Liebe Leserinnen, liebe Leser,

gravierende Fälle von schwerer Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern mit Todesfolge haben dazu geführt, den Kinderschutz auf den Prüfstand zu stellen. 2006 wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) das Aktionsprogramm „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ auf den Weg gebracht. Ziel ist es, den Schutz von Kindern aus besonders belasteten Familien vor Vernachlässigung und Misshandlung durch Prävention, das heißt durch die Stärkung der Erziehungskompetenz ihrer Eltern, möglichst frühzeitig zu verbessern. Dies soll vor allem durch die bessere Verzahnung gesundheitsbezogener Leistungen und Jugendhilfeleistungen geschehen. Nach der Definition des wissenschaftlichen Beirates des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) tragen Frühe Hilfen dazu bei, „Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Eltern in Familie und Gesellschaft frühzeitig und nachhaltig zu verbessern. Neben alltagspraktischer Unterstützung wollen Frühe Hilfen insbesondere einen Beitrag zur Förderung der Beziehungs- und Erziehungskompetenz von (werdenden) Müttern und Vätern leisten. Damit tragen sie maßgeblich zum gesunden Aufwachsen von Kindern bei und sichern deren Rechte auf Schutz, Förderung und Teilhabe.“

Die Umsetzung des Aktionsprogramms erfolgt in enger Abstimmung mit den Bundesländern und den Kommunen. So haben Beschlüsse der Gesundheits- und der Jugend- und Familienministerkonferenz den Aufbau präventiver, gesundheitsbezogener und psychosozialer Hilfen zur Verstärkung des Kinderschutzes bekräftigt. Sie sprechen sich ebenfalls für eine stärkere systematische Vernetzung und Zusammenarbeit zwischen den Einrichtungen des Gesundheitswesens und der Jugendhilfe aus. Dieses Ziel wurde auf der Konferenz vom 19.12.2007 von der Bundeskanzlerin mit allen Regierungschefs der Länder bestätigt (BMFSFJ, 2007). Einigkeit bestand darüber, die bestehenden Anstrengungen von Bund, Ländern und Kommunen zu verstärken, um Vernachlässigung, Verwahrlosung und Misshandlung von Kindern vorzubeugen sowie schnell und wirksam Hilfen für Kinder in Not und überforderte Eltern bereitzustellen.

Seither sind zahlreiche gesetzliche Regelungen der Bundesländer zur Verbesserung des Kinderschutzes auf den Weg gebracht worden. Die meisten Länder haben verbindliche Einladungssysteme im Bereich der Früherkennungsuntersuchungen für Kinder installiert. Auf Bundesebene wurde das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) eingerichtet. Träger des NZFH sind die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und das Deutsche Jugendinstitut (DJI) mit Sitz bei der BZgA.

Auf der Basis von Praxiserfahrungen wurden im Rahmen des Aktionsprogramms Qualitätsanforderungen formuliert. Sie sind handlungsleitend für die initiierten Projekte und Maßnahmen und umfassen folgende Dimensionen:

  • systematisch und umfassend Zugang zur Zielgruppe finden,

  • Belastungen und Risiken frühzeitig erkennen,

  • Familien zur Annahme von Hilfen motivieren,

  • passgenaue Hilfen entwickeln,

  • kontinuierliches Monitoring,

  • Implementierung ins Regelsystem,

  • Vernetzung und verbindliche Kooperation der Akteure.

Frühe Hilfen wurden dadurch als neuer Hilfetypus auf den Weg gebracht. Das NZFH wurde im Rahmen des Aktionsprogramms eingerichtet, um die vielfältigen Aktivitäten von Ländern und Kommunen zu bündeln und den wechselseitigen Austausch sicherzustellen. Im NZFH sind Kompetenzen aus dem Gesundheitsbereich und dem Jugendhilfebereich im NZFH vorhanden und miteinander verzahnt. Durch die Generierung von Wissen und durch Wissenstransfer in die Praxis und die Öffentlichkeit soll das NZFH dazu beitragen, den wissenschaftlichen Diskurs zu Frühen Hilfen anzuregen, Frühe Hilfen systematisch in der Fachpraxis zu verankern und Frühe Hilfen als wirksames, präventives sowie dauerhaftes Unterstützungsangebot für (werdende) Eltern und ihre Kinder zu etablieren. In Kooperation mit Ländern und Kommunen werden derzeit bundesweit die Qualitätsanforderungen an Frühe Hilfen im Rahmen von Modellprojekten vom NZFH wissenschaftlich erprobt.

Insbesondere in den letzten drei Jahren hat die mediale Aufmerksamkeit und Berichterstattung zu Fällen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung zugenommen. Dies sagt aber noch nichts über die reale Verbreitung von Kindeswohlgefährdungen in Deutschland und auch nichts über einen möglichen Anstieg aus. Wie groß das reale Ausmaß der Kindeswohlgefährdung in Deutschland ist, kann derzeit nicht verlässlich gesagt werden. Anders als in Großbritannien, Kanada und den USA gibt es in Deutschland keine systematische Erfassung von Kindeswohlgefährdungen. Zum aktuellen Zeitpunkt können die vorliegenden Daten hierzu keine abschließende Antwort geben, da es in Deutschland keine ausreichend repräsentativen Ergebnisse über das gesamte Ausmaß von Kindesvernachlässigung und -misshandlung gibt. Aktuelle Prävalenzforschungen zu den Zielgruppen mit Hilfebedarf und den gefährdeten Kindern fehlen gänzlich. Es lassen sich aber aus der bisherigen Datenlage Hinweise finden, warum die Konzentration der Frühen Hilfen auf die frühkindliche Phase von besonderer Relevanz ist. Laut Todesursachenstatistik kamen in den letzten Jahren (1998 bis 2008) zwischen 40 und 66 Kinder unter zehn Jahren jährlich durch einen sogenannten tätlichen Angriff im Sinne des ICD 10 (Internationale Klassifikation der Krankheiten, 10. Revision) ums Leben. Dazu gehören verschiedene Formen der Misshandlung und Vernachlässigung (Statistisches Bundesamt, 2009). Betroffen sind vor allem Säuglinge und Kleinkinder, die meisten haben das erste Lebensjahr noch nicht vollendet. Durch die im Hellfeld bekannten Zahlen ist nicht von einer Steigerung, sondern vielmehr von einem Rückgang der zu Tode gekommenen Kinder auszugehen. Auch die Gesamtzahl der Kinder unter zehn Jahren, die durch tätlichen Angriff zu Tode gekommen sind, ist in den letzten 25 Jahren erheblich gesunken (Gesundheitsberichterstattung des Bundes, 2009).

Schätzungen der polizeilichen Kriminalstatistik, der Kinder- und Jugendhilfe und von Familiengerichten weisen darauf hin, dass zirka 30.000 Kinder pro Geburtsjahrgang ein erhöhtes Risiko für Vernachlässigung aufweisen, das sind 5% aller Kinder. Darunter befinden sich vor allem Kinder im Alter von null bis drei Jahren. Auch Ergebnisse einer allerdings nicht repräsentativen Jugendamtsbefragung weisen darauf hin, dass insbesondere Kleinkinder von Vernachlässigung betroffen sind (Münder 2000).

Im Jahr 2009 wurden 3239 Kinder unter drei Jahren in Obhut genommen. Zwischen 1995 und 2001 wurde ein Anstieg um zirka 40% verzeichnet. In den Folgejahren bleiben die Fallzahlen vergleichsweise konstant. Seit der Einführung des § 8a SGB VIII im Jahr 2005 wächst die Zahl der Inobhutnahmen: zwischen 2005 und 2009 um zirka 81% bei Kindern bis zu drei Jahren (Statistisches Bundesamt, 2010). Je jünger die Kinder sind, desto häufiger folgt der Inobhutnahme die Unterbringung in einer Pflegefamilie oder in einem Heim (etwa 40% der unter Sechsjährigen). Die Zahl der Sorgerechtsentzüge ist bei Eltern mit Kindern bis zu drei Jahren am höchsten (KOMDAT-Jugendhilfe, 2006).

Die hier aufgeführten Zahlen können allerdings nur Anhaltspunkte für eine Entwicklung geben. Sie sagen aber größtenteils eher etwas über die Reaktion der Jugendämter und Verfolgungsbehörden aus als über die realen Zahlen von Kindesvernachlässigung und -misshandlung. So weisen insbesondere die ansteigenden Zahlen in der polizeilichen Kriminalstatistik zu Körperverletzungen gegen Kinder zunächst auf eine erhöhte öffentliche Sensibilität bei Kindeswohlgefährdungen hin und bringen ein verändertes Anzeigeverhalten zum Ausdruck. Unabhängig von dem vorliegenden statistischen Material in diesem Bereich, ist jeder Fall von Kindesvernachlässigung und -misshandlung einer zu viel und erfordert ein entschiedenes Handeln, um diese Form der Gewalt erst gar nicht entstehen zu lassen. Eine Fokussierung der Frühen Hilfen auf diese Altersgruppe wird durch die bekannten Daten plausibel, vor allem durch das Wissen, dass Beeinträchtigungen, die im frühen Kindesalter eintreten, sich manifestieren können und häufig schwerwiegende Folgen für das gesamte weitere Leben nach sich ziehen.

Es besteht erheblicher Forschungsbedarf hinsichtlich verlässlicher Daten zu Kindesvernachlässigung und -misshandlung. Die bislang zur Verfügung stehenden Daten aus den offiziellen Gesundheits-, Kriminal- und Sozialstatistiken geben nur ein eingeschränktes Bild wieder (Fendrich et al.).

Voraussetzung für interdisziplinäres und systemübergreifendes Arbeiten ist die Kenntnis der jeweiligen Systemlogiken und die Gestaltung von Schnittstellen, um Systemgrenzen zu überwinden und zu einem integrierten Hilfesystem, orientiert an den Bedarfen der Hilfeempfänger, zu gelangen (Thyen). Auch der 13. Kinder- und Jugendbericht zieht das Fazit, dass Angebote der Kinder- und Jugendhilfe und des Gesundheitssystems systematisch miteinander zu koordinieren sind. Bindung und Autonomie sind die primären Entwicklungsthemen in der ersten Lebensphase und sind nicht nur der Pädagogik und Psychologie vorbehalten, sondern sind gesundheitsbezogene Entwicklungsthemen (Keupp). Inwieweit vernetztes Arbeiten zwischen Gesundheitssystem und Kinder- und Jugendhilfe im Bereich der Frühen Hilfen bereits umgesetzt wird, zeigt eine bundesweite Bestandsaufnahme bei den Gesundheits- und Jugendämtern (Sann et al.). Die übergreifende Auswertung der Modellprojekte zu Frühen Hilfen bestätigt die Annahme, dass die Akteure des Gesundheitswesens über gute Zugangsmöglichkeiten zu den Zielgruppen Früher Hilfen verfügen, sich aber die Kooperation und Vernetzung im System der Frühen Hilfen schwierig gestaltet (Renner). Um die Zugänge zu schwer erreichbaren Familien in Problemlagen über das Gesundheitssystem lückenloser zu gestalten, haben die meisten Bundesländer verbindliche Einladesysteme im Bereich der Früherkennungsuntersuchungen bei Kindern auf den Weg gebracht (Thaiss et al.). Das niedrigschwellige aufsuchende Angebot der Familienhebammen, das derzeit vielerorts im Rahmen der Frühen Hilfen eingeführt wird, genießt das Vertrauen der Familien mit hohen Belastungen und erfüllt somit die Anforderungen des guten Zugangs zu den Zielgruppen der Frühen Hilfen (Makowksy et al.). Auch wenn es gelungen ist, einen breiten Zugang zu Eltern über die Früherkennungsuntersuchungen, Familienhebammen oder Geburtskliniken herzustellen, bleibt die Frage nach zuverlässigen Screeningverfahren, um Risiken frühzeitig zu erkennen und passgenaue Hilfen anbieten zu können (Kindler). Frühe Hilfen sind im Kontext von Kinderschutz und Gefahrenabwehr initiiert worden. Ressourcenorientierte Fragestellungen wie in der Resilienzforschung können die Chance bieten, den bislang noch eher am Risiko fokussierten Blick der Frühen Hilfen erweitern zu helfen (Lyssenko et al.). Die Annäherung zweier Systeme erfordert auch immer die Auseinandersetzung und die Verständigung über Konzepte und wissenschaftlichen Standards, die den jeweiligen Disziplinen zugrunde liegen. So stellt sich die Frage, ob eine zunehmende Evidenzbasierung in der Forschung, die zum Beispiel in der wissenschaftlichen Wirkungsforschung bereits verstärkt Berücksichtigung findet, auch neue Entwicklungen in der Kinder- und Jugendhilfe anstoßen kann (Lengning und Ziegler).

Ihre

Elisabeth Pott