Trotz zahlreicher Präventionsprogramme ist die Prävalenz des kindlichen Übergewichts und der kindlichen Adipositas in den meisten Regionen der Welt weiterhin zunehmend, und dort, wo sich die Prävalenz stabilisiert hat, ist sie erschreckend hoch. So hat sich in den letzten drei Jahrzehnten in den USA das Durchschnittsgewicht eines Kindes um mehr als 5 kg erhöht. Circa ein Drittel der amerikanischen Kinder ist übergewichtig oder sogar fettleibig. Darüber hinaus zeigte ein 2016 im International Journal of Obesity erschienener Artikel, dass übergewichtige 7‑jährige Jungen im Vergleich zu normalgewichtigen Gleichaltrigen ein 14-faches Risiko und Mädchen ein 10-fachiges Risiko haben, im Alter von 18 bis 19 Jahren ebenfalls übergewichtig zu sein. Dies macht die Bedeutung dieses Gesundheitsproblems für jeden Einzelnen und für die Gesellschaft deutlich: Übergewicht bedeutet nicht nur dick zu sein, sondern Übergewicht erhöht das Risiko für zahlreiche weitere gesundheitliche Schäden wie kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes mellitus, Erkrankungen des Bewegungsapparats, um nur einige zu nennen, und kann somit zu einer erhöhten Morbidität wie auch zu einer vorzeitigen Mortalität führen. Nach der Global Burden of Disease Study der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist ein hoher Body-Mass-Index (BMI) auf Platz 2 der Risikofaktoren für die häufigsten chronischen Erkrankungen in Deutschland.

Unsere Präventionsprogramme scheinen also zu versagen bzw. sind die durch sie erzielten Effekte zu gering, um den negativen Trend umkehren zu können. Dabei zielen die meisten Programme auf eine Veränderung des individuellen Verhaltens ab, was im schlimmsten Fall sogar zu weiteren Problemen führen kann. So wird befürchtet, dass durch Präventionsprogramme gegenteilige Effekte wie Essstörungen oder sogar die Zunahme von Übergewicht als eine Art „Trotzreaktion“ ausgelöst werden könnten. Darüber hinaus besteht die Sorge, dass durch Präventionsprogramme die soziale Schere weiter auseinander gehen könnte, da diese eher Menschen aus den mittleren und oberen Sozialschichten erreichen, aber leider kaum die unteren Schichten, in denen das Problem am größten ist.

Allerdings beziehen die bisherigen Präventionsprogramme kaum Ansätze zur systemischen Veränderung der obesogenen Umwelt ein. Spätestens seit der Publikation der Lancet-Ausgabe zu diesem Thema im Februar 2015 sollte jedoch klar sein, dass wir keine Veränderung des Verhaltens herbeiführen können, wenn wir die Verhältnisse nicht verändern, die einen ungesunden Lebensstil begünstigen. Nicht umsonst wurde in der Ottawa Charter for Health Promotion bereits 1986 gefordert: „Make the healthy choice the easy choice“. Um dieses Ziel zu erreichen, dürfen Interventionen nicht bei Verhaltensänderungen verharren, sondern müssen zusätzlich die sogenannten „Causes of Causes“ adressieren, also die umgebungsbedingten Determinanten des Lebensstils. So stellt die WHO 2016 in ihrem Bericht zur Beendigung des kindlichen Übergewichts die Bedeutung des Einflusses der obesogenen Umwelt auf die Entwicklung des Kindes fest und fordert, dass der Umgebungskontext und die kritischen Lebensphasen bei der Prävention kindlichen Übergewichts berücksichtigt werden müssen. Dabei weist die WHO ausdrücklich auf die Verantwortung von Regierungen und Interessenvertretungen hin. Insgesamt fordert sie nachdrücklich die Ergreifung von Maßnahmen, die den Trend in der Zunahme der Prävalenz des kindlichen Übergewichts umkehren können. Die Europäische Union legte hierzu für 2014 bis 2020 einen Aktionsplan auf, der in Deutschland durch das Bundesministerium für Gesundheit mit einem Förderschwerpunkt zur Prävention von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen aufgegriffen wurde und zur Förderung zahlreicher Projekte führte, die in einigen Artikeln in diesem Heft vorgestellt werden.

Auch wenn sich das Bundesgesundheitsblatt bereits 2011 in einem Schwerpunktheft mit diesem Thema befasste, scheint eine Fortführung der Auseinandersetzung mit kindlichem Übergewicht auf deutscher Ebene sinnvoll. Der Kenntnisstand sowohl zur Ätiologie als auch zur Prävention von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen ist inzwischen sehr viel differenzierter. Das Verständnis des komplexen Geschehens der Gewichtsentwicklung und daraus abgeleitet das Wissen über die Möglichkeiten zur Einflussnahme sind gewachsen, gleichzeitig kann Forschungsbedarf gezielter definiert werden.

Die Beiträge im vorliegenden Heft geben einen Einblick in den aktuellen Forschungsstand zur Primärprävention von Übergewicht im Kindes- und Jugendalter.

Im einleitenden Beitrag von Walter und Pigeot wird die Bandbreite universeller Angebote zur Primärprävention in Deutschland aufgezeigt. Diese reichen von klar definierten Interventionen wie im Rahmen der Kieler Adipositas-Präventionsstudie KOPS bis hin zu umfassenden Maßnahmen wie in Projekten der KINDERLEICHT-Regionen. Ein besonderer Blick wird auf die Ausgestaltungsmöglichkeiten entsprechender Programme geworfen. Zudem wird die gegebene Evidenz analysiert. Diesem Aspekt widmet sich insbesondere der nächste Beitrag, in dem Pigeot, De Henauw und Ahrens die europäisch angelegte IDEFICS-Studie als gutes Praxisbeispiel beschreiben. Im Fokus stehen die IDEFICS-Intervention mit ihren einzelnen Modulen sowie erzielte Effekte. Die Vielfalt an Möglichkeiten und das bisher ungenutzte Potenzial zur nachhaltigen Förderung der körperlichen Aktivität auf Gemeindeebene verdeutlichen beispielhaft einige regionsspezifische Maßnahmen, die im Rahmen dieser Studie entwickelt wurden.

Die anschließenden drei Beiträge setzen sich mit Qualitätskriterien zur Evaluation von Präventionsansätzen auseinander. Dabei befassen sich Quilling, Dadaczynski und Müller eingehend mit dem Settingansatz. Nach einer Einführung und Erläuterung des Begriffes, auch in Abgrenzung zur Lebenswelt, beschreiben sie die handlungsleitenden Grundprinzipien des Settingansatzes. Der Beitrag gibt einen Überblick über die settingbezogenen Einflüsse auf die Entstehung von Übergewicht und damit über Potenziale der Prävention. Da die theoretische Fundierung komplexer Interventionen noch immer als schwierig angesehen wird, folgt eine Auflistung von Planungsmodellen mit einer kurzen Darstellung des Intervention Mapping und des PRECEDE/PROCEED-Modells. Die systematische Recherche von Bär, Neweski, Ihm und Voss liefert einen Überblick über existierende Qualitätsstandards in der Primärprävention von Übergewicht bei Kindern in Deutschland, differenziert nach Akteuren und Akteurinnen. Die Fachdebatte zur Prävalenz von Übergewicht und die Qualitätsdiskussion zur Primärprävention sollten zukünftig stärker verschränkt werden. Insgesamt zeigt der aktuelle Qualitätsdiskurs großes Entwicklungspotenzial. Besonders Planungs- und Konzeptqualität stehen im Rahmen des Projektes zur Systematisierung konzeptioneller Ansätze zur Prävention von Kinderübergewicht in Lebenswelten (SkAP) im Vordergrund. Beteiligt sind mehrere Hochschulen unter Koordination der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Die Autoren Babitsch et al. beschreiben als Mitglieder des SkAP-Konsortiums in ihrem Artikel ausführlich die Ziele und die zugrunde liegende Methodik des Projektes sowie erste Ergebnisse ihrer Analyse.

Die verbleibenden Artikel befassen sich unter anderem mit der Bewertung von Präventionsstudien und mit spezifischen Präventionsansätzen. So wird die Frage nach dem aktuellen Forschungsstand zur Evidenzbasierung primärpräventiver Maßnahmen zur Reduzierung von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen in dem Beitrag von Pigeot et al. kritisch betrachtet. Unter Anwendung des Mediatoren-Modifikatoren-Variablen-Modells (MMVM) werden Forschungslücken in zentralen Handlungsfeldern sichtbar gemacht. Zukünftig sollten nicht allein das individuelle Gesundheitsverhalten fokussiert, sondern Mediatoren bzw. Determinanten von Verhalten und zusätzlich moderierende Einflüsse berücksichtigt werden. In Bezug auf kausale Zusammenhänge finden sich auf der wissenschaftlichen Landkarte zur Prävention, aber auch zur Ätiologie von Übergewicht, noch immer große unkartografierte Gebiete.

Die drei folgenden systematischen Übersichtsarbeiten befassen sich mit speziellen Interventionen zur Prävention von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen. Ein gemeinsames Ergebnis ist die heterogene Gestaltung von Interventionen bzw. der Evaluationen, das Fehlen langfristiger Nacherhebungen sowie die letztlich unzureichende Studienlage. Kula, Wiedel und Walter untersuchen die Wirksamkeit von Interventionen, die Maßnahmen aus den Bereichen Ernährung, Bewegung und Lebenskompetenz kombinieren. Trotz weit verbreiteter Empfehlungen für kombinierte Maßnahmen wie bspw. im Gesundheitsziel „Gesund Aufwachsen“ fehlt letztlich die Evidenz für entsprechende Programme, deren Evaluation aufgrund ihrer Komplexität eine Herausforderung für die Forschung darstellt. Dennoch lassen sich positive Interventionseffekte aufzeigen. Das Forschungsfeld der Interventionen zur Reduzierung von Sitzzeiten wird mit Bezug auf familienbasierte Maßnahmen von Alfes, Bucksch, Aue und Demetriou dargestellt. Sitzendes Verhalten ist neben mangelnder körperlicher Aktivität und Bildschirmzeiten als eigenständiger gesundheitsbezogener Risikofaktor zu verstehen. Entsprechende Studien erzielen überwiegend positive Effekte mit allerdings eher kleinen Effektstärken, vor allem bei Kindern bis 6 Jahren unter aktiver Einbeziehung der gesamten Familie. Die weitverbreitete alltägliche Nutzung elektronischer Medien fördert zwar mitunter die Sitzzeiten, bietet aber gleichzeitig einen Ansatz für primärpräventive Interventionen. Eine übersichtliche Darstellung über aktuelle E‑Health-Maßnahmen zur Adipositasprävention für Kinder und Jugendliche liefern Weihrauch-Blüher, Koormann, Brauchmann und Wiegand. Positive Effekte werden bisher nachgewiesen für körperliche Aktivität, kardiorespiratorische Fitness und einen gesunden Lebensstil, nicht aber für die Gewichtsentwicklung.

Im Zuge des Projekts „Bevölkerungsweites Monitoring adipositasrelevanter Einflussfaktoren im Kindesalter“ (AdiMon) ist das Robert Koch-Institut mit dem Aufbau eines Indikatorensystems befasst. Zeiher, Varnaccia, Jordan und Lange legen in ihrem Artikel die angewandte Methodik und die Ergebnisse der durchgeführten Recherche zur Identifizierung relevanter Einflussfaktoren dar. Unter Einbeziehung von Erklärungsmodellen, Übersichtsarbeiten und Leitlinien leiteten die Autoren und Autorinnen über 60 relevante Einflussfaktoren ab, die die Komplexität des Entstehungsgefüges von Übergewicht verdeutlichen.

Die Gesamtheit aller Beiträge verweist auf bestehende Forschungslücken, Erklärungszusammenhänge, die weiter zu betrachten und zu analysieren sind, sowie ein erforderliches Um- bzw. Weiterdenken in der Interventionsforschung im Bereich Primärprävention im Kindes- und Jugendalter. Die weiterhin bestehende Dringlichkeit und hohe Public-Health-Relevanz des Themas wird, wie bereits einleitend erwähnt, unterstrichen durch die Veröffentlichung diverser Dokumente auf europäischer Ebene und durch die WHO in den letzten Jahren. Der Zusammenhang eines niedrigen sozioökonomischen Status mit einem erhöhten Risiko für Übergewicht/Adipositas hat weiterhin Bestand. Armut erzeugt also nicht nur ein Zu-Wenig an Bildung, Ressourcen, Gesundheit, sondern auch ein Zu-Viel an Gewicht mit allen daraus resultierenden Konsequenzen.

In der Hoffnung, dass die Beiträge in diesem Heft die Präventionsforschung im Bereich des kindlichen Übergewichts befördern und helfen, das Bewusstsein für dieses globale Problem zu schärfen, verbleiben wir

Ihre

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Iris Pigeot

und Ihre

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Ulla Walter