Ist Stillen wirklich besser? Über diese Frage wird seit Jahrzehnten intensiv diskutiert, wobei die Debatten oft kontrovers und emotional aufgeladen geführt werden. Stillen ist mehr als die Ernährung des Babys. Sowohl bei Kindern als auch bei Müttern geht Stillen mit körperlichen und psychischen Veränderungen einher. Frauenmilch ist ein komplexes Getränk mit zahllosen Inhaltsstoffen, das in Millionen von Jahren der Evolution entwickelt und optimiert wurde. Die Wissenschaft steht daher immer wieder vor einer großen Herausforderung, wenn es um die Frage geht, welche unterschiedlichen Effekte das Stillen für Kind und Mutter hat. Kontrollierte Studien zu diesem Thema sind schwer umsetzbar, oft fehlt es auch an langfristigen Daten. Was also bringt das Stillen wirklich für die Gesundheit, was ist tatsächlich erwiesen – und was nicht? Das hier vorliegende Heft will einen wissenschaftlichen Überblick über das Thema „Stillen in Deutschland“ geben und widmet sich insbesondere der Verbreitung des Stillens, dem Nutzen und möglichen Risiken des Stillens sowie Maßnahmen zur Stillförderung.

In Deutschland gibt es derzeit kein flächendeckendes nationales Stillmonitoring. Stillhäufigkeit und Stilldauer können auf Basis der vorhandenen Daten bislang nicht nach einheitlichen wissenschaftlichen Kriterien bestimmt werden. Der Beitrag von Sievers et al. stellt daher Konzepte zur systematischen Datenerhebung in Deutschland vor. Die Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) erhebt kontinuierlich Daten zur gesundheitlichen Lage der in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen, darunter auch Daten zum Stillen. In dem Artikel von Brettschneider et al. werden erstmals Daten zum Stillen aus KiGGS Welle 2 veröffentlicht. Der Beitrag von Theurich et al. betrachtet die europäische Perspektive des Stillens und vergleicht Stillquoten und Stillförderung in ausgewählten Ländern Europas. Dies wird im Beitrag von Engebretsen et al. ergänzt durch die internationale Perspektive am Beispiel Afrikas.

Säuglinge, die entsprechend der Empfehlung vier bis sechs Monate lang ausschließlich gestillt wurden, haben beispielsweise ein geringeres Risiko für Atemwegsinfekte. Dies und weitere kurz- und langfristig positive Effekte für das Kind werden im Artikel von Rouw et al. beschrieben. So erkranken gestillte Kinder im späteren Leben seltener an Übergewicht und Diabetes mellitus Typ 2. Ergänzt wird die Thematik durch einen Beitrag von Gebauer et al., der aufzeigt, dass vor allem Frühgeborene von der Ernährung mit Muttermilch profitieren. In der Gesamtbewertung der positiven Effekte des Stillens sollte nicht übersehen werden, dass auch unerwünschte Stoffe oder Krankheitserreger in die Muttermilch gelangen können. Inwieweit dies mit einem gesundheitlichen Risiko für das Kind verbunden sein kann, wird im Beitrag von Padberg et al. beschrieben.

Das Forschungsdepartment Kinderernährung (Beitrag von Kersting und Sievers) ist der Frage nachgegangen, ob sich die stärkeren Geruchs- und Geschmacksstimuli beim Stillen auf die Geschmacksprägung auswirken. Die psychologischen Effekte des Stillens auf das Kind und die Mutter aus wissenschaftlicher Sicht werden in dem Beitrag von Krol und Grossmann beschrieben. Nicht zu vernachlässigen sind auch die Vorteile des Stillens für die Mutter: So wird das Risiko gesenkt, an Brustkrebs zu erkranken. Die gesundheitlichen Wirkungen des Stillens bei der Mutter werden in dem Beitrag von Abou-Dakn dargelegt.

Abgerundet wird das Themenheft mit Beiträgen zu Handlungsfeldern der Stillförderung in unserer Gesellschaft. In einer Studie des Bundesinstituts für Risikobewertung zur öffentlichen Wahrnehmung des Stillens in Deutschland (Beitrag von Koch et al.) nannte jede zehnte Mutter, die bereits abgestillt hatte, die ablehnende Haltung in der Öffentlichkeit als einen Grund für das Abstillen. In der Bevölkerung lehnten es zwar nur 6 % komplett ab, wenn eine Frau ihr Baby in der Öffentlichkeit stillt, jedoch stand jeder Vierte dem Stillen im öffentlichen Raum zumindest zwiespältig gegenüber. Insbesondere in Restaurants und Cafés bestand eine Diskrepanz zwischen der Akzeptanz des Stillens und dem Stillverhalten von Müttern.

Die Thematik Stillen am Arbeitsplatz (Beitrag von Arndt und Handbauer) und der Internationale Kodex zur Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten der Weltgesundheitsorganisation (Beitrag von Both) werden dargelegt. Das vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft geförderte Projekt „Becoming Breastfeeding Friendly“ (Beitrag von Flothkötter et al.) evaluiert gegenwärtig systematisch den aktuellen Stand der Maßnahmen zur Stillförderung in Deutschland, um konkrete Handlungsempfehlungen zu entwickeln.

Stillen und die Akzeptanz des Stillens unterliegen dem gesellschaftlichen und kulturellen Wandel. Zu bestimmten Zeiten und in gewissen gesellschaftlichen Schichten wurde vom Stillen abgeraten, zu anderer Zeit und an anderem Ort wurde Stillen hingegen als Pflicht angesehen. Wissenschaft und Gesundheitswesen sind sich heute einig in der Beurteilung des Stillens als unersetzlichen Wert. Dennoch kann es Gründe geben, warum Mütter nicht stillen können oder nicht stillen möchten. In entwickelten Ländern mit sauberem Wasser und einem guten Angebot an Babynahrung ist auch eine Ernährung mit Säuglingsmilchnahrung möglich, ohne dass Mütter ein schlechtes Gewissen haben müssen.

Das Konzept des Heftes wurde mit Unterstützung der Nationalen Stillkommission (NSK) am Bundesinstitut für Risikobewertung erstellt und umgesetzt. Unser Dank geht daher sowohl an die Autorinnen und Autoren des Heftes als auch an die Mitglieder der NSK.

Wir hoffen, dass Sie auf die Beiträge zu diesem Thema gespannt sind, und wünschen eine interessante Lektüre.

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PD Dr. Klaus Abraham

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Dr. Suzan Fiack