Thema Anorexie durch Medizinerinnen und Mediziner, deren Ergebnisse darauf hinweisen, dass etwa 30 % der gesichteten Beiträge eine anorexiaförderliche Ausrichtung aufwiesen (z. B. Anorexia als Mode und Schönheitsideal [22]). Im Vergleich zu den informativen Videos erhielten Proanorexiabeiträge eine dreifach höhere Zustimmung (Klickraten und Likes). Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass bereits im Jahr 2014 bei Umfragen in der Europäischen Union im Rahmen des Flash-Eurobarometers die mangelnde Verlässlichkeit als Hauptgrund für eine geringe Zufriedenheit mit den Ergebnissen der gesundheitsbezogenen Onlinerecherche genannt wurden [23]. In diesem Sinne resümieren auch Paakkari und George [24]:

The ongoing health literacy crisis is not caused by lack of information. … Neither is the crisis about skills required to gain access to information, as was the case in the late twentieth century when information was limited, not easily available and took different forms. Now, in contrast, the internet’s exponential development in a globalized world requires skills to use effectively an abundance of health information and to distinguish between information of varying quality through comparison, classification and assessment of credibility.

Während dieser kritische Hinweis bezüglich der Güte von gesundheitsbezogenen Informationen sicherlich zunächst für die westliche Welt, für Industriestaaten und für Gebiete gilt, die durch das Internet erschlossen sind, müssen für andere Gebiete und Regionen, die vom Internet unerschlossen sind und/oder in denen akute Gesundheitsprobleme andere Maßnahmen erfordern, als durch Informationskompetenzen zu bewältigen wären, differenzierte Lösungsansätze erarbeitet werden. Deutlich scheint für die erstgenannten Länder und Gebiete allemal, dass sich individuelle Gesundheitskompetenzen und (kritische) Medienkompetenzen miteinander verschränken, da die Fähigkeit, (digitale) Medien entsprechend der eigenen Bedürfnisse zu nutzen und mit diesen verantwortungsvoll umzugehen, eine unverzichtbare Voraussetzung darstellt, um deren gesundheitsbezogene Inhalte kritisch-reflexiv erschließen und für die eigene Gesundheit nutzen zu können [25, 26].

Definitionen, Konzeptionalisierung und Verständnis von digitaler Gesundheitskompetenz

Die vorangegangenen Ausführungen belegen zusammengenommen, dass der gesundheitsbezogene Informationszugang über Medien und insbesondere digitale Medien im Kindes- und Jugendalter in den letzten Jahren kontinuierlich an Bedeutung gewonnen haben. Dass Medienkompetenzen eine solch bedeutsame Rolle für die Aufrechterhaltung, Förderung und Wiederherstellung von Gesundheit sowie für gesundheitsbezogenes Verhalten zugesprochen wird, verdeutlicht sich auch an den einschlägigen Definitionsversuchen von digitaler Gesundheitskompetenz (und deren Synonymen). Die am häufigsten verwendeten Definitionen stammen von Eng [27] sowie Norman und Skinner [2]. Eng führt bereits zu Beginn der Health-Literacy-Debatte eine kurze, sehr nahe an gängigen allgemeinen Health-Literacy-Konzepten angelehnte Definition ein, welche digitale Gesundheitskompetenzen bestimmt als die Fähigkeit für die Benutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien, insbesondere internetbasierten Technologien, um die Gesundheit und den Zugang zum Versorgungssystem zu verbessern. [27].

Die bis heute diskursbestimmende Arbeit und auch Definition stammt jedoch von Norman und Skinner, die E‑Health Literacy nicht nur abstrakt bestimmt, sondern auch konkret operationalisiert haben. Sie beschreiben digitale Gesundheitskompetenz als die Fähigkeit zum Suchen, Finden, Verstehen und Bewerten von Gesundheitsinformationen auf der Grundlage digitaler Quellen und das gewonnene Wissen so anzuwenden, um gesundheitliche Herausforderung zu adressieren und Probleme zu lösen [2]. Sie konkretisieren digitale Gesundheitskompetenz weiter und kreieren mit dem Lilienmodell einen bis heute häufig verwendeten Standard in der Bestimmung von digitaler Gesundheitskompetenz. In diesem Modell werden sechs basale analytische und kontextspezifische Fähigkeiten zu einem integrierten Kompetenzmodell angeordnet. Diese sind, wie aus Abb. 1 ersichtlich, zunächst als analytische Komponenten (Dimensionen) definiert: „Traditional Literacy“ (Literalität im Sinne von Alphabetisierung und Grundbildung; Lese- und Rechtschreibkompetenz), die sich auf das formale Bildungsniveau, Lese‑, Rechtschreib- und alltagsmathematische Rechenkompetenzen bezieht, sowie „Information Literacy“ (Informationskompetenz) und „Media Literacy“ (Medienkompetenz), die bereits anwendungsorientierte Kompetenzen bezeichnen, die auf den Umgang mit Informationen und neuen Medien ganz im Sinne der von Baacke [28] definierten Dimension Medienkunde abzielen. Über diese Dimensionen hinaus gehen als kontextspezifische bzw. kontextsensitive Kompetenzen ferner direkte Nutzerkompetenzen ein, die als „Computer Literacy“ (Computerkompetenz) verstanden werden. Stark ist der Einbezug von „Science Literacy“ (Wissenschaftskompetenz), die sich auf ein biopsychosoziales Verständnis von Gesundheit und die Fähigkeit beruft, wissenschaftliche Befunde zu verstehen, zu bewerten und zu interpretieren. Diese Kompetenz ist äußerst voraussetzungsreich gefasst: „For those who do not have the educational experience of exposure to scientific thought, understanding science-based online health information may present a formidable challenge. Science literacy places health research findings in appropriate context, allowing consumers to understand how science is done, the largely incremental process of discovery, and the limitations – and opportunities – that research can present“ [2].

Abb. 1
figure 1

Digitale Gesundheitskompetenz (E-Health Literacy) und zugrunde liegende Fähigkeiten. (Adaptiert nach Lilienmodell von Norman und Skinner, 2006; https://www.jmir.org/2006/2/e9/ [2], © Cameron D Norman, Harvey A Skinner; publiziert unter der CC-BY 2.0 Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

Die letzte Dimension ist Gesundheitskompetenz, die recht orthodox verstanden wird als der Vollzug wohlinformierter individueller Gesundheitsentscheidungen. Das Lilienmodell ist bis heute besonders populär. So führt etwa Bautista [29] aus, dass die Definition von Norman und Skinner die im Kontext von digitaler Gesundheitskompetenz am häufigsten verwendete ist. Allerdings ist das Lilienmodell aber mittlerweile auch substanziell in die Kritik geraten. So wurde zum Beispiel die handlungstheoretische Grundlegung als zu individuumzentriert bemängelt. Insbesondere Gilstad [30] arbeitet die subjektbezogene Verkürzung heraus. Sie schlägt in diesem Zusammenhang vor, weitere Kompetenzen wie kontextbezogene und kommunikative Kompetenzen einzubeziehen, und erweitert das Lilienmodell um den soziokulturellen sowie situationalen Kontext. Gilstad zufolge beeinflussen insbesondere soziale Faktoren wie gesellschaftliche Normen, Glaubenshorizonte und geteilte Vorstellungen und Werte maßgeblich die Nutzung digitaler Gesundheitsangebote.

Gerade die Betonung der sozialen und kulturellen Dimensionen der Technologienutzung hat die Diskussion seit Norman und Skinner weitergeführt und zu einer umfassenderen Definition digitaler Gesundheitskompetenzen beigetragen, die erheblich deutlicher auf die soziale Einbettung individueller Techniknutzung abhebt. Bautista [29; eigene Übersetzung] liefert die folgende bislang umfassendste Definition digitaler Gesundheitskompetenz: „Elektronische Gesundheitskompetenz (E-Health Literacy) umfasst das Zusammenspiel personaler und sozialer Faktoren bei der Nutzung digitaler Technologien im Suchen, Aneignen, Erfassen, Verstehen, Bewerten, Kommunizieren und Anwenden von Gesundheitsinformationen in allen Kontexten der Gesundheitsversorgung mit dem Ziel, die Lebensqualität über die gesamte Lebensdauer hinweg zu erhalten oder zu verbessern.“

Die Betonung der sozialen Einbettung von Techniknutzung ist gerade für eine gesundheitsbezogene Verwendung etwa von Smartphones im Kindes- und Jugendalter aus unserer Sicht besonders bedeutsam, weil sie darauf aufmerksam macht, dass die populäre Vorstellung eines „einsamen Nutzers“ bzw. einer „einsamen Nutzerin“ so nicht stimmt [29, 31, 32]. Zunächst ist die Vorstellung zurückzuweisen, dass das Internet die Bedeutung der Peersozialisation überflügelt, weil eben unter den aktuellen Sozialisationsbedingungen die Peersozialisation von Kindern und Jugendlichen selbst eine immanente digitale Dimension aufweist [3]. Ferner ist die Perspektive des „einsamen Nutzungsverhaltens“ deshalb eingeschränkt, weil die digitale Kommunikation unter Kindern und Jugendlichen oft genug nicht als Ersatz für die Face-to-Face-Kommunikation dient, sondern als ihr selbstverständlicher Bestandteil [33]. Ferner bleibt die individuelle Techniknutzung im Kindes- und Jugendalter notwendig eingebettet in übergreifenden familiale Sozialisationsmuster, die selbst abhängig sind von sozioökonomischen Ressourcen und ethnischen Zugehörigkeiten. So ist es wahrscheinlich, dass im Kindesalter die von den Eltern erlaubte digitale Nutzungszeit innerhalb der Peergroup als Autonomiemaß verhandelt wird und die Frage des frühen eigenen Handybesitzes ein solides Distinktionsmaß darstellt, je nachdem, wer in welchem kindlichen oder jugendlichen Alter mit welcher Generation von Smartphones und welchem allgemeinen Zugriff ausgestattet ist. Die kindliche und jugendliche Distinktionswährung ist die selbstbestimmte, elternunabhängige digitale Techniknutzung. Die Welt der Jugendlichen wiederum ist dermaßen durchdrungen vom Smartphone und der vollständigen Erreichbarkeit [9], dass es begründungsbedürftig ist, sich dem als Jugendlicher entziehen und ein analoges oder zumindest eingeschränkt digitales Leben führen zu wollen.

Digitale Gesundheitskompetenz und das Verhältnis zu sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit

Wie es oftmals der Fall ist, wird mit der Einführung neuer Technologien die Hoffnung auf Verbesserung aktueller sozialer Missstände verbunden oder darauf hingewiesen, dass sich durch die neuesten technischen Entwicklungen die Gräben sozialer Ungleichheiten eher noch vertiefen. In einer umfassenden Literaturrecherche haben wir gefunden, dass sich der Fokus der Frage nach dem Verhältnis sozialer und digitaler Ungleichheiten im Kontext von Gesundheit in den letzten 15 Jahren, zumindest in hochindustrialisierten Ländern, verschoben hat. Bis in die Mitte der 2000er-Jahre wurde noch die Frage nach dem Zugang in den Mittelpunkt digitaler Ungleichheit, gesundheitsbezogen oder nicht gestellt. Die soziale Ungleichheit wurde als ungleicher Zugang zu den Optionsräumen des Internets operationalisiert [32].

Dieser Fokus hat sich mittlerweile deutlich verschoben. Für die Situation der jugendlichen Lebenswelten in Deutschland wurde unter Verweis auf die JIM-Studie bereits ein hohes Ausmaß an digitaler Durchdringung (Verfügbarkeit und Nutzung digitaler Endgeräte) nachgewiesen. Im Kontext digitaler Ungleichheiten (auch als „Wissenskluft“ bzw. „Digital Divide“ bezeichnet [34]) wird deshalb seit Mitte der 2000er-Jahre neben der Frage nach dem Zugang zu Wissen und Information stärker auf die Frage des konkreten Nutzungsverhaltens fokussiert. Ungleichheitsgenerierend ist infolge einer stärkeren Durchdringung nicht nur die mangelnde Verfügbarkeit (First Level Digital Divide), sondern verstärkt die für die Nutzung notwendigen Kompetenzen (Second Level Digital Divide) selbst.

In dieser Richtung kommen ganz unterschiedliche Dimensionen sozialer und in der Konsequenz gesundheitlicher Ungleichheit zur Geltung. Zunächst geht es trotz eines prinzipiell vorhandenen digitalen Zugangs darum, ob Kinder und Jugendliche auch in der Lage sind, den Sinn der Informationen, die sie auf Internetseiten finden, zu begreifen. Kim und Xie [35] zeigen in einer systematischen Literaturarbeit, dass mangelhafte Lesbarkeit und Benutzerfreundlichkeit wesentliche Barrieren für den Zugang und Gebrauch von online angebotenen Gesundheitsinformationen darstellen. Hierbei zeigt sich die Relevanz des formalen Bildungsniveaus (Traditional Literacy) von Kindern und Jugendlichen und damit etwa in Deutschland auch die Frage der schulformspezifischen Effekte auf die digitale Gesundheitskompetenz. Gleichzeitig müssen Internetangebote auch den Bedürfnissen der Zielgruppen angepasst werden, sonst, so zeigt das Präventionsdilemma, bleibt die Inanspruchnahme der Maßnahmen aus, was weitere Ungleichheitseffekte zur Folge haben kann [36]. Darüber hinaus müssen die Angebote nicht nur sozialstrukturelle Passung zu den Zielgruppen haben, sondern auch auf deren Bedeutungs- und Sinnzuschreibungsprozesse reagieren, sodass die dargebotenen Informationen realweltliche Bedeutungen für die Adressatinnen und Adressaten haben [37, 38].

Ungleichheiten können sich paradoxerweise auch aus einem Zuviel der Nutzung digitaler Angebote ergeben. Hier geht es insbesondere um die Zeit, die Kinder und Jugendliche mit dem Spielen digitaler Spiele, mittlerweile in der Regel online und weltweit, verbringen. Das kann auf speziellen Spielekonsolen, die mittlerweile längst mit dem Internet verbunden sind, erfolgen, an einem normalen PC oder Laptop oder auch an einem mittlerweile handelsüblichen internetfähigen Fernseher. Es liegt eine Reihe von Studien vor, welche darauf hinweisen, dass Kinder und Jugendliche mit niedrigem sozialen Status im Durchschnitt deutlich mehr Zeit vor Bildschirmen (Screen Time) verbringen als solche aus Mittel- und Oberschicht (u. a. [39, 40]). Je länger dabei die Bildschirmzeit ausfällt, desto höher ist das Ausmaß körperlicher Inaktivität [41]. Eine besonders intensive Nutzung der digitalen Welt steht ebenfalls im Widerspruch zur anvisierten digitalen Gesundheitskompetenz. So weisen die Ergebnisse epidemiologischer Studien im Kindes- und Jugendalter auf eine Prävalenz gestörten Medienverhaltens von 10–12 %, wobei 1,5–3 % ein abhängiges Verhalten aufweisen [42]. Allerdings muss vor der vorschnellen Anwendung des Klischees eines übermäßigen Konsums digitaler Medien bei Kindern und Jugendlichen der unteren sozialen Klassen gewarnt werden, da es mit einer Reihe von impliziten normativen Vorstellungen vom „guten (gesundheitsorientierten) Leben“ verbunden ist, die höchst problematisch sind [43,44,45]. Auch die verstärkten Bemühungen, Videospiele zur niedrigschwelligen Förderung von Gesundheit einzusetzen, sollten Beachtung finden [46].

Schließlich ist die klassische verteilungsbezogene Ungleichheitsdimension zu nennen, in der es um die sozial ungleiche Verteilung digitaler Gesundheitskompetenzen geht. Hierzu wurde bisher wenig geforscht. Eine der wenigen aufwendigen Studien stammt aus Israel und untersuchte die Media Health Literacy von 11-, 13- und 15-jährigen Kindern und Jugendlichen. Media Health Literacy ist ein Konstrukt, das aus dem Verständnis von Health Literacy nach Nutbeam [47] und dem Konzept Media Literacy zusammengesetzt ist. Im Rahmen der Studie wurde getestet, wie Media Health Literacy mit Dimensionen des Gesundheitsverhaltens korreliert [3]. Dabei ließ sich feststellen, dass Media Health Literacy bei Mädchen stärker ausgeprägt ist als bei Jungen und dass Kinder und Jugendliche mit einer gebildeten Mutter (mehr als 15 Jahre formale Bildung) über mehr Media Health Literacy verfügen. Allerdings ergaben sich, anders als in vielen Studien zur Gesundheitskompetenz im Erwachsenenalter, keine Zusammenhänge zwischen Media Health Literacy und der ethnischen Zugehörigkeit, dem Immigrationsstatus, dem sozioökonomischen Status oder selbst dem Gesundheitsstatus.

Die Messung von digitaler Gesundheitskompetenz

Ungeachtet ihrer Bedeutung liegen zur Messung von digitaler Gesundheitskompetenz aktuell nur wenige Instrumente vor. Zwar konnten Nguyen et al. [48] in ihrer Übersichtsarbeit 109 Instrumente zur Erfassung von Gesundheitskompetenz ermitteln, jedoch beziehen sich diese nahezu ausschließlich auf den nichtdigitalen Kontext. Für die Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen liegen zwei Übersichtsarbeiten vor, welche insgesamt deutlich weniger Verfahren (n = 15–16) und dabei keine spezifischen Instrumente zur digitalen Gesundheitskompetenz identifizieren konnten [49, 50]. Im einzigen uns bekannten Systematisierungsversuch ließen sich acht Instrumente identifizieren, von denen drei Instrumente ausschließlich auf digitale Gesundheitskompetenz ausgerichtet sind und fünf Instrumente Mischkonstrukte aus individueller und digitaler Gesundheitskompetenz darstellen [51]. Davon stellt das „eHEALS“ (E-Health Literacy Scale) das im internationalen Kontext am häufigsten eingesetzte Instrument dar (Tab. 1). Hierbei handelt es sich um eine Operationalisierung des Lilienmodells durch Norman und Skinner [52] mittels acht Items, die auf einer fünfstufigen Antwortskala beantwortet werden können. Mittlerweile liegen zahlreiche Übersetzungen und Validierungsstudien vor, wobei sich in der deutschsprachigen Adaptation entgegen der ursprünglich vorgeschlagenen Eindimensionalität zwei Faktoren (Informationssuche, Informationsbewertung) ableiten lassen [53]. Die Häufigkeit des Einsatzes des eHEALS-Fragebogens steht aus unserer Sicht jedoch kaum in einem sinnvollen Verhältnis zu der mit dem Konzept digitaler Gesundheitskompetenz angeschnittenen Komplexität. Dennoch wird der eHEALS-Fragebogen bis heute als adäquates Instrument zur Messung digitaler Gesundheitskompetenzen eingeschätzt [35].

Tab. 1 Instrumente zur Erfassung der digitalen Gesundheitskompetenz (erweitert nach Karnoe und Kayser [51])

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit finden sich in Tab. 1 noch vier weitere Instrumente zur Erfassung der digitalen Gesundheitskompetenz. Während mit dem PRE-HIT (Patient Readiness to Engage in Health Internet Technology [57]) und dem eHLQ (eHealth Literacy Questionnaire [55]) Verfahren vorliegen, die einen stärkeren Fokus auf Zielgruppen der Gesundheitsversorgung (z. B. Patientinnen und Patienten) aufweisen, zeichnen sich das eHLS (eHealth Literacy Scale [54]) und das DHLI (Digital Health Literacy Instrument [56]) durch ihre zielgruppenübergreifende Ausrichtung aus. Vor allem das jüngst von van der Vaart und Drossaert [56] vorgelegte DHLI ist gegenüber dem eHEALS mit insgesamt 21 Items deutlich umfangreicher. Dabei stehen, neben der „klassischen“ Informationskomponente, Fragen der Interaktion, d. h. der Fähigkeit zur Nutzung und Anwendung, im Vordergrund. Faktoranalytisch ließen sich dabei 7 Dimensionen identifizieren: (1) operative Fähigkeit, (2) Fähigkeit zu Navigation, (3) Informationssuche, (4) Bewertung der Verlässlichkeit, (5) Bestimmung der Relevanz, (6) Inhalt beitragen und (7) Datenschutz. Die Erprobung im deutschsprachigen Raum und für Jugendliche steht bislang noch aus, ist jedoch zumindest teilweise in einem laufenden Projekt der Hochschule Fulda (DiGKS, digitale Gesundheitskompetenz von Schülerinnen und Schülern) vorgesehen.

Obgleich mittlerweile unterschiedliche Screeninginstrumente vorliegen, wird die digitale Gesundheitskompetenz bisher nicht umfassend genug, also in all ihren Einzelkompetenzen abgebildet [35]. Nach unserem Kenntnisstand existiert insbesondere kein Instrument, das die digitalen Gesundheitskompetenzen als soziale Praxis und deren mögliche Verfügbarkeit im sozialen Raum („distributed health literacy“ [58, 59]) hinreichend erfasst, weder bei Erwachsenen noch bei Kindern und Jugendlichen. Das ist insofern problematisch, da, wie bereits angedeutet, die Vorstellung einsamer Techniknutzung mit den kindlichen und jugendlichen Lebenswelten nur sehr bedingt etwas zu tun hat. Dieser Mangel verweist auf ein systematischeres Problem innerhalb der konzeptionellen und empirischen Health-Literacy- und E‑Health-Literacy-Forschung, die mit handlungstheoretischer Grundlegung in aller Regel subjektorientierter Gesundheitsentscheidungen und der implizit verwendeten kognitivistischen Grundierung zu tun hat. In zahlreichen Veröffentlichungen wird darauf hingewiesen, dass für die Messung von Health Literacy bestimmte Kriterien definiert werden sollten, die als theoretische Hilfestellungen für die Entwicklung von Fragebögen herangezogen werden sollten. Hierzu zählen beispielsweise ein zuvor festgelegtes Modell, eine eindeutig zugrunde liegende Definition und realistisch messbare Teilkomponenten [60,61,62]. Auch für Messinstrumente im Kindes- und Jugendalter liegen solche Hinweise bereits vor [46, 63].

Schlussbetrachtung: von der Deskription zur Intervention

Vor dem Hintergrund einer hohen Alltagsdurchdringung und einer täglichen Nutzung von durchschnittlich mehr als drei Stunden [64] spielen digitale Medien auch für gesundheitsbezogene Belange eine zunehmend bedeutsame Rolle. Im Rahmen des Beitrags wurde argumentiert, dass infolge der guten Zugänglichkeit und der Allgegenwärtigkeit von Gesundheitsinformationen ein hohes Ausmaß an individuellen Fähigkeiten gefordert ist, geeignete Informationen auszuwählen und deren Verlässlichkeit einzuschätzen. Hinzu kommt, dass die Mediennutzenden nicht nur passiv rezipieren, sondern auch aktiv an der Generierung und Verbreitung gesundheitsbezogener Informationsinhalte teilhaben sollten. Digitale Gesundheitskompetenz bedeutet in diesem Sinne nicht nur, Botschaften aufzunehmen und zu verarbeiten, sondern schließt die Fähigkeit mit ein, angemessen am multidirektionalen digitalen Kommunikationsgeschehen teilzunehmen. Entsprechende Interaktionskompetenzen sind bislang vergleichsweise selten in der konzeptionell-theoretischen Diskussion vertreten (z. B. [56, 58, 59]). Eine weitere konzeptionelle Unklarheit besteht im Verhältnis zwischen Gesundheitskompetenz und digitaler Gesundheitskompetenz. Wenngleich Gesundheitskompetenz im Lilienmodell eine zentrale Dimension von digitaler Gesundheitskompetenz darstellt, ist die empirische Studienlage zum Zusammenhang beider Konstrukte (in Abhängigkeit von den Instrumenten und Stichproben) bislang heterogen [65, 66].

Ohnehin mangelt es derzeit noch an einer ausreichenden empirischen Basis, um die Ausprägung der digitalen Gesundheitskompetenz insbesondere von Heranwachsenden in Deutschland angemessen abschätzen zu können. Dieser Mangel gilt gleichermaßen für die theoretisch-konzeptionelle Basis, denn der Health-Literacy-Diskurs ist bislang fern davon, ein einheitliches Modell präsentieren zu können. Dies mag sicherlich ein Grund für den aktuellen Mangel an deutschsprachigen Interventionen zur Förderung der digitalen Gesundheitskompetenz sein. Anderseits ist infolge der beschriebenen konzeptionellen Verschränkung zu berücksichtigen, dass im Bereich der Medienkompetenzförderung bereits zahlreiche Aktivitäten unternommen werden. Exemplarisch angeführt werden kann das positiv evaluierte Programm „Medienhelden“, welches auf die Prävention von Cybermobbing und die Förderung von Internet- und Medienkompetenz bei Schülerinnen und Schülern der Klassenstufe 7 bis 10 abzielt [67]. Es bedarf in Zukunft sicherlich mehr Maßnahmen, in denen Medien- und Gesundheitskompetenzen systematisch miteinander verknüpft werden. Hierbei stellt die Schule ein geeignetes Umsetzungssetting dar, dies nicht nur, weil Kinder und Jugendliche aufgrund der Schulpflicht dort einen hohen Anteil ihres Tages verbringen, sondern vor allem, weil mit der Strategie „Bildung in der digitalen Welt“ ein Kompetenzrahmen mit 6 übergeordneten Kompetenzbereichen und 22 dazugehörigen Kategorien durch die Kultusministerkonferenz verabschiedet wurde [18]. Dieser stellt eine wichtige Referenz dar, an der sich auch Maßnahmen zur Stärkung von digitaler Gesundheitskompetenz ausrichten sollten, um nachhaltig Eingang in das Setting Schule zu finden. Dabei sollte im Sinne der ganzheitlichen Ausrichtung des Konzepts die strukturelle Dimension nicht unberücksichtigt bleiben. Gerade im schulischen Kontext gehört neben der Verbesserung der infrastrukturellen Rahmenbedingungen (u. a. durch den DigitalPakt Schule von Bund und Ländern [68]) ebenfalls die Förderung von Medienkompetenzen bei Lehrkräften und weiteren Fachkräften dazu. Auch hierfür liegt mit dem European Framework for the Digital Competence of Educators ein erster Rahmen vor [69].