Liebe Leserinnen und Leser,

zum ersten Mal stellt das Bundesgesundheitsblatt das Thema sexuelle und reproduktive Gesundheit in den Fokus und widmet ihm gleich 2 Schwerpunkthefte: Das Ihnen hier vorliegende Heft beschäftigt sich mit dem Thema aus sozialwissenschaftlicher Sicht, das in Kürze folgende stellt den Schwerpunkt aus medizinischer Sicht dar.

Das Thema der sexuellen Gesundheit wird international bereits seit Längerem diskutiert, und es hat zahlreiche Versuche einer Definition gegeben. Bei einer groß angelegten Konsultation, die 2002 von der WHO organisiert wurde, hat man sich auf folgende Definition geeinigt:

„Sexuelle Gesundheit ist der Zustand körperlichen, emotionalen, geistigen und sozialen Wohlbefindens bezogen auf die Sexualität und bedeutet nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, Funktionsstörungen oder Schwäche. Sexuelle Gesundheit erfordert sowohl eine positive, respektvolle Herangehensweise an Sexualität und sexuelle Beziehungen als auch die Möglichkeit für lustvolle und sichere sexuelle Erfahrungen, frei von Unterdrückung, Diskriminierung und Gewalt. Wenn sexuelle Gesundheit erreicht und bewahrt werden soll, müssen die sexuellen Rechte aller Menschen anerkannt, geschützt und eingehalten werden.“Footnote 1

Obwohl diese Definition keinen offiziellen Charakter hat, findet sie breite Anwendung. Das damit skizzierte Konzept der sexuellen Gesundheit ist Ausgangspunkt einer Bestandsaufnahme über die unterschiedlichen Disziplinen hinweg, die sich mit verschiedenen Aspekten der sexuellen Gesundheit befassen. Es vereint Themen, Arbeits- und Verantwortungsbereiche, die in Deutschland traditionell strukturell getrennt waren und oft noch sind. Die daraus resultierende Fragmentierung hat die disziplinspezifische Weiterentwicklung zwar befördert, der Austausch untereinander und der Diskurs miteinander – als Voraussetzung einer integrierenden Perspektive – kamen hingegen zu kurz.

Vor diesem Hintergrund nimmt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) eine besondere Rolle ein: Sie vereint seit mehr als 20 Jahren 2 wesentliche Aufgabengebiete, bei deren Umsetzung das Bundesministerium für Gesundheit und das Bundesministerium für Familie, Senioren, Familie und Jugend federführend sind. Sie hat den gesetzlichen Auftrag zur Sexualaufklärung und ist ebenfalls zuständig für die HIV- und zunehmend auch für die Prävention von anderen sexuell übertragbaren Infektionen (STI). Als neue Aufgabe ist die Prävention des sexuellen Missbrauchs hinzugekommen. 2003 wurde die BZgA WHO-Kollaborationszentrum für sexuelle und reproduktive Gesundheit, dessen Aufgabengebiet die vorgenannten Themen umfasst und eine enge Anbindung an den internationalen Diskurs zu sexueller und reproduktiver Gesundheit und Rechten gewährleistet. Die Umsetzung dieser Aufgaben verlangt, dass die Erkenntnisse aller Disziplinen in ihrer jeweiligen Bedeutung für die Aufklärung und Prävention zu berücksichtigen sind. Durch die verschiedenen interdependenten Arbeitsfelder hat sich in der BZgA ein übergreifendes, ganzheitliches Verständnis von sexueller und reproduktiver Gesundheit entwickelt. Im Zentrum dieser Perspektive steht, dass die Arbeitsfelder trotz ihrer Unterschiede Schnittstellen aufweisen und daher ein abgestimmtes Vorgehen zu Synergieeffekten führt. Diese Perspektive entspricht eher der Sicht der Adressaten, für die so unterschiedliche Aspekte wie die Entwicklung der sexuellen Identität, ein geeignetes Kontrazeptivum, Sorgen angesichts einer sexuellen Störung, der Test auf eine mögliche STI sowie der Wunsch nach einer erfüllten Sexualität eng zusammenhängen.

Mit diesem Heft und seinen vielfältigen Beiträgen wird eben diese Spannbreite des sozialwissenschaftlichen Diskurses zu sexueller Gesundheit aufgezeigt – hiermit soll auch ein Beitrag geleistet werden zu einem besseren gegenseitigen Verständnis und der Überwindung der fragmentierten Sicht von sexueller Gesundheit.

In den ersten 3 Beiträgen werden Themen von hoher öffentlicher Aufmerksamkeit aufgegriffen: Jugendsexualität, reproduktive Gesundheit mit dem Schwerpunkt Familienplanung und sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen.

Im ersten Beitrag zum Sexual- und Verhütungsverhalten Jugendlicher und junger Erwachsener stellen A. Heßling und H. Bode eine von der BZgA durchgeführte Wiederholungsstudie vor, die den Wandel im Verhalten der 14- bis 17-Jährigen in den letzten 30 Jahren dokumentiert. Das Verhütungsverhalten hat sich kontinuierlich verbessert: Während 1980 noch 20% der Mädchen und 29% der Jungen angaben, beim ersten Mal keine Verhütungsmittel benutzt zu haben, hat sich dieser Anteil im Jahr 2010 auf 8% (sowohl Jungen als auch Mädchen) reduziert. Allerdings hat die jüngste Studie auch aktuelle Herausforderungen identifiziert. Verschiedene Zielgruppen, wie z. B. Menschen mit Migrationshintergrund, sind bisher noch nicht ausreichend durch Maßnahmen der Prävention erreicht worden. Die Autorinnen betonen, dass Bildung und sozialer Status maßgeblich für Unterschiede im Sexual- und Verhütungsverhalten verantwortlich sind.

Diese Zusammenhänge greift C. Helfferich in ihrem Artikel zur reproduktiven Gesundheit auf. Zwar ist es weitgehend gewährleistet, dass Menschen in Deutschland ein gewünschtes Kind bekommen und ungewünschte Schwangerschaften verhüten können, gleichwohl beeinflussen soziale Determinanten das Verhütungsverhalten und den Kinderwunsch. Menschen mit Migrationshintergrund haben je nach Herkunftsland, Bildung und sozialer Lage spezifische Bedarfe, die stärkere Berücksichtigung erfahren müssen.

Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist ein Thema, das die dunkle Seite von Sexualität behandelt. Die Skandale der vergangenen Jahre und die damit verbundene öffentliche Diskussion veranlasste die Politik zum Handeln. J. Fegert konstatiert die Traumatisierung der Betroffenen und ihre vielschichtigen Spätfolgen. Sein Beitrag erörtert, vor dem Hintergrund des Forschungsstandes, die jüngsten politischen Entwicklungen, basierend auf der Arbeit des „Runden Tisches“ und dessen Empfehlungen.

Das Thema sexuelle Gesundheit wird oft aus der Perspektive möglicher negativer Folgen für die Gesundheit gesehen, und mögliche Risiken bzw. Gefährdungen stehen im Zentrum.

In den letzten Jahren hat sich jedoch parallel dazu ein Diskurs entwickelt, der die positiven Seiten von Sexualität stärker beleuchtet. Der Artikel von R. Anderson liefert einen Überblick über Forschungsergebnisse zu positiven Auswirkungen von Sexualität und sexueller Zufriedenheit auf die physische und psychische Gesundheit des Menschen.

Die Ausdifferenzierung des Themenfelds sexuelle Gesundheit drückt sich in der Vielfalt der folgenden Einzelthemen aus. Gemeinsamer Nenner dieser Beiträge ist, dass die Autoren und Autorinnen Sexualität in ihrer Komplexität wahrnehmen und in vielen Bereichen für eine Verbreiterung des Blickwinkels plädieren.

Männer finden erst in jüngerer Vergangenheit Eingang in den sexualwissenschaftlichen Diskurs, und ihre sexuelle Gesundheit wird in dem Beitrag von H. Bosinski aus sexualmedizinischer Sicht analysiert. Eine Vielzahl von Männern leidet unter sexuellen Problemen, die in ihrer Paardimension verstanden werden müssen. Im Zentrum steht ein mehrdimensionales Verständnis von Sexualität, das über eine enge biomedizinische Sichtweise von sexuellen Störungen hinausgeht. Der Autor konstatiert einen dringenden Fort- und Weiterbildungsbedarf bei Ärzten und Ärztinnen sowie Psychotherapeuten und -therapeutinnen, um den Betroffenen adäquate Beratung und Therapie anbieten zu können.

K. Wylie beleuchtet in seinem Artikel den Themenkomplex Sexualität im Alter und erweitert damit den Diskurs um die Zielgruppe der älteren Menschen, deren sexueller Gesundheit bisher wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde. Die Erhaltung von sexueller Zufriedenheit im Alter ist mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert und wird von psychologischen, sozialen, kulturellen Faktoren beeinflusst. Hinzu kommen chronische Erkrankungen und Medikationen und eine nur zögerliche Inanspruchnahme von Beratungsangeboten bzw. medizinischer Versorgung bei sexuellen Problemen. Verstärkte Aufklärung, die sich nicht nur an Betroffene selbst, sondern auch an das Fachpersonal wendet, ist vonnöten.

K. Schweizer und F. Brunner untersuchen das Konzept der sexuellen Orientierung. Sie stellen die Orientierungen Hetero-, Homo- und Bisexualität dar, zeigen deren Grenzen auf und stellen alternative Konzepte des Begehrens vor, die über die gesellschaftlich verankerte Monosexualität und Heteronormativität hinausweisen.

Der Beitrag zu Intersexualität und Transsexualität von H. Richter-Appelt beinhaltet ebenfalls die Auseinandersetzung mit heteronormen und binären Geschlechtsvorstellungen. Menschen mit Intersexualität waren und sind z. T. noch immer dem Druck ausgesetzt, einen eindeutig weiblichen oder männlichen Körper, eine eindeutige stabile Geschlechtsidentität als Mann oder Frau und eine heterosexuelle Orientierung zu erwerben. Im Februar 2012 hat der Deutsche Ethikrat eine Stellungnahme zum Umgang mit Personen mit Intersexualität veröffentlicht, die konkrete Empfehlungen und Forderungen beinhaltet – im Zentrum steht die Forderung, Personen mit Intersexualität mit Respekt zu begegnen, sie vor Diskriminierung und ungerechtfertigten medizinischen Eingriffen zu schützen.

Das in den letzten Jahren gewonnene Wissen und die Überwindung begrenzender Betrachtungsweisen schlagen sich in verschiedenen Interventionen und Maßnahmen, wie z. B. in Konzepten zur Sexualaufklärung, nieder. Der Beitrag von E. Ketting und C. Winkelmann zu neuen Ansätzen in der Sexualaufklärung greift das Thema auf: Im Zentrum stehen die gemeinsam von BZgA und WHO Europa entwickelten Standards für die Sexualaufklärung in Europa, die Sexualität in ihrer Komplexität zugrunde legen, das Recht von Kindern und Jugendlichen auf umfassende Information betonen und Sexualität als grundsätzlich positives Potenzial begreifen. Sie plädieren für eine Sexualaufklärung, die eine enge Fokussierung auf spezielle Public-Health-Belange überwindet.

C. Mouli beschäftigt sich mit sexueller und reproduktiver Gesundheit von Jugendlichen insgesamt und geht damit über die Sexualaufklärung hinaus. Er zeichnet die internationalen Diskussionen zu diesem komplexen und häufig umstrittenen Bereich am Beispiel der WHO nach. Die Förderung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit von Jugendlichen ist eine effektive Präventionsstrategie und von großer Bedeutung. Die WHO erarbeitet Handlungsempfehlungen für diesen sensiblen Bereich und unterstützt Länder darin, die Datengrundlage zu Kernfeldern der sexuellen und reproduktiven Gesundheit von Jugendlichen zu verbessern. Er sieht es als notwendig an, dass die einzelnen Staaten die Wichtigkeit der sexuellen und reproduktiven Gesundheit von Jugendlichen verstehen, anerkennen und entsprechend handeln – also Information, Aufklärung, gesundheitliche Dienste und die Rechtsgrundlagen bereitstellen.

Nicht nur international ist die Prävention von HIV und STI ein zentrales Thema für die sexuelle und reproduktive Gesundheit, wie der Beitrag von C. Corsten und U. von Rüden zeigt. Die langjährige HIV-Präventionskampagne der BZgA „Gib Aids keine Chance“ basiert auf dem Konzept der gesellschaftlichen Lernstrategie, die einen nachhaltigen Lernprozess bei der gesamten Bevölkerung anstrebt. Dieses Konzept findet seine Anwendung auch bei neuen Herausforderungen und liegt der aktuellen integrierten HIV/STI Kampagne der BZgA zugrunde. Sowohl in der ursprünglichen HIV- als auch in der weiterentwickelten integrierten HIV/STI-Kampagne wird Sexualität positiv verstanden. Im Zentrum steht der Schutz der eigenen Person und des Partners oder Partnerin, der zum einen in der Kondomnutzung besteht, zum anderen in der Aneignung von Wissen über HIV und STI. Dabei nimmt die enge Kooperation mit der Ärzteschaft eine zentrale Stellung ein.

Dass die Ärzteschaft im Themenfeld der sexuellen Gesundheit ein zentraler Akteur ist, wird ebenfalls sehr deutlich im Zusammenhang mit den gesetzlichen Regelungen zur Präimplantations- und Pränataldiagnostik (PND und PID). C. Woopen beleuchtet die besondere Rolle der Ärzte und Ärztinnen bei der Aufklärung und Beratung der Patientinnen und Patienten im Rahmen der PID und PND. Voraussetzungen für eine gelingende Beratung sind dabei die angemessene Berücksichtigung von psychischen und sozialen Aspekten. Die Forderungen nach einer interdisziplinären und multiprofessionellen Beratung verdeutlichen, dass im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit die Sozialwissenschaften und die Medizin aufeinander angewiesen sind.

Die hier ausgewählten Artikel bündeln die zahlreichen unterschiedlichen Themen und Herangehensweise an das „große“ Thema sexuelle und reproduktive Gesundheit aus sozialwissenschaftlicher Sicht und spiegeln den aktuellen Stand der Fachdiskussion. Die Multiperspektivität des Themas erforderte auch eine multiperspektivische Koordination des Fachheftes. Innerhalb der BZgA waren für die Koordination verantwortlich Frau Dr. Christine Winkelmann für das WHO-Kollaborationszentrum für sexuelle und reproduktive Gesundheit, Frau Monika Hünert für das Arbeitsfeld Sexualaufklärung, Verhütung, Familienplanung und Herr Jürgen Töppich für den Bereich Forschung und Evaluation. Externes Mitglied des Koordinationsteams war Frau Prof. Dr. Beatrix Gromus, Hamburg, ausgewiesene Expertin für die sexuelle Gesundheit der Frau. Auch im Namen der Kolleginnen und Kollegen wünsche ich Ihnen eine spannende und erkenntnisreiche Lektüre.

Ihre

Prof. Dr. Elisabeth Pott