Im Jahr 2002 wurde das erste Mal in einem Schwerpunktheft des Bundesgesundheitsblattes die Rolle des „Patienten als Partner“ thematisiert. Vor genau 10 Jahren war „die Selbsthilfe“ schon so weit ausdifferenziert, dass in dem zweiten Schwerpunktheft zu diesem Thema (1/2009) mehr als das Doppelte der Beiträge (nämlich 14) nötig waren, um das Feld zu sondieren. In beiden Heften ging es um viele Facetten zum Thema: Grundlagenforschung zu Selbsthilfegruppen, Beteiligung von Patienten im Gesundheitswesen, Kooperation mit ihnen, ihr Beitrag zur Qualitätsentwicklung in der Krankenversorgung, finanzielle Förderung und praktische Unterstützung sowie Integration der Selbsthilfe in die Steuerungs- und Managementstrukturen. Bei all diesen Themen ging es auch immer wieder um den Aspekt der stärkeren Patientenorientierung im Gesundheitswesen.

Da die Entwicklung in vielfältiger Weise – wissenschaftlich, politisch und praktisch –weitergegangen ist, lohnt es sich, einen neuen Blick auf das Feld zu werfen und dabei auch (in diesem Heft zum ersten Mal) über den eigenen Tellerrand in andere Länder zu schauen.

Einige Meilensteine, die den Boden bilden für den heutigen Entwicklungsstand, sollen an dieser Stelle noch einmal in Erinnerung gerufen werden. Seit 1967 gibt es die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe (BAG SELBSTHILFE), den Dachverband der 115 Bundesorganisationen der Selbsthilfe, in denen 1,2 Mio. Mitglieder zusammengeschlossen sind. Im Rahmen der sogenannten Selbsthilfebewegung in den 1970er-Jahren entstanden zahlreiche Selbsthilfegruppen vor Ort, die heute auf ca. 100.000 geschätzt werden, mit ca. 3–3,5 Mio. Mitgliedern. 1982 gründete sich die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e. V., ein Fachverband zur Unterstützung der Selbsthilfegruppen; 1984 folgte die Nationale Kontakt- und Informationsstelle zu Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS), die ca. 300 lokale Selbsthilfe‑, Kontakt- und Unterstützungsstellen in ihrer Arbeit begleitet und fördert.

Die Phase, in der Selbsthilfe als Gegenmacht zur ärztlichen Profession oder sogar als Konkurrenz thematisiert wurde, war schon ab Mitte der Achtzigerjahre, nach Abschluss der ersten großen Forschungsprojekte, obsolet. Seit dieser Zeit wird die Selbsthilfe als Ergänzung und als Kooperationspartner im Gesundheitssystem verstanden. Sie war zu Beginn jedoch kaum strukturiert und nur an wenigen Orten in die Praxis umgesetzt worden. Schon früh (seit Anfang der 1990er-Jahre) wurden Selbsthilfegruppen dann aber durch einige Kooperationsstellen für Selbsthilfegruppen und Ärzte/Psychotherapeuten der Kassenärztlichen Vereinigungen (KOSAs) unterstützt.

1993 wurde es den Krankenkassen ermöglicht, die gesundheitsbezogene Selbsthilfe mit 1 DM pro Versicherten zu fördern („Kann-Regelung“). 2004 ist dies zu einer „Soll-Regelung“ geworden; das verfügbare Volumen wurde jedoch nie vollständig an die Selbsthilfe ausgeschüttet. Seit 2008 sind die Krankenkassen verpflichtet, alle Mittel zur Förderung voll auszuschöpfen. Seit dem Inkrafttreten des Präventionsgesetzes im Jahr 2016 sind 1,05 € pro gesetzlich Versichertem als Pflichtbeitrag durch die Krankenkassen zu leisten.

Für diese Entwicklung war der Boden schon 1999 durch Beschlüsse der 72. Gesundheitsministerkonferenz in Trier bereitet worden. Diese Beschlüsse waren auch der erste Schritt dazu, die Patienten auf Bundesebene in Entscheidungsgremien des Gesundheitssystems zu integrieren: Seit 2004 haben legitimierte Vertreter der Betroffenenorganisationen und der Selbsthilfeunterstützung wie auch der Patientenberatung gemäß §140f des SGB V das Recht, in den Gremien des gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) angehört zu werden und mit zu beraten (nicht allerdings mit zu entscheiden).

Während die Beteiligung der Selbsthilfevereinigungen auf der Bundesebene gesetzlich geregelt ist, gibt es auf der Ebene einzelner Gesundheitseinrichtungen keine Vorgaben für Beteiligung. Interessant ist daher, dass es inzwischen das Konzept der „Selbsthilfefreundlichkeit“ für Krankenhäuser und andere Einrichtungen gibt, das Beteiligungsaspekte als Qualitätskriterien vorsieht und sich inzwischen auch in einigen benachbarten Ländern verbreitet.

Die ersten drei Beiträge dieses Themenheftes stützen sich auf Ergebnisse einer gerade abgeschlossenen großen empirischen Untersuchung zum Thema: „Gesundheitsbezogene Selbsthilfe in Deutschland – Entwicklungen, Wirkungen, Perspektiven (SHILD)“.

C. Kofahl analysiert den Einfluss eines veränderten Rollenverständnisses von Selbsthilfe auf die Entwicklung von Patientenorientierung und Patientenbeteiligung. Selbsthilfeaktive wirken inzwischen als Patientenvertreter in vielen Landes- und Bundesgremien mit. Exemplarisch sei hier auf den genannten Gemeinsamen Bundesausschuss verwiesen. Der Beitrag geht insbesondere der Frage nach, mit welchen Aktivitäten Selbsthilfe und Selbsthilfeorganisationen die Integration der gesundheitsbezogenen Selbsthilfe in die Strukturen des Gesundheitssystems vorantreiben.

S. Nickel et al. untersuchen die Wirkungen der Selbsthilfe auf der individuellen Ebene von Patienten und Angehörigen. Präsentiert werden Ergebnisse eines Vergleichs zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern von Selbsthilfegruppen in Bezug auf die Bereiche Selbstmanagement und Wissenserwerb. Dabei zeigen sich für die Mitglieder Vorteile im Gesundheitswissen wie auch in Hinblick auf soziale Teilhabe, psychosoziale Entlastung und Krankheitsbewältigung.

M.-L. Dierks und C. Kofahl berichten Ergebnisse zur Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung. Dabei zeigen sich erhebliche Defizite beim Auffinden von relevanten Gesundheitsinformationen. Ein nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz soll hier Verbesserungen bewirken.

Die nachfolgenden drei Beiträge beziehen sich auf neue Herausforderungen der Selbsthilfe.

M. Danner, N. Schmacke diskutieren mögliche Rollenkonflikte innerhalb der Selbsthilfe, wenn Selbsthilfeverbände in wichtigen Gremien des Gesundheitswesens die Patientenvertretung übernehmen. Die Autoren stellen die Frage, ob die Selbsthilfe ihre traditionellen Arbeitsformen aufgeben muss, um als professionell handelnder Player in den Diskursen der Gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen auftreten zu können.

Auch J. Hundertmark-Mayser, U. Helms verweisen darauf, dass aus der Schaffung von 300 Selbsthilfekontaktstellen in Deutschland eine stärkere Einbindung der Selbsthilfe in das Gesundheitswesen und ein verändertes Aufgabenspektrum resultiert. Weitere Veränderungen ergeben sich durch die demografische Entwicklung und die fortschreitende Digitalisierung. Der Beitrag diskutiert, wie und unter welchen Bedingungen diese neue Positionierung über die Selbsthilfekontaktstellen gelingt.

Beim Beitrag von A. Trojan steht das Konzept der Selbsthilfefreundlichkeit von medizinischen Institutionen im Mittelpunkt. Gemeint ist damit die an Qualitätskriterien orientierte, institutionalisierte und längerfristig angelegte Zusammenarbeit von Einrichtungen der Gesundheitsversorgung mit der Selbsthilfe. Der Autor prüft, wie weit Kriterien der guten Zusammenarbeit mit der Selbsthilfe in die wichtigsten Qualitätsmanagementsysteme Eingang gefunden haben.

E. M. Castro, P. Gielen, C. van Wanseele beschreiben die aktuelle Situation der Selbsthilfe in der belgischen Region Flandern. Sie schildern deren Entwicklung während der letzten 3 Jahrzehnte und die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Beteiligung von Patientenvereinen auf Mikro‑, Meso- und Makroebene. Auf dieser Basis diskutieren die Autoren die Entwicklungsperspektiven der Selbsthilfe in Flandern.

R. Forster, D. Rojatz stellen die Entwicklung von Selbsthilfe in Österreich dar. Sie zeigen, dass auch hier Selbsthilfeorganisationen zunehmend als Partner von Gesundheitseinrichtungen akzeptiert und in politische Entscheidungen eingebunden werden. Die Autoren verweisen mit Blick auf die Vergangenheit auf eine unzureichende finanzielle Förderung auf Bundesebene und auf ungünstige Rahmenbedingungen für kollektive Patientenbeteiligung. Erst in den letzten Jahren entstanden systematische Ansätze zur Förderung von Selbsthilfeaktivitäten auf Landes- und Bundesebene.

L. M. Lanfranconi, F. Berger, J. Stremlow beschreiben Ergebnisse einer aktuellen gesamtschweizerischen Studie zur gemeinschaftlichen Selbsthilfe. Diese zeigen, dass in der Schweiz Selbsthilfeförderung vor allem durch die regionalen Selbsthilfezentren organisiert wird. Auffallend sind große regionale Unterschiede bezüglich der personellen und finanziellen Ausstattung. Auf der nationalen Ebene sehen die Autoren einen erheblichen Entwicklungsbedarf in Bezug auf die gesetzlichen Grundlagen, die nationale Finanzierung und in Hinblick auf Initiativen zur Stärkung der Selbsthilfefreundlichkeit.

Wir wünschen den Lesern dieses Heftes eine spannende Lektüre der Beiträge.

Ihre

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Alf Trojan

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Uwe Koch-Gromus