Psychische Störungen sind Volkskrankheiten. Daten der DEGS1-Studie des Robert Koch-Instituts gehen übereinstimmend mit früheren Erhebungen davon aus, dass ein Viertel bis ein Drittel der Erwachsenen in Deutschland im Laufe eines Jahres eine klinisch relevante psychische Störung aufweist. Besonders Angststörungen, affektive und somatoforme Störungen sind quantitativ von Bedeutung. Daten der Krankenkassen zur administrativen Prävalenz bestätigen diese Größenordnung. Bei Kindern und Jugendlichen werden aus der KiGGS-Studie des Robert Koch-Instituts vergleichbare Prävalenzen berichtet.

Dementsprechend groß ist der Versorgungsbedarf. Dieser Bedarf ist in den letzten 20 Jahren durch eine zumindest partielle Enttabuisierung des Themas, den Ausbau der ambulanten Versorgung und damit verbunden eine bessere Diagnostik immer mehr auch als Nachfrage nach Versorgung manifest geworden. Während die Häufigkeit psychischer Störungen sehr wahrscheinlich nicht zugenommen hat, zeigt sich in allen Versorgungsbereichen, von der ambulant-ärztlichen Versorgung über die stationären Fallzahlen bis hin zu den krankheitsbedingten Frühberentungen, eine deutliche Zunahme der Fallzahlen infolge psychischer Störungen. Bei den krankheitsbedingten Frühberentungen haben diese schon vor einigen Jahren die Muskel-Skelett-Erkrankungen als häufigste Diagnosegruppe abgelöst und unter den Krankschreibungen bei Beschäftigten machen psychische Störungen inzwischen einen Anteil von 10–15 % je nach Kassenart aus. Hinzu kommt ein steigender Bedarf an psychosozialen und psychotherapeutischen Hilfen bei somatischen Erkrankungen. Die Psychoonkologie ist dafür der „Modellfall“, aber vergleichbare Bedarfe gibt es auch bei anderen körperlichen Erkrankungen, die psychosozialer oder psychotherapeutischer Begleitung bedürfen, von Herz-Kreislauf-Erkrankungen über chronische Schmerzsyndrome bis zu endokrinologischen Erkrankungen wie Diabetes mellitus.

Das Versorgungssystem ist auf diese Situation nicht ausreichend gut vorbereitet. Schon die Übersetzung von psychischen Auffälligkeiten in Diagnosen und nachfolgend in einen adäquaten Behandlungsbedarf ist nicht trivial. Im ambulanten Bereich, in dem die ganz überwiegende Zahl der Fälle versorgt wird, wird ein großer Teil der Betroffenen zwar von Hausärzten und Kinderärzten gesehen, aber nicht immer leitliniengerecht versorgt. Bei den Depressionen zeigen Analysen von Daten der kassenärztlichen Versorgung beispielsweise immer wieder, dass die Mehrzahl der Fälle medikamentös, nicht psychotherapeutisch, behandelt wird. Dies ist kein Wunder: Der Wartezeitenstudie 2018 der Bundespsychotherapeutenkammer zufolge beträgt die Wartezeit auf einen Therapieplatz für eine Richtlinienpsychotherapie fast 20 Wochen. Selbst auf eine Akutbehandlung müssen die Patienten drei Wochen warten, auf eine psychotherapeutische Sprechstunde, die den weiteren Versorgungsweg bahnen soll, fast sechs Wochen. Die Folge sind u. a. vermeidbare Krankenhausfälle bei psychischen Störungen bzw. Lücken im Anschluss an eine stationäre Behandlung. Dabei steigt die Zahl der Psychotherapeuten seit Jahren kontinuierlich an, mit der Nachfrage hält sie jedoch nicht mit. Die regionale Verteilung der Therapeuten ist sehr ungleich, ebenso ihre Auslastung.

Die Versorgungsstrukturen sind auf allen Ebenen zu überdenken. Das beginnt bei der Bedarfsplanung im ambulanten Bereich, setzt sich fort beim Zusammenspiel von ärztlich-psychotherapeutischen und komplementären Angeboten – etwa den Beratungsstellen und Krisendiensten, bei den Defiziten im teilstationären Bereich, den Ungleichgewichten zwischen Psychiatrie und Psychosomatik im stationären Bereich – und reicht bis zur bedarfsgerechten Steuerung der Patienten im Versorgungssystem. Eine solche Steuerung ist überfällig, aber alles andere als einfach zu bewerkstelligen. Zu Recht wird kritisiert, dass eine Diskriminierung gerade von Menschen mit psychischen Störungen durch neue Zugangshürden zur Versorgung zu vermeiden ist, allerdings fehlen in dieser Kritik meist Antworten auf die Frage nach einer Unterstützung der Betroffenen auf ihrem Weg ins System und durch das System.

Die systemischen Mängel in der Versorgung führen zwangsläufig zu Qualitätsproblemen bei den Outcomes. Die Suizidraten sind in Deutschland noch immer hoch. In den letzten Jahren gingen sie zudem nicht mehr zurück, sondern stagnierten. Bei manchen Störungsbildern sind „Drehtür“-Phänomene häufige Verlaufsformen, in manchen Regionen Zwangsunterbringungen unnötig häufig. Zwar gibt es in den meisten Bundesländern psychosoziale Arbeitsgemeinschaften und vergleichbare Steuerungsgremien, die die örtliche Versorgung beobachten und Defizite aufgreifen sollen, aber diese Gremien haben in der Regel keine Entscheidungskompetenzen und die Verbindung zum medizinisch-psychotherapeutischen System ist unzureichend.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hat in seinem Gutachten 2018 auch die Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen kommentiert. Ausdrücklich weist er auf unklare Zuständigkeiten für die Koordinierung der Versorgung im ambulanten Bereich hin. Der Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen deckt hier nur Teile ab. Der Rat empfiehlt neben einem Ausbau der ambulanten und teilstationären Kapazitäten daher insbesondere eine klare Koordinationsverantwortung für die Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen, „möglicherweise bei einem bestimmten Leistungserbringer je Patient“, und er spricht auch die Notwendigkeit an, den Koordinationsaufwand durch eine „angemessene Koordinationspauschale“ zu vergüten. Auch die gemeindepsychiatrische Perspektive will er gestärkt sehen und regt an, „psychiatrisch-psychosomatisch-psychotherapeutische Angebote verstärkt in lokale Gesundheitszentren ... oder Zentren für seelische Gesundheit, die auch mit Sozialarbeitern und psychiatrisch Fachpflegenden ausgestattet sind, zu integrieren“.

Koordination, Vernetzung und Integration sind daher Schüsselbegriffe einer Weiterentwicklung der Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen. Das vorliegende Heft greift diese Perspektive auf. Es beginnt mit einem Rückblick auf die Entwicklung der Versorgungslandschaft seit der Psychiatrieenquete 1975 und der Frage, wie die Nichtpassung aus verbesserten Angebotskapazitäten und Versorgungsbedarf zu erklären ist. Daran anschließend werden exemplarisch zielgruppenspezifische Formen einer vernetzen Versorgung vorgestellt. Den Abschluss des Heftes bilden zwei perspektivisch orientierte Beiträge.

Das Bundesministerium für Gesundheit begann einen „Dialog zur Weiterentwicklung der Hilfen für psychisch erkrankte Menschen“. In den nächsten drei Jahren soll in lebendigem Dialog um Strategien gerungen werden, wie die Versorgung psychisch kranker Menschen in Deutschland, zumindest auf der Basis des Sozialgesetzbuches V, weitergestaltet werden kann. Auch dafür soll das Heft eine Anregung sein.

Wir danken allen Autoren, die unserer Einladung gefolgt sind, mit ihrem Beitrag zum Schwerpunktheft beizutragen und wünschen den Lesern eine hoffentlich spannende Lektüre. Über Rückmeldungen freuen wir uns.

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Dr. Joseph Kuhn

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Prof. Dr. Peter Brieger

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Prof. Dr. med. Dr. phil. Dipl. Psych. Martin Härter