Liebe Leserin, lieber Leser,

eine Reihe von Krisen im Bereich der Lebens- und Futtermittel, wie zum Beispiel der Olivenölskandal in Spanien Anfang der 1980er-Jahre mit Hunderten von Todesopfern oder die Dioxinfunde in Hühnereiern und Hühnerfleisch in Belgien Ende der 1990er-Jahren nach Verwendung von kontaminiertem Altöl im Hühnerfutter, haben die Effizienz der damals geltenden Lebensmittelvorschriften in der Europäischen Union zunehmend in ein schlechtes Licht gerückt. Vor allem aber war es die in den 1980er-Jahren von Großbritannien ausgehende und bis in das neue Jahrhundert andauernde BSE-Krise, die in Europa eine neue Aufmerksamkeit auf die Sicherheit von Lebensmitteln und zugleich auf den ganzen Bereich der Verbrauchersicherheit fokussierte und die Institutionen der Europäischen Union veranlasste, Maßnahmen zu ergreifen, um ein hohes Verbraucherschutzniveau zu gewährleisten und auf diese Weise das Vertrauen der Verbraucher wiederherzustellen. Die Europäische Kommission kündigte an, die Förderung eines hohen Standards der Lebensmittelsicherheit zu einer ihrer politischen Prioritäten zu machen, und schlug im „Weißbuch zur Lebensmittelsicherheit“ von 2000 konkrete Schritte dazu vor.

Im Gefolge dieser Vorgänge kam es zu grundlegenden Veränderungen in der Organisation des Verbraucherschutzes auf nationaler und europäischer Ebene. Die Veränderungen betreffen nicht das Rechtsetzungsverfahren als solches, das heißt nicht das Zusammenspiel des „institutionellen Dreiecks“ aus der EU-Kommission, bei der das Vorschlagsrecht für neue Gesetzesvorhaben liegt, dem Europäischem Parlament, das Veränderungen an den Vorschlägen der Kommission einbringen kann, und dem Rat der EU, der die neuen Rechtsvorschriften zusammen mit dem Parlament verabschiedet. Es ist vielmehr die Organisation der Risikoanalyse im Verbraucherschutz mit den drei Schritten Risikobewertung (wissenschaftliche Beratung), Risikomanagement (Rechtsetzung und Überwachung) und Risikokommunikation, die sich auf europäischer Ebene und in einigen Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, gewandelt hat: Früher lagen diese drei Funktionsbereiche in einer Hand. In der EU war dies – auch auf dem Gebiet der Lebensmittelsicherheit – die Kommission mit ihren Generaldirektionen, unterstützt durch die wissenschaftlichen Beratungsausschüsse, in Deutschland war es auf diesem Gebiet vor 2002 das Bundesinstitut für Verbraucherschutz und Veterinärmedizin (BgVV) als wissenschaftlich arbeitende Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft und seine Vorgängerorganisationen. Das „Weißbuch zur Lebensmittelsicherheit“ von 2000 propagierte demgegenüber die Trennung von nur der wissenschaftlichen Erkenntnis verpflichteter Risikobewertung und dem Risikomanagement, das auch gesellschaftliche und ökonomische Aspekte mit heranzuziehen hat.

Tatsächlich wurde eine unabhängige Europäische Lebensmittelbehörde (European Food Safety Authority, EFSA) 2002 mit Sitz in Parma gegründet. Zu ihrem Aufgabenbereich gehören die Lebensmittel- und Futtermittelsicherheit, Ernährung, Tiergesundheit und Tierschutz sowie Pflanzengesundheit. Die vorher bestehenden wissenschaftlichen Beratungsausschüsse der Kommission zu Themen der Lebensmittelsicherheit wurden 2003 in die EFSA integriert Die Kommission als Exekutive der EU ist dafür zuständig, auf Basis der Gutachten und Empfehlungen der EFSA die geeigneten Risikomanagementmaßnahmen in die Wege zu leiten. Eigene Risikobewertungsaufgaben hat die Kommission weiterhin im Bereich Verbrauchersicherheit, öffentliche Gesundheit und Umwelt. Sie unterhält gegenwärtig drei wissenschaftliche Beratungsausschüsse für diese Bereiche. Diese bestehen aus unabhängigen Wissenschaftlern, deren Aufgabe es ist, der Kommission mit wissenschaftlichen Gutachten zu aktuellen Fragen (Scientific Opinions) zuzuarbeiten. Innerhalb der Kommission ist die Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz (Directorate General for Health and Consumer Affairs, DG Sanco) für den Verbraucherschutz, die Generaldirektion Umwelt (Directorate General Environment) für den Bereich Trinkwasser zuständig.

Deutschland ist auf dem Weg der Trennung von Risikobewertung und Risikomanagement im Verbraucherschutz noch einen Schritt weiter gegangen: Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) mit Sitz in Berlin, eine rechtlich selbstständige Anstalt des öffentlichen Rechts, angesiedelt im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV), ist nicht nur wie die EFSA für den Bereich Lebensmittel- und Futtersicherheit zuständig, sondern für den gesamten Bereich des Verbraucherschutzes, der außer dem Lebensmittel- und Futtermittelbereich auch die Bereiche Bedarfsgegenstände, kosmetische Mittel, Biozide, Chemikalien und Vergiftungsmeldungen umfasst. Die Verantwortlichkeit für die Risikobewertung im Bereich Trinkwasser liegt beim Umweltbundesamt (UBA) mit Sitz in Dessau, das zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) gehört. Aber nicht nur staatliche Behörden sind in der Risikobewertung tätig. Ein Mandat für die Politikberatung liegt auch bei einigen nichtstaatlichen Organisationen. So berät die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Selbstverwaltungsorganisation der Wissenschaft in Deutschland, durch ihre Senatskommissionen Parlamente und Behörden zu wissenschaftlichen Fragen. Die Seite des Risikomanagements wird in Deutschland vertreten durch das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) mit Sitz in Braunschweig und Berlin, eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV). Das BVL ist auch die Zulassungsbehörde für Pflanzenschutzmittel, Tierarzneimittel und Novel Foods.

Im vorliegenden Schwerpunktheft sind nun Beiträge von Vertretern einer Reihe der genannten Institutionen zusammengefasst, die eine Innenansicht dieser Struktur vermitteln. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Lebensmittelbereich; stellvertretend für die übrigen Bereiche des Verbraucherschutzes wird auch ein Blick auf Risikobewertung und Risikomanagement von kosmetischen Mitteln geworfen.

Zunächst beschreiben Kilian und Bromen von der Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz der EU-Kommission die Arbeitsweise der Wissenschaftlichen Ausschüsse der Kommission für Verbrauchersicherheit (Scientific Committee on Consumer Safety, SCCS), für Gesundheits- und Umweltrisiken (Scientific Committee on Health and Environmental Risks, SCHER) und für neu auftretende und neu identifizierte Gesundheitsrisiken (Scientific Committee on Emerging and Newly Identified Risks, SCENHIR). Appel und Abraham aus dem Bundesinstitut für Risikobewertung lassen einige Problemstoffe aus dem Lebensmittelbereich Revue passieren, die in den letzten Jahren für eine Verunsicherung der Verbraucher gesorgt haben, zum Beispiel das beim Erhitzen von kohlenhydratreichen Lebensmitteln entstehende Acrylamid oder die in Margarinen und Bratfetten vorkommenden Trans-Fettsäuren, die mit dem Herzinfarktrisiko in Zusammenhang gebracht werden, und geben Einblick in den Risikobewertungsprozess für solche Stoffe. Rechtliche Aspekte zum Verbraucherschutz aus Sicht der mit dem Risikomanagement in diesem Sektor beauftragten Bundesoberbehörde, des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, werden von Püster beleuchtet. Sie schildert den Prozess der strukturellen Neuordnung des Verbraucherschutzes auf Bundesebene seit Beginn des neuen Jahrhunderts und geht auf die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern im Bereich des Risikomanagements im gesundheitlichen Verbraucherschutz ein. Guth et al. geben einen Überblick über die Zusammensetzung und die Arbeitsweise der für den Bereich der Lebensmittelsicherheit zuständigen Senatskommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Senatskommission zur gesundheitlichen Bewertung von Lebensmitteln (SKLM). Für eine Auswahl der Stoffe und Verfahren, zu denen die SKLM in der Vergangenheit Stellungnahmen erarbeitet beziehungsweise Symposien organisiert hat, stellt der Artikel den wissenschaftlichen Hintergrund dar.

In den folgenden Beiträgen behandeln Autoren aus dem Bundesinstitut für Risikobewertung einzelne Gruppen von Lebensmittelinhaltsstoffen, die durch europäisches und nationales Recht geregelt sind. Zusatzstoffe zu Lebensmitteln dürfen in der EU grundsätzlich nur verwendet werden, wenn sie ein Zulassungsverfahren durchlaufen haben. Der Artikel von Gürtler beschreibt das Vorgehen bei der gesundheitlichen Bewertung der Zusatzstoffe und illustriert an den konkreten Fallbeispielen des Süßstoffs Aspartam und einiger Lebensmittelfarbstoffe die Auseinandersetzung der beteiligten europäischen und nationalen Behörden mit neuen wissenschaftlichen Daten. Gegenstände und Materialien, die bestimmungsgemäß mit Lebensmitteln in Berührung kommen, können ein gesundheitliches Risiko für den Verbraucher darstellen. Die größte Bedeutung haben dabei Materialien aus Kunststoff, deshalb existieren hierfür umfangreiche Regelungen auf europäischer Ebene und in Deutschland. Wölfle und Pfaff stellen die Probleme der Risikobewertung in diesem Bereich dar. Mit großer Besorgnis verfolgt die Öffentlichkeit jedes Jahr wieder die Berichte über Rückstände von Pflanzenschutzmitteln in Obst und Gemüse, besonders solchen, die für die Babynahrung bestimmt sind. Banasiak et al. zeigen den toxikologischen und rechtlichen Rahmen für die Festsetzung von Rückstandshöchstmengen von Pflanzenschutzmitteln auf und erläutern die Verfahren zur Abschätzung der kurzfristigen und der lebenslangen Exposition gegenüber diesen Stoffen.

Neuartige Lebensmittel und Lebensmittelzutaten unterliegen in der EU einem Anmelde- und Genehmigungsverfahren, das durch die kürzlich revidierte Novel-Foods-Verordnung vorgeschrieben ist. Die Gesichtspunkte, die bei der Sicherheitsbewertung neuartiger Lebensmittel zu beachten sind, werden im Beitrag von Schumann und Pöting erklärt. An einigen praktischen Beispielen, zum Beispiel der Exposition gegenüber Lebensmitteln mit Phytosterolzusatz, werden die hierbei entstehenden Probleme deutlich gemacht. Ein besonders sensibles Thema sind Lebensmittel aus gentechnisch veränderten Pflanzen. Pöting und Schauzu werfen in ihrem Artikel ein Licht auf die biochemischen und molekularbiologischen Hintergründe und legen die Bewertungsstrategie für solche Lebensmittel dar. Sie unterliegen einem Zulassungsverfahren, in dem bewiesen werden muss, dass die aus gentechnisch veränderten Pflanzen hergestellten Lebensmittel genau so sicher sind wie das entsprechende Lebensmittel aus der konventionellen Pflanze. Der Artikel von Deischl et al. aus dem Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit widmet sich einem Kernthema der Debatte um die Lebensmittelsicherheit der letzten 20 Jahre: der bovinen spongiformen Enzephalopathie (BSE). Die Autoren schildern die Geschichte dieser Rinderepidemie, die Verknüpfung mit der varianten Form der menschlichen Creuzfeldt-Jacob-Krankheit (vCJK) und die politischen Auswirkungen dieses prototypischen Lebensmittelskandals. Der Beitrag von Beekes befasst sich weiterführend mit der Epidemiologie und den Schutzmaßnahmen gegen eine vCJK-Übertragung von Mensch zu Mensch.

In den beiden abschließenden Artikeln wechselt der Fokus von den Lebensmitteln zu den kosmetischen Mitteln. Aus dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit kommentieren Butschke und Droß die Veränderungen, die die Implementierung der ab Juli 2013 gültigen EU-Kosmetik-Verordnung nach sich ziehen wird. Die Zusammenarbeit von EU, Bund und Ländern bei der Marktüberwachung wird dargestellt, und eine Reihe von neuen Herausforderungen wie das Vordringen der Nanotechnologie im Kosmetikbereich wird angesprochen. Abschließend schildern Platzek et al. aus dem Bundesinstitut für Risikobewertung die Grundzüge der gesundheitlichen Bewertung von Bestandteilen kosmetischer Mittel. Sie weisen auf die Probleme hin, die die eng gesteckten Fristen zum Verbot von Tierversuchen für die Risikobewertung kosmetischer Mittel bereiten. Eine detaillierte Beschreibung des Bewertungsverfahrens für zwei konkrete Problemfälle, Diethylenglykol in Zahnpasten und Borsäure in Lippenpflegemitteln, runden den Artikel ab.

Einer der Autoren äußert die persönliche Einschätzung, dass der gesundheitliche Verbraucherschutz im Bereich der Lebensmittelsicherheit in Europa ein recht hohes Niveau erreicht hat. Die Koordinatorin des Schwerpunktheftes teilt diese Einschätzung, auch deshalb, weil die Organisation des an Risikobewertung, Risikomanagement und Risikokommunikation beteiligten Netzwerkes von Institutionen die Berücksichtigung neuer wissenschaftlicher Daten nicht nur erlaubt, sondern begünstigt. Nur eine dynamische Struktur der Risikoanalyse kann dem Verbraucher die Sicherheit geben, die sein Vertrauen rechtfertigt.

Ihre

Regina Kahl