Medizinische und kommunikative Herausforderung

Ärzte und besonders Kinderärzte in Klinik und niedergelassener Praxis werden häufig als erste Professionelle mit dem Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung konfrontiert. Der Begriff der Kindeswohlgefährdung aus dem Kinder- und Jugendhilferecht (SGB VIII) umfasst als Oberbegriff den sexuellen Missbrauch, die körperliche Misshandlung, die (chronische) Vernachlässigung sowie das seltene, aber folgenschwere Münchhausen-by-Proxy-Syndrom (synonym: artifizielle Störung by Proxy; [1,2,3,4,5,6,7]). Den medizinischen Professionen insgesamt und dabei besonders der Kinderheilkunde kommt somit eine Schlüsselrolle für die frühzeitige Befundsicherung, Verdachtsabklärung und Weichenstellung für das weitere interdisziplinäre Prozedere zu. Bei innerfamiliärer Kindeswohlgefährdung ergeben sich für den Kinderarzt auffällige Verdachtshinweise bei misshandlungstypischen Anzeichen ohne eine schlüssige Erklärung zu deren Genese, bei mehrzeitigen Schädigungsmustern, bei verzögerter, nicht plausibel begründeter Arztkonsultation sowie bei Zufallsbefunden, die erst auf Nachfrage zögerlich und ausweichend kommentiert werden. Das Prozedere zu Eingrenzung versus Ausschluss eines entsprechenden Verdachts stellt eine besondere fachlich-medizinische wie kommunikative und nicht zuletzt auch emotionale Herausforderung dar [8,9,10]. Die Erstdiagnostik umfasst sowohl eine gezielte medizinisch-pädiatrische Untersuchung und Dokumentation als auch die Exploration der Bezugspersonen sowie des Kindes.

Im vorliegenden Beitrag liegt der Fokus auf der Durchführung einer Exploration des Kindes mit dem Ziel der Gewinnung möglichst differenzierter, valider, glaubwürdiger und gerichtsfester Aussagen. Die Validität der Befragungsergebnisse und damit auch deren Gerichtsfestigkeit ist jedoch vielfachen Risiken der Verzerrung und Suggestion sowohl aufseiten des Kindes wie aufseiten des Befragenden ausgesetzt. Die Kenntnis und Reflexion solcher Verfälschungstendenzen ist für eine Qualitätssicherung verwertbarer Befunde enorm wichtig.

Übergeordnete Strategie der diagnostischen Abklärung

Strukturierung des medizinischen Vorgehens

Zur Strukturierung und Qualitätssicherung der körperlichen Untersuchung und Anamnese empfiehlt sich die Verwendung etablierter Dokumentationsbögen ([3]; www.dgkim.de; www.KinderSchutzGruppe.de; www.Kindesmisshandlung.de; www.kinderschutzleitlinie.de):

  • Dokumentationsschema bei V. a. nichtakzidentelles Trauma (Teil A: Anamnese; Teil B: Untersuchung),

  • kinder-/jugendgynäkologischer Untersuchungsbefund (Kurzfassung, z. B. für Nachtdienst),

  • Forensikbogen bei V. a. akuten sexuellen Missbrauch.

Risiken einer Über- wie Unterdiagnose sind gegeneinander abzuwägen [3]. Es gilt, einerseits möglichst alle tatsächlichen Missbrauchsfälle zu identifizieren (Sensitivität) und andererseits falsche Beschuldigungen auszuschließen (Spezifität). Eine objektiv vorliegende Kindeswohlgefährdung nicht zu diagnostizieren (falsch-negative Befundung) enthält ebenso gravierende Folgerisiken wie beispielsweise die Herausnahme eines Kindes aus einer objektiv intakten Familie (falsch-positive Befundung).

In einem diagnostisch sensitiven Zeitfenster müssen spezifische Befunde rechtzeitig asserviert (z. B. Spermaspuren) bzw. dokumentiert werden (z. B. Hämatome). Bei unklarer Befundlage hat es sich bewährt, nicht übereilt vorzugehen und bei der Interpretation der Befunde und Einleitung nächster Schritte zunächst weitere kollegiale Beratung einzuholen. Das Bundeskinderschutzgesetz hat noch einmal herausgestellt, dass der Schutz des Kindeswohles in schweren Verdachtsfällen als höherrangiges Rechtsgut Vorrang vor der ärztlichen Schweigepflicht genießt (KKG § 4). Der Arzt kann also in aller Regel auf rechtlich sicherem Boden gegenüber dem Jugendamt Mitteilung machen. Natürlich kann kollegiale Beratung immer auch anonymisiert mit Schilderung aller klinischen Details, aber ohne Nennung des Namens erfolgen.

Das diagnostische Rationale gründet sich auf drei Untersuchungsschritte [3]:

  1. 1.

    Befunde aus medizinischer (radiologischer, gynäkologischer, laborchemischer etc.) Diagnostik und klinischer Untersuchung,

  2. 2.

    Anamnese und Exploration von Eltern und betroffenen Kindern, ggf. weiteren Bezugspersonen bzw. Zeugen,

  3. 3.

    Prüfung auf Konsistenz zwischen

    1. a.

      medizinischen Befunden und präsentierter Vorgeschichte zur vermeintlichen Symptomgenese,

    2. b.

      unterschiedlichen Aussagen zur Symptomgenese und Vorgeschichte aus mehreren Quellen, z. B. Vater vs. Mutter vs. Kind vs. Geschwister vs. weiteren Zeugen (z. B. Kindergärtnerinnen) vs. mutmaßlicher Täter vs. dessen Angehörigen.

Die übergeordnete diagnostische Aufgabe im medizinischen Kinderschutz richtet sich folglich darauf, die Informationen aus körperlicher Befundung und unterschiedlichen Befragungsquellen auf logische und medizinische Konsistenz abzuprüfen. Vor allem, wenn sich der Verdacht auf eine Schädigung des Kindes im familiären Kontext richtet, steht die Hypothesenprüfung im Mittelpunkt: Passt die angebotene Schilderung der Eltern widerspruchsfrei zu den medizinischen Befunden und zu den Ergebnissen einer Befragung des Kindes? In vielen Fällen bleiben medizinische Untersuchungsbefunde unspezifisch und sind mit verschiedenen Geschehensabläufen vereinbar. Sie alleine liefern keine Eindeutigkeit bei der Beurteilung der Schädigungsgenese. Bei der Abgrenzung zwischen akzidentieller und nichtakzidentieller Genese kann der Exploration des Kindes eine wegweisende diagnostische Spezifität und Wertigkeit zukommen. Bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch, aber auch bei körperlicher Misshandlung existieren neben dem mutmaßlichen Täter und dem betroffenen Kind oft keine weiteren Zeugen. In anderen Konstellationen weiß ein Elternteil zwar um die Schädigung des Kindes durch den anderen Elternteil, ist aber nicht zu einer Aussage bereit, um den Partner und den Familienzusammenhalt zu schützen.

Differenzialdiagnose artifizielle Störungen

Neben genuinen („echten“) Erkrankungen sind unklare körperliche Schädigungen infolge einer Misshandlung in manchen Fällen auch von Selbstbeschädigungen im Rahmen einer artifiziellen Störung (synonym: Münchhausen-Syndrom) abzugrenzen. Dabei bringt die jugendliche oder meistens erwachsene Person sich die Verletzung selbst bei. Im Kindes- und Jugendalter findet sich zusätzlich die Konstellation der artifiziellen Störung by Proxy (synonym: Münchhausen-by-Proxy-Syndrom), bei der eine nahestehende Bezugsperson, in der Regel die Mutter, die Symptomatik fabriziert, um so stellvertretend über die vorgetäuschte Erkrankung die Mitaufnahme in ein Krankenhaus und damit eine begleitende Krankenrolle einnehmen zu können. Beide Formen der artifiziellen Störung sind sehr selten. Wie bei einer körperlichen Misshandlung kann auch hier keine organmedizinische Erkrankung als Ursache für die Symptomatik diagnostiziert werden. Die artifizielle Störung by Proxy stellt eine eigenständige und sehr gravierende Form der Kindesmisshandlung dar und weist Gemeinsamkeiten mit anderen Misshandlungsformen auf. Dazu zählen die aktive Verletzung des Kindes aus eigenen Motivlagen, falsche Angaben bei der Anamneseerhebung und eine schwierige pädiatrische Abgrenzbarkeit der präsentierten Symptomatik [4, 11].

Risiken der Aussageverfälschung beim Kind

Unterschiedliche Bedingungsfaktoren

Der Bericht des Kindes im Rahmen einer Exploration bei Kindeswohlgefährdung ist keine einfache Spiegelung des realen Geschehensablaufes. Perzeptive, gedächtnisbezogene, kognitive, emotionale und motivationale Prozesse modulieren den Bericht des Kindes und können dessen objektiven Wahrheitsgehalt verzerren [9]. Unterschiedliche Bedingungsfaktoren können zugrunde liegen und sich ergänzen: Das Kind …

  • kann sich einfach nicht detailliert an die Geschehnisse erinnern bzw. die Erinnerungen nicht korrekt abrufen bzw. versprachlichen (entwicklungsneuropsychologische und aussagepsychologische Bedingungsfaktoren).

  • hat in der akuten Misshandlungssituation spontan dissoziative Bewältigungsmechanismen (Ausblenden, Abspalten) angewendet, um die Wucht des Erlebten erträglicher zu machen, die aber wiederum die Abspeicherung im Gedächtnis verzerren (Bedingungsfaktoren der traumatischen Stress- und Affektregulation in der akuten Episode).

  • passt später im Nachgang zu der Misshandlungsepisode seine Interpretation und Bedeutungsgebung motivational an andere Bedürfnisse an (z. B. Bagatellisieren des Übergriffs oder Schuld gegen sich selbst wenden, um so den gewalttätigen Vater zu schützen; Bedingungsfaktoren des Coping und der Motivation).

Verzerrungseffekte im Rahmen der psychischen Verarbeitung der Schädigung

Ein Kind ist existenziell auf seine Eltern oder Pflegepersonen angewiesen. Gewaltsame oder sexualisierte Übergriffe durch diese Personen stehen in fundamentalem Widerspruch zu dieser Abhängigkeitsbeziehung und den Bindungsbedürfnissen des Kindes. Ein Kind kann die widersprüchliche Erfahrung, von derselben Person in manchen Momenten verletzt, instrumentalisiert und ausgebeutet zu werden und in anderen Momenten Unterstützung und Zuwendung zu erfahren, kognitiv wie emotional nicht in ein kohärentes, stimmiges, Sicherheit und stabile Bindung vermittelndes Elternbild integrieren („Ist mein Papa im Grunde böse oder lieb zu mir?“). Einen schädigenden Elternteil zu „verraten“ kann mit dem Verlust der Liebe, dem Verlust der Beziehung, der Auflösung der Familie und letztlich dem eigenen existenziellen Untergang assoziiert werden [12].

Um solche Widersprüchlichkeiten für sich aufzulösen, mag das Kind das Ausmaß der erlittenen Gewalt und damit verbundener negativer Gedanken und Gefühle herunterspielen, um das Gefühl einer sicheren Bindung bewahren zu können. Typisch für solche motivational und emotional getriebenen Bewältigungsstrategien ist die „Identifikation mit dem Aggressor“ bei körperlicher Misshandlung („Ich kann verstehen, dass Papa mich geschlagen hat. Schließlich hatte ich ihn vorher geärgert. Ich bin selber schuld, nicht er“). Solche Bewältigungsstrategien erfüllen – häufig vordergründig sehr wirkungsvoll – die Funktion, die Beziehung zum misshandelnden Elternteil zu schützen und die eigene Angst vor Verlust der Elternbeziehung zu lindern. Ein Verständnis solcher Funktionen und Mechanismen kann die Veränderungsresistenz solcher objektiv verzerrten Aussagen nachvollziehbar machen. Dies kann so weit gehen, dass manche Kinder auch deutlichen Widerstand gegen die von Professionellen gezeigte Empathie in ihr Leiden zeigen, denn dies würde die elterlichen Missetaten bestätigen und die eigene Angst steigern und nicht lindern.

Mit Blick auf die Exploration des Kindes bei der Abklärung einer Kindeswohlgefährdung ist es bedeutsam, dass die Aussagen des Kindes immer eine schwer auflösbare Einheit von Anteilen einer Schilderung des objektiven Geschehensablaufs und Anteilen seiner subjektiven Bewältigungsreaktion und Affektregulation darstellen.

Abschätzung der Konsequenzen der eigenen Aussagen und Loyalitätskonflikte

Im unmittelbaren Vorfeld der Befragung entwickeln insbesondere ältere Kinder und Jugendliche Phantasien und Erwartungen über die weitere Verwendung ihrer Angaben durch den Interviewer. Ein freimütig sprechendes Kind mag hoffnungsvoll die Erwartung hegen, dass ein Brechen seines bisherigen Schweigens die Kette von Misshandlungen und sein Leiden beenden kann. Ein schweigsames, ausweichendes Kind mag befürchten, seine Eltern zu belasten und damit „durch eigene Schuld“ die Familie durch seine Aussagen auseinanderzureißen.

Manche Kinder sind vor der Befragung mit Andeutungen oder deutlichen Instruktionen und Drohungen auf eine bestimmte „Sprachregelung“ eingeschworen worden. Manchen wird ein Schweigeversprechen abgenommen. Kinder, die vor der eigenen Exploration die Befragung der Eltern beobachtet haben, mögen dieser Schilderung folgen. Sie fürchten von deren Version nicht abweichen zu dürfen, ohne damit die Eltern dem Vorwurf der Lüge und Täuschung auszusetzen. Grundsätzlich besteht bei wiederholten Befragungen immer ein hohes Risiko, dass die erste angebotene Schilderung immer wieder reproduziert wird, um konsistent mit den eigenen Vorberichten bzw. denen der Bezugspersonen zu bleiben. Die Aufgabe des Interviewers kann hier darin liegen, gesichtswahrende Brücken zu bauen, die eine veränderte Aussage ermöglichen, ohne dadurch in das Licht einer vorherigen Falschaussage zu geraten.

Risiken der Aussagenverfälschung beim Interviewer

Emotional-motivationale Voreingenommenheit

Emotionale Betroffenheit und Identifikation mit dem Kind können den Interviewer verleiten, Hinweise, die den mutmaßlichen Täter entlasten könnten, zu übersehen, auszublenden, umzuinterpretieren, nicht angemessen detailliert zu explorieren bzw. bei der Gesamtbeurteilung nicht angemessen zu gewichten [10].

Ein emotional-motivationaler Bias kann natürlich auch in die umgekehrte Richtung wirksam werden, etwa wenn der Interviewer glaubt, dass eine innerfamiliäre Kindeswohlgefährdung seinem Bild von der Familie widerspricht. Der Interviewer mag sich für den Fall einer Verdachtsbestätigung den Herausforderungen und Verantwortlichkeiten des weiteren Prozederes nicht gewachsen fühlen, sodass er implizit hofft, dass sich der Verdacht in Luft auflösen möge. Entsprechend verarbeitet er Hinweise selektiv. In der Konsequenz drohen Bagatellisierung, Beschwichtigung und Delegation von Verdachtshinweisen („Ich weiß nicht, wie ich mit diesen Verdachtsmomenten jetzt weiter verfahren soll. Ich fühle mich überfordert und habe Angst, etwas falsch zu machen. Die Familie ist wegen der Scheidung und des Sorgerechtsstreits ohnehin schon beim Jugendamt. Da halte ich mich jetzt am besten raus!“).

Bei einer jahrelang gewachsenen Beziehung zur Patientenfamilie mag der Interviewer Sorge haben, sein implizit gezeigtes Misstrauen legitimieren zu müssen, falls er bei der Befragung intensiv und konfrontativ nachfasst [1]. Er fürchtet sich vor dem Vorwurf einer inquisitorischen Befragung empörter Eltern. Auch kann die Sorge aufkommen, durch eine insistierende Befragung den Eltern ein Alibi zu liefern, die Untersuchungssituation empört abzubrechen und den Arzt zu wechseln. In beiden Konstellationen ist der Untersucher gefordert, eigene Vermeidungstendenzen bewusst wahrzunehmen, zu reflektieren und auf der Verhaltensebene zu kontrollieren.

Kognitive Verzerrungen

Neben solchen emotionalen und motivationalen Gründen können sich auch perzeptive und kognitionspsychologische Verzerrungen aufseiten des Untersuchers ergeben. Beispiele:

Tendenz zur Selbstbestätigung.

Das Kind wird selektiv so befragt, dass möglichst die schon vorbestehende Hypothese des Arztes Bestätigung findet (Confirmation Bias).

Halo Effect.

Von bestimmten Eigenschaften wird ohne Zusatzbelege fehlerhaft auf weitere, objektiv unabhängige Eigenschaften geschlossen:

  • Beispiel Misshandlung: „Der Vater mit seinen Tattoos und seiner Rockerlederjacke sieht ziemlich brutal aus. Der ist sicher nicht zimperlich und schlägt auch mal seine Kinder!“

  • Beispiel Missbrauch: „Der Vater wirkt so empathisch und liebevoll im Umgang mit seiner Tochter, der würde sich doch nie an ihr vergreifen.“ Oder genau umgekehrt: „Der Vater wirkt so empathisch und liebevoll im Umgang mit seiner Tochter, da ist es nur noch ein kleiner Schritt zum sexuellen Übergriff!“

Vermischung von Gesprächsebenen

Der Interviewer wechselt während des Interviews kontinuierlich seinen Aufmerksamkeitsfokus zwischen drei verschiedenen Untersuchungs- und Erlebensebenen. Für eine verzerrungsfreie Interviewführung ist es hilfreich, sich achtsam zu vergegenwärtigen, auf welcher Ebene sich das Gespräch gerade bewegt:

  1. 1.

    die Rekonstruktion des faktischen Geschehensablaufes (objektive, äußere Wahrheit),

  2. 2.

    die empathische Erfassung des inneren Erlebens des Kindes durch Übernahme seiner Perspektive (subjektive, innere Wahrheit des Kindes),

  3. 3.

    die „frei schwebende“ Beobachtung der eigenen aufkommenden Hypothesen, Affekte, Bewertungen und Impulse (z. B. Ekel, Empörung, Wut auf den Täter; spontan aufkommende Handlungsimpulse, wie z. B. nach Vergeltung, Überforderung mit der Situation und Scheu vor der Verantwortung).

Werden diese Ebenen nicht klar auseinandergehalten, kann es zu Fehlschlüssen bei der Beurteilung kommen. So kann der eigene starke Affekt (Empörung, Wut; Ebene 3) unzulässigerweise als Beleg genommen werden, dass tatsächlich wohl ein Übergriff stattgefunden haben muss (Ebene 1). Ein bei der Befragung unbeteiligt und gelangweilt wirkendes Kind (Ebene 2) kann zu der vorschnellen Schlussfolgerung führen, es könne kein Übergriff stattgefunden haben, weil das Kind sonst betroffener wirken müsse.

Achtsame Emotionsregulation des Interviewers

Aus tiefenpsychologischer Sicht kann man in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit einer bewussten Wahrnehmung und Kontrolle der eigenen Gegenübertragung sprechen. In verhaltenstherapeutischer Terminologie wird der gleiche Prozess als Achtsamkeit gegenüber den Prozessen und Auswirkungen der eigenen Emotionsregulation beschrieben. In jedem Fall sind die Effekte solcher vorbewussten, automatisierten Informationsverarbeitungsprozesse auf die fachliche, diagnostische Befundung zu kontrollieren. Eine offene Wahrnehmung der eigenen, spontan „einschießenden“ Bewertungen und Impulse ist essenziell, um suggestive Effekte auf das Antwortverhalten des Kindes einzugrenzen, die dann wieder die eigenen vorgefassten Hypothesen zu bestätigen scheinen.

Neben der achtsamen Wahrnehmung und vorurteilsfreien Interpretation der Befunde liegt ein wichtiges Instrument zur Kontrolle des persönlichen Bias in kollegialem, interdisziplinärem Austausch und ggf. Supervision. Persönliche Wahrnehmungen, Hypothesen und Intuitionen können hier frei ausgetauscht und wechselseitig kollegial validiert und bei Bedarf korrigiert werden.

Risiken suggestiver Befragung

Zusätzliche Verzerrungseffekte ergeben sich, wenn der Interviewer die eigene Verdachtshypothese unterschwellig gegenüber dem Kind suggestiv ausstrahlt und das Antwortverhalten des Kindes damit manipuliert. Suggestive Effekte ergeben sich, wenn der Interviewer selektiv und eindrücklich auf spezifische Schilderungen des Kindes eingeht, die die Vorannahmen des Interviewers zu bestätigen scheinen (verbale, operante Konditionierung des Antwortverhaltens beim Kind). Der Interviewer reagiert zum Beispiel mit detaillierter Befragung und besonderer Zuwendung, wenn das Kind Situationen berichtet, in denen der verdächtigte Vater sich schlecht gegenüber dem Kind verhalten hat. Umgekehrt reagiert der Interviewer nicht oder ausweichend, wenn das Kind positive, liebevolle Beziehungsepisoden berichtet, oder der Interviewer deutet diese entsprechend seiner vorgefassten Hypothese als Manipulations- und Beschwichtigungsversuch des Kindes um. Der Interviewer ist also gefordert, mit gleichbleibender, neutraler Aufmerksamkeit ausgewogen auf positive wie negative Beziehungsaspekte zu reagieren.

Die Aussagepsychologie unterscheidet bestimmte günstige und ungünstige Frageformulierungen. Tab. 1 beschreibt anhand von markanten Beispielen eine Auswahl von ungünstigen Fragetypen mit einem hohen Risiko der Verfälschung des Antwortverhaltens. Demgegenüber stellen offene Fragen ohne jedwede Vorgabeneinengung grundsätzlich sehr geeignete Formulierungen dar [10, 12,13,14].

Tab. 1 Beispiele für ungünstige Fragetypen, die das Antwortverhalten des Kindes einengen, manipulieren oder suggestiv steuern können

Strukturierung und Dokumentation des Gesprächs

Forensische versus therapeutische Ausrichtung der Befragung

Bei Gesprächen mit mutmaßlichen Opfern einer Kindeswohlgefährdung ist klar zu unterscheiden zwischen der Zielsetzung einer psychotherapeutisch akzentuierten Gesprächsführung, etwa im Rahmen der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen, versus einer Gesprächsführung mit vorrangig diagnostisch-forensischer Zielsetzung zur Abklärung eines noch unklaren Verdachts. Tab. 2 zeigt die fundamentalen Konsequenzen für die Anlage der Gesprächsführung auf. Im Rahmen einer diagnostisch-forensischen Untersuchungssituation haben wohlgemeinte, aber hier eher schädliche psychotherapeutische Interventionen zugunsten einer Konzentration auf die objektivierende („investigative“) Sachverhaltsaufklärung (zunächst) zurückzustehen.

Tab. 2 Diagnostisch-forensische (investigative) versus psychotherapeutische Zielsetzung und Strukturierung der Gesprächsführung mit dem Kind

Im forensischen Interview unterbleiben – soweit wie klinisch vertretbar – Formulierungen mit therapeutisch stützend gemeinter Zielsetzung. Therapeutisch stützend gemeinte Formulierungen („Das ist für dich sicher ganz schlimm gewesen!“) können unbeabsichtigt eine suggestive Wirkung setzen und die Selbstwahrnehmung und den Bericht des Kindes nachhaltig modifizieren. Das Kind kann die stützend gemeinte Bewertung des Erwachsenen übernehmen, in seine eigene Erinnerungsspur hineinweben und in späteren Befragungssituationen z. B. vor Gericht reproduzieren, ohne dass dann noch erkennbar bleibt, welcher Aussageteil auf den Interviewer und welcher auf die Erinnerung des Kindes zurückgeht (Das Kind wiederholt: „Diese Situation ist für mich ganz schlimm gewesen!“). Supportive Kommentierungen können in der Folge die Glaubwürdigkeit des Kindes beeinträchtigen, wenn sich im Gedächtnis des Kindes Erinnerung an den Geschehensablauf und angebotene affektive Bewertung des Explorierenden durchmischen.

Dokumentation

Empfohlen wird …

  • eine verhaltensnahe, deskriptive Dokumentation („das Kind schweigt, rutscht auf dem Stuhl hin und her, schaut den Interviewer nicht an“).

  • verbale Äußerungen des Kindes weitgehend in wörtlicher Rede zu notieren, dabei Verzicht auf Interpretation (ggf. erkennbar getrennt in separater Spalte dokumentieren); parallel den beobachtbaren Affekt des Kindes notieren (Weinen, Verstummen, Schweigen, Blick wegdrehen).

  • auf ein „psychologisierendes Deuten“ der Verhaltensbeobachtung zu verzichten („das Kind verleugnet und verdrängt die Geschehnisse“), die Verhaltensbeobachtung hat textlich getrennt von deren Beurteilung zu erfolgen.

Individualisierung

Die Befragung des Kindes sollte in Sprache und Vorgehen am kognitiv-emotionalen Reifungsgrad sowie der Temperamentsausstattung ausgerichtet sein [13,14,15,16,17,18]:

  • Zurückhaltende, wortkarge und vermeidende Kinder benötigen eine geduldige, ermutigende und schützende Atmosphäre ohne Zeitdruck, um ihnen das Sprechen zu erleichtern.

  • Lebhafte, impulsive Kinder – ggf. mit Anzeichen einer Aufmerksamkeitsstörung – können sich sehr erzählfreudig, aber auch abschweifend, assoziativ gelockert und sprunghaft in Gedankengang und Schilderung präsentieren. Sie benötigen eine straffere Strukturierung des Gesprächsfadens, ohne sie dadurch zum Verstummen zu bringen.

  • Kinder mit gesteigerter Fantasietätigkeit, bei denen sich reale Erinnerungen und imaginative Ausschmückungen durchmischen, benötigen eine wiederkehrende Rückführung auf konkrete, anschauungsgebundene, zeitlich-räumlich umschriebene Situationen.

Das standardisierte NICHD-Interviewprotokoll

Innerhalb der letzten Dekade sind konzeptionell und empirisch fundierte Interviewprotokolle zur Gesprächsführung bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung erarbeitet worden. Eine solche Standardisierung des Vorgehens grenzt die dargestellten Risiken einer Verzerrung, Suggestion und Manipulation der kindlichen Aussagen deutlich ein. Ihre Verwendung steigert so die Validität der gewonnenen Aussagen. Lamb et al. [14] haben für das National Institute of Child Health and Human Development (NICHD) in den USA ein halbstrukturiertes Interview für die Durchführung einer diagnostisch-forensischen Exploration mit einem Kind konzipiert. Dieses Interview ist zwischenzeitlich evaluiert und revidiert worden [19, 20]. Noeker und Franke ([21], in diesem Heft) stellen die deutschsprachige Version dieses revidierten Interviewprotokolls inklusive eines kompletten Abdrucks der deutschsprachigen Version differenziert dar. Das NICHD-Protokoll hat international neben weiteren Interviewprotokollen die breiteste Rezeption und profundeste empirische Evaluation gefunden. Es kann daher als Referenz gelten.

Fazit

Domänen der Kompetenz professioneller Interviewdurchführung

Die Durchführung von Interviews mit Kindern zur Abklärung eines Verdachts auf Kindeswohlgefährdung erfordert Professionalität auf mindestens vier unterschiedlichen Ebenen, die erst im Zusammenwirken die Qualität und Validität der Befunderhebung absichern können:

  1. 1.

    Berücksichtigung von Risiken der Aussageverzerrungen aufseiten des Kindes. Die Aussage des Kindes stellt nicht einfach eine Spiegelung des realen Geschehens dar. Vielmehr stellt sie die Resultante eines komplexen Bewältigungsprozesses dar, mit dem das Kind das Erlebte kognitiv, emotional und motivational einzuordnen und erträglich zu machen versucht. Im direkten Kontext der Befragungssituation passen manche, vor allem ältere Kinder, ihre Aussagen an ihre Fantasien an, wie ihre Aussagen verwendet werden und welche Konsequenzen dies für die verdächtigte Bezugsperson und damit nicht zuletzt für die eigene Zukunft hat. Solche psychischen Verarbeitungsprozesse können den Bericht des Kindes stark überlagern und Abweichungen vom objektiven Geschehensablauf erzeugen.

  2. 2.

    Berücksichtigung von Risiken einer suggestiven Befragung des Kindes. Diese können durch dysfunktionale Fragetechniken, aber auch eine zu stark supportiv und psychotherapeutisch statt forensisch ausgerichtete Gesprächsführung gesetzt werden. Der Königsweg zur Eingrenzung solcher Manipulations- und Verzerrungsrisiken ist die Anwendung halbstrukturierter, standardisierter, empirisch evaluierter Interviewprotokolle wie die des NICHD ([21], in diesem Heft). Diese verbessern nachweislich den Umfang und die Validität der Aussagen des Kindes. Die Standardisierung des Protokolls steht einer ebenso erforderlichen Individualisierung und dem Aufbau von Rapport nicht im Wege.

  3. 3.

    Psychologische Fertigkeiten im Sinne einer geschulten Selbstwahrnehmung, Introspektionsfähigkeit und bewussten Reflexion unterschiedlicher Quellen eigener Voreingenommenheit bei der Befunderhebung und -interpretation. Dazu zählt auch die Kontrolle vorschnell entwickelter Hypothesen zur Schädigungsgenese und damit die Tendenz, diagnostische Einzelinformationen selektiv zu verarbeiten und zu gewichten. Über die eher „technisch“ angelegte Nutzung eines Interviewprotokolls hinaus sind solche eher „weichen Faktoren“ einer Kontrolle eigener Suggestions- und Verzerrungsrisiken aufseiten des Interviewers mindestens ebenso ergebnisrelevant.

  4. 4.

    Kollegialität, Intervision und Fehlerkultur innerhalb des Teams, am besten auch über institutionelle Grenzen hinweg (z. B. Klinik, niedergelassene Ärzte, Jugendamt). Eine der wirkungsvollsten Chancen zur Eingrenzung des individuellen Bias bei der Gefährdungsbeurteilung liegt im kollegialen Austausch, bei dem vorläufige Hypothesen und Intuitionen frei geäußert, aber kollegial ebenso kritisch wieder hinterfragt und korrigiert werden können. Hypothesenprüfung und klinische Entscheidungsfindung können also prinzipiell durch offenen kollegialen Austausch verbessert werden. Andererseits haben Bang und Frith [22] darauf aufmerksam gemacht, dass auch Gruppenurteile ihren eigenen Verzerrungsrisiken unterliegen. Potenzielle Fallstricke bei Gruppenentscheidungen können darin liegen, dass Wissensbestände sich in Teams einander annähern und sich wechselseitig zu bestätigen drohen. Über viele Fallbesprechungen hinweg können Kinderschutzteams bestimmte gleichförmige Interpretationsgewohnheiten herausbilden. Diese können im schlechten Fall die individuellen Einschätzungen überlagern und vereinheitlichen. Bang und Frith empfehlen als Gegenstrategie ein möglichst hohes Maß an „Diversität“ in Gruppenprozesse hineinzuholen. Bei Kinderschutzfragen kann dies praktisch bedeuten, gemeinsame Fallkonferenzen beispielsweise von Teammitgliedern der Kinderschutzgruppe einer Kinderklinik mit Teammitgliedern des zuständigen Jugendamtes zusammenzuführen. Bestimmte teaminterne Stereotypien der Urteilsbildung können so von Mitgliedern des jeweils anderen Teams kollegial herausgefordert werden. Auch solche Formen der teamübergreifenden Qualitätssicherung stellen ein weiteres Argument dar für die vielfach geforderte Interdisziplinarität im Kinderschutz über Institutionsgrenzen hinweg.

Forschungsdesiderate

Es ist sehr bemerkenswert, dass sowohl die wissenschaftlichen Arbeiten zur Entwicklung von Interviewleitfäden als auch die empirischen, evaluativen Studien zur Gesprächsführung mit Kindern bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung nach Kenntnis der Autoren allesamt außerhalb von Deutschland durchgeführt worden sind. Sieht man von den wertvollen Beiträgen der deutschsprachigen Forschungstradition in der Aussagepsychologie ab, so kann man nur ein ausgeprägtes Forschungsdefizit konstatieren. Dies wirkt umso gravierender, wenn man sich die hohe Praxisrelevanz einer wissenschaftlich fundierten Interviewdurchführung für die Qualitätssicherung des Kinderschutzes in Medizin, Jugendhilfe und Strafverfolgung vor Augen führt. Die vorliegende Arbeit hat einleitend die hohen Risiken falsch-positiver wie falsch-negativer Befundung bei unklarem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung für den weiteren Lebensweg betroffener Kinder herausgestellt. Die wissenschaftlich-empirische Fundierung und Weiterentwicklung des in Deutschland bisher sehr stark praxeologisch ausgerichteten Kinderschutzes wird sicher von der aktuell fertiggestellten „S3+ Leitlinie Kinderschutz“ stimuliert werden (https://www.kinderschutzleitlinie.de). Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich in dem hier thematisierten Bereich der Interviewleitfäden für Deutschland mindestens drei vorrangige, anwendungsorientierte wissenschaftliche Aufgabenstellungen ergeben:

  • Konzeptionierung: die Beteiligung an den internationalen Anstrengungen zur weiteren Ausdifferenzierung evidenzbasierter, handlungsleitender, präskriptiver Interviewleitfäden,

  • Evaluation: die empirische Dokumentation der real existierenden Praxis der Interviewdurchführung im deutschsprachigen Raum zur Detektion, damit die Detektion der bisherigen Schwachstellen in der Praxis und damit zur Ableitung der Bedarfe im Bereich Qualitätssicherung und Fortbildung,

  • Implementierung: gezielte Entwicklung von Fortbildungskonzeptionen, die die Qualifizierungsbedarfe in den oben genannten professionellen Kompetenzdomänen möglichst genau abdecken.