Liebe Leserin, lieber Leser,

Allergien sind Volkskrankheiten in industrialisierten Ländern mit „westlichem“ Lebensstil. Die Morbidität ist enorm hoch, Schätzungen gehen von mindestens 20% Allergikern in der Bevölkerung Deutschlands aus. Weil aber die Mortalität relativ gering ist, wird dem Leiden der Betroffenen und der sozioökonomischen Bedeutung von Allergien oftmals nicht die erforderliche Aufmerksamkeit entgegengebracht. Die allergologischen Fachgesellschaften in Deutschland bemühen sich seit vielen Jahren um eine angemessene Aufmerksamkeit für die Thematik und haben mit der 3. Auflage des „Weißbuch Allergie in Deutschland 2010“ ein dem aktuellen Kenntnisstand entsprechendes umfassendes und gut verständliches Bild der Situation gezeichnet. Eindrucksvoll belegen die Autoren, dass durch rechtzeitige Diagnostik und Therapie dem sogenannten Etagenwechsel vorgebeugt werden kann. Überschreitet der Allergiker in den Krankheitssymptomen die Grenze von der Rhinitis/Rhinokonjunktivitis bis hin zum allergischen Asthma, steigen die Gesundheitsausgaben und indirekten Kosten wie Fehlzeiten am Arbeitsplatz sprunghaft an.

Das vorliegende Themenheft greift aktuelle Entwicklungen und Erkenntnisse aus den Bereichen Epidemiologie, spezifische Immuntherapie, Prävention und Risikobewertung im Zusammenhang mit allergischen Erkrankungen auf und lässt Experten aus dem akademischen Bereich sowie aus den Bundesinstituten im Bereich des BMG [Robert Koch-Institut (RKI), Paul-Ehrlich-Institut (PEI) und dem Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR)] sowie den Deutschen Allergie- und Asthmabund als Patientenorganisation zu Wort kommen.

Der einleitende Artikel von Böcking, Renz und Pfefferle zeigt die deutliche Steigerung der Prävalenz von allergischen Erkrankungen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts auf, thematisiert die zum Teil erhebliche Einschränkung der Lebensqualität bei Allergikern und stellt beeindruckende Zahlen zur sozioökonomischen Bedeutung von Allergien zusammen, vor deren Hintergrund die Aussagen der nachfolgenden Artikel in ihrer Bedeutung besser eingeschätzt werden können. Drei Beiträge behandeln epidemiologische Themen. Die Arbeiten von Laußmann und Koautoren sowie von Langen stellen aktuelle Ergebnisse aus dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey des RKI (KiGGS) dar. Sie zeigen Einflussfaktoren für Asthma bronchiale auf und präsentieren Daten zum Sensibilisierungsstatus gegen verschiedene Allergene bei Kindern und Jugendlichen mit Heuschnupfen sowie anderen atopischen Erkrankungen. Der Beitrag von Schnuch et al. befasst sich mit der Epidemiologie und zentralen Auswertung von Daten zur allergischen Kontaktdermatitis durch den Informationsverbund Dermatologischer Kliniken (IVDK), in dem Allergieabteilungen aus 56 Hautkliniken Deutschlands, der Schweiz und Österreichs kooperieren. Im Jahr 2004 wurde die EU-Richtlinie 2001/20/EG zur Guten Klinischen Praxis in Form der GCP-Verordnung und Änderungen im AMG in das deutsche Arzneimittelrecht implementiert. Da Epikutantestallergene seit jeher als Arzneimittel eingestuft sind, gelten seit dieser Implementierung die Regeln der Guten Klinischen Praxis auch für Studien mit Kontaktallergenen. Die damit verbundenen erhöhten finanziellen Aufwendungen haben dazu geführt, dass die klinische Testung von neuen Kontaktallergenen in Deutschland zum Erliegen gekommen ist und dass derzeit auch keine dringend benötigten epidemiologischen Daten zu neuen Substanzen mehr erhoben werden können. Hier ist die klinische Allergologie in einer problematischen Situation, die einer Lösung bedarf. Angesichts der hohen Prävalenz von Allergien kommt Ansätzen zur Allergieprävention naturgemäß eine hohe Bedeutung zu. Der Beitrag von Kopp fasst vor diesem Hintergrund die Aussagen der aktuellen AWMF S3-Leitlinie zur Allergieprävention bei Kleinkindern zusammen und diskutiert diese kritisch.

Drei Artikel befassen sich mit der allergenspezifischen Immuntherapie (Hyposensibilisierung) bzw. den Anforderungen an die dazu eingesetzten Allergene als biomedizinische Produkte. Kleine-Tebbe et al. nehmen eine zum Nachdenken anregende Standortbestimmung vor, die der Bedeutung der Immuntherapie als einzige kausale Behandlung für Typ-I-Allergien Rechnung trägt und auch das aktuelle regulatorische Umfeld berücksichtigt. Zurückgehende Verordnungszahlen und damit eine zukünftig eher schlechtere Versorgung allergischer Patienten führen sie vor allem auf eine unzureichende Vergütung allergologischer Leistungen zurück. Vielversprechende Entwicklungen innovativer Allergenprodukte sind vor diesem Hintergrund eher erschwert. In den Arbeiten von Englert et al. und Bartel et al. wird auf das regulatorische Umfeld für Allergenprodukte eingegangen. Während vor 2008 ein großer Teil der Allergenprodukte für die Hyposensibilisierung als sogenannte Individualrezepturen ohne Zulassung und ohne unabhängige behördliche Prüfung in den Verkehr gebracht wurden, unterstellt die Therapieallergene-VO (TAV) alle Produkte, die Allergene zur Behandlung der häufigsten Allergien enthalten (aus bestimmten Baumpollen, Gräserpollen, Hausstaubmilben, Bienen- und Wespengift) grundsätzlich der Zulassungspflicht. Trotz langer Übergangszeiträume hat dies enorme, vor allem finanzielle, Konsequenzen für die Allergenhersteller, da vielfach umfangreiche klinische Prüfungen von Produkten durchgeführt werden müssen, die schon lange im Markt etabliert sind. Mit dem Ende der „Abverkaufsfrist“ der TAV für Produkte, für die keine Zulassung beantragt wurde, sind ca. 6500 individuell hergestellte Therapieallergene nicht mehr verfügbar. Insgesamt führt die TAV somit zu einer Einschränkung der Produktvielfalt bei Allergenen, wird aber das Niveau der evidenzbasierten Medizin bei der Anwendung von Therapieallergenen erheblich erhöhen.

Ein weiterer Themenkomplex befasst sich im weitesten Sinne mit den Risiken, eine allergische Sensibilisierung zu entwickeln oder unbeabsichtigt eine schwere allergische Reaktion zu erfahren. Für den arbeitsmedizinischen Bereich wird die Situation kompetent von Raulf-Heimsoth und Koautoren zusammengefasst. In Bezug auf Allergierisiken stehen außerdem besonders Lebensmittel sowie Kosmetika und Bedarfsgegenstände immer wieder im Fokus der öffentlichen Diskussion. Für Kosmetika und Bedarfsgegenstände in Europa stellen Peiser und Kollegen die Bewertung des sensibilisierenden Potenzials von Inhaltsstoffen dar. Wie bei der diagnostischen Testung von Kontaktallergenen am Menschen ist die Situation auf diesem Gebiet nicht unproblematisch, da keine Tierversuche zur präventiven Testung des Sensibilisierungspotenzials mehr eingesetzt werden dürfen, aber ein Mangel an validierten und international anerkannten Alternativmethoden besteht. Nicht direkt erkennbare Allergenspuren in zusammengesetzten Lebensmitteln werden als „versteckte Allergene“ bezeichnet. Wie unter anderem auch das deutschsprachige Anaphylaxieregister zeigt (Artikel von Worm und Hompes in diesem Heft), zählen Lebensmittel neben Insektengiften und Medikamenten zu den häufigsten Auslösern anaphylaktischer Reaktionen. Die Risiken der Reaktion auf versteckte Allergene werden aus Patientensicht im Beitrag von Schnadt sowie aus der Sicht des BfR von Richter und Koautoren dargestellt, die außerdem die Problematik der Ermittlung von Schwellenwerten kompetent behandeln. Während sich die meisten Beteiligten in der Sache grundsätzlich einig sind und auch die Lebensmittelindustrie großes Interesse an einem verbindlichen Höchstwert für Allergenspuren hat, gestaltet sich die Festlegung eines wissenschaftlich fundierten gesetzlichen Schwellenwertes für unbeabsichtigte Allergeneinträge in Lebensmittel schwierig. Dies führt seitens der Lebensmittelhersteller zu einer weitverbreiteten vorsorglichen Kennzeichnung („kann Spuren von … enthalten“), die für den allergischen Verbraucher entweder die Lebensmittelauswahl stark einschränkt oder zu unvorsichtigem Verhalten führt, da Lebensmittel mit diesem Warnhinweis nach Erfahrung der Betroffenen oftmals vertragen werden. Ebenfalls zu diesem Themenkomplex gehört die Bewertung des Allergierisikos von Lebensmitteln aus gentechnisch veränderten Pflanzen. Die aktuellen internationalen Leitlinien zu dieser Thematik werden von Schauzu et al. zusammengefasst. Problematisch ist in diesem Kontext die Beurteilung von neuen Proteinen, mit denen das menschliche Immunsystem bisher keinen Kontakt hatte, da validierte Tiermodelle zur Vorhersage der Allergenität für den Menschen fehlen. Bei allen in der EU zugelassenen gentechnisch veränderten Pflanzen kam die European Food Safety Authority (EFSA) allerdings zu der Einschätzung, dass eine Veränderung der Allergenität unwahrscheinlich ist. Wissenschaftlich fundierte Berichte über vermehrte allergische Reaktionen im Zusammenhang mit gentechnischen Veränderungen in Nahrungspflanzen liegen bisher nicht vor.

Die in diesem Themenheft vorgelegte Standortbestimmung zeigt, dass allergischen Erkrankungen zu Recht große Aufmerksamkeit in der Fach- und Laienpresse entgegengebracht wird. Im Bereich der Produktsicherheit von Lebensmitteln ist mittelfristig – vermutlich auf EU-Ebene – mit der Festlegung von Höchstmengen für Allergenspuren in verarbeiteten Lebensmitteln zu rechnen. Der Markt für Therapieallergene wird vermutlich weiterhin erheblichen Veränderungen unterliegen: hin zu weniger Produktvielfalt, aber auch zu wesentlich besser definierten und besser geprüften Produkten. Deutschland stellt den größten Markt für Therapieallergene in Europa dar. Die Situation der Allergenhersteller – zumeist kleine bis mittelgroße Unternehmen – ist durchaus nicht unproblematisch. Naturgemäß muss zur spezifischen Behandlung der vielen unterschiedlichen Allergien eine große Produktvielfalt angeboten werden, aber gleichzeitig müssen oftmals hohe Investitionen für klinische Prüfungen zur Zulassung von TAV-Produkten bei gleichzeitig sinkenden Einnahmen aufgrund von Kostendämpfungsmaßnahmen und sinkenden Verordnungszahlen getätigt werden. Vor diesem Hintergrund verliert leider auch die klinische Allergologie derzeit an Attraktivität. Trotzdem ist auch Anlass zu einigem Optimismus gegeben, dahingehend, dass nach einer Konsolidierungsphase Therapieallergene mit verbesserter Verträglichkeit und Wirksamkeit, überprüft nach dem aktuellen State of the Art für biomedizinische Arzneimittel, sowie auch erste innovative Produkte für die spezifische Immuntherapie von Allergien für die klinische Praxis zur Verfügung stehen werden.

Ihr

Stefan Vieths