Gravierende Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung gaben ab 2006 Anlass zu einer breiten gesellschaftlichen Debatte über den Kinderschutz in Deutschland. Seit längerem wurde parallel bereits eine Veränderung des Krankheitsspektrums bei Kindern, die so genannte „Neue Morbidität“, beobachtet: eine Verschiebung des Krankheitsspektrums bei Kindern und Jugendlichen von den akuten hin zu den chronischen Erkrankungen, von den somatischen zu den psychischen Auffälligkeiten.

In der Praxis des Gesundheitswesens und der Kinder- und Jugendhilfe wurden diese Entwicklungen früh sichtbar. Bald setzte sich die Erkenntnis durch, dass zur Bewältigung dieser Herausforderungen der weitere Ausbau eines früh einsetzenden umfassenden Unterstützungsangebots für Familien – insbesondere Familien in belastenden Lebensumständen – unbedingt erforderlich sei. Denn nur so können Familien mit psychosozialem Hilfebedarf rechtzeitig erreicht und Hilfsangebote passgenau auf den individuellen Bedarf der jeweiligen Familie zugeschnitten werden.

Diesen Erkenntnissen folgend wurden auf allen föderalen Ebenen Maßnahmen ergriffen. Auf Bundesebene wurde vom Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) unter anderem eine (zunächst von 2012 bis 2015 zeitlich befristete, bis Ende 2017 verlängerte) „Bundesinitiative Frühe Hilfen“ in das Bundeskinderschutzgesetz aufgenommen. Das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) koordiniert die Initiative auf Bundesebene. Ziel ist die Vorbereitung eines ebenfalls im Gesetz verankerten Fonds, der zur Sicherstellung der Netzwerke Früher Hilfen und der Angebote psychosozialer Unterstützung für Familien eingerichtet wird.

In den letzten Jahren haben sich in Deutschland die „Frühen Hilfen“ als junges, eigenständiges Forschungsgebiet mit einem rasanten Zuwachs an Wissensbeständen formiert. Auf diese wissenschaftliche Basis kann bei der Ausgestaltung des geplanten Fonds Früher Hilfen zurückgegriffen werden. Dazu gehören beispielsweise Befunde zur Erreichbarkeit vulnerabler Familien, zur fallbezogenen Kooperation zwischen den Hilfesystemen oder zu Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes von Gesundheitsfachkräften in den Frühen Hilfen. Mit dem vorliegenden Schwerpunktheft soll ein Einblick in den aktuellen Stand dieser Wissensbasis gegeben werden.

Zunächst präsentieren Ulrich T. Egle und Sonja Entringer mit ihren jeweiligen Autorenteams in zwei Übersichtsartikeln den aktuellen Forschungsstand zu gesundheitlichen Langzeitfolgen von psychosozialen Belastungen und Stresserfahrungen in der Kindheit. Sie beleuchten das gemeinsame Thema aus zwei unterschiedlichen Perspektiven, sozialepidemiologisch und neurobiologisch. Die aktuellen Forschungsergebnisse beider wissenschaftlicher Disziplinen stützen dieselbe Hypothese, nämlich die ausgesprochen hohe Bedeutung (sehr) früher Umwelteinflüsse auf gesundheitliche Entwicklungsperspektiven und Lebenschancen. Sie verdeutlichen damit auch die Notwendigkeit von Strategien zur Vermeidung früher Stresserfahrungen durch passende Hilfsangebote für vulnerable Familien.

Heinz Kindler stellt im Anschluss an seine Forschungsübersicht fest, dass die Wirkung Früher Hilfen hinsichtlich der Entwicklung eines adäquaten Stressreaktionsmusters bzw. der Vermeidung physiologischer Fehlreaktionen bisher noch nicht hinreichend untersucht wurde, einzelne Befunde jedoch ermutigende Botschaften enthalten.

Dass Frühe Hilfen Wirkung entfalten können, setzt jedoch voraus, dass vulnerable Familien mit Angeboten der Frühen Hilfen und der Gesundheitsförderung überhaupt in größerem Umfang erreichbar sind. Anhand der Ergebnisse von KiD 0–3, einer bundesweit repräsentativen Versorgungsstudie mit über 8000 teilnehmenden Familien, zeichnen Andreas Eickhorst und seine Ko-Autorinnen und -autoren ein differenziertes Bild. Obwohl Befunde zur Inanspruchnahme spezieller Angebote Früher Hilfen darauf hinweisen, dass sie auch von vulnerablen Familien genutzt werden, gibt es erheblichen Optimierungsbedarf hinsichtlich ihrer „Zielgenauigkeit“: Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Unterstützungsangebote noch zu häufig von Familien in Anspruch genommen werden, die sie nicht dringend benötigen.

Um gerade belasteten Familien die Zugangswege zu Frühen Hilfen zu ebnen, müssen auch mögliche Barrieren für eine Hilfeannahme ins Auge gefasst werden. Anna Neumann und Ilona Renner zeigen anhand ausgewählter Ergebnisse einer qualitativen Milieustudie mit 273 Probandinnen und Probanden, dass die elterliche Steuerungskompetenz bei der Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten für Familien mit jungen Kindern – unabhängig von Merkmalen der sozialen Lage – einen eigenständigen, erklärenden Einfluss ausübt.

Eine engere Kooperation zwischen Akteuren des Gesundheitswesens und der Kinder- und Jugendhilfe ist die Voraussetzung für eine Verbesserung der Identifizierung von Hilfebedarf und der Vermittlung von Angeboten. In den letzten Jahren wurden insbesondere von Geburtskliniken und Kinder- und Jugendärztlichen Praxen Konzepte des Schnittstellenmanagements zwischen den Unterstützungssystemen entwickelt, erprobt und wissenschaftlich begleitet. Dass bei der Vermittlung von psychosozialen Hilfen in der Geburtsklinik insbesondere eine feinfühlige Kommunikation und ein konsistentes Handeln in Institution und Netzwerk von Bedeutung sind, zeigen Christiane Prüßmann und Koautorinnen und -autoren anhand ihrer qualitativen Elterninterviews.

Eine besondere Herausforderung für die Vermittlung von Unterstützungsangeboten in der Geburtsklinik stellt das Erkennen des Hilfebedarfs dar. Silvia Fisch hat gemeinsam mit ihrem Autorenteam einen einfachen, in der Anwendung „sparsamen“ und somit praktikablen Screeningbogen, der in Entbindungskliniken der Charité Berlin eingesetzt wird, auf seine diagnostische Genauigkeit überprüft. Dabei konnte gezeigt werden, dass der Bogen hervorragende Sensitivitätswerte erreichte, die Ergebnisse hinsichtlich seiner Spezifität jedoch noch nicht zufriedenstellend ausfielen.

Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte sind bedeutende Partnerinnen und Partner im Netzwerk Früher Hilfen, die jedoch bislang noch nicht ausreichend eingebunden sind. Um Kooperation und Vernetzung zu fördern, wurde in Baden-Württemberg das Instrument der Ärztlichen Qualitätszirkel hilfesystemübergreifend weiterentwickelt, flächendeckend implementiert und wissenschaftlich begleitet. Über die daraus gewonnenen Erkenntnisse berichten Marcus Siebolds und Koautorinnen und -autoren.

Wichtige Hinweise für das Gelingen einer feinfühligen und motivierenden Kommunikation in der pädiatrischen Praxis entwickelt Michael Barth auf Grundlage mehrerer Studien, in denen das praktische Handeln und die Gespräche der Akteure in Früherkennungsuntersuchungen authentisch aufgezeichnet wurden.

Ein Förderschwerpunkt der Bundesinitiative Frühe Hilfen ist der Einsatz von Familienhebammen und Familien-, Gesundheits- und Kinderkrankenpflegenden. Dieses Angebot wird Familien häufig unterbreitet, wenn deren psychosozialer Hilfebedarf in der Geburtsklinik, in der Kinder- und Jugendärztlichen Praxis oder an anderer Stelle auffällt. Ilona Renner und Sara Scharmanski gehen auf Grundlage einer Längsschnittstudie mit Angaben zu 937 Familien der Frage nach, in welcher Hinsicht Eltern und Kinder von der Inanspruchnahme dieses Angebotes profitieren können.

Peter Zimmermann beschreibt gemeinsam mit seinem Autorenteam das Design einer entwicklungspsychologischen Längsschnittstudie zu Risiko- und Schutzmechanismen bei Familien mit Kleinkindern. Die Studie umfasst neben einer standardisierten Befragung im häuslichen Umfeld auch Entwicklungstests und systematische Beobachtungen.

Abschließend diskutiert Jörg Maywald das Verhältnis von Kinderrechten, Elternrechten und staatlichem Wächteramt.

Die in diesem Heft zusammengestellten Beiträge weisen in ihrer Gesamtheit auf die große Bedeutung der Frühen Hilfen in Deutschland hin. Die Institutionen haben sich – ausgehend von den Familien mit erhöhtem Hilfebedarf – auf den Weg zu einer engeren Kooperation und Vernetzung der unterschiedlichen Sozialsysteme begeben. Die Forschung, die die Autorinnen und Autoren in diesem Heft darstellen, begleitet diesen Weg und wird damit wichtige Hinweise zur weiteren Ausgestaltung der Frühen Hilfen bereitstellen können.

Heidrun Thaiss