Contra-Statement

Zunächst betrachten wir die Notwendigkeit für eine Liberalisierung des Nüchternheitsgebotes und dann im zweiten Schritt die Validität der dafür angeführten Daten:

  1. 1.

    Mit der bestehenden Regelung von 2 h für klare Flüssigkeiten werden bei Kindern Nüchternzeiten von 6 bis 15 h erreicht [1]. Diese seien mit kritischen Effekten assoziiert. Demgegenüber senkt die Verkürzung der Nüchternzeiten von 8,5 auf 6 h präoperative Ketonkörper von 0,6 ± 0,6 auf 0,2 ± 0,2 mmol l−1. Bei denselben Kindern war der arterielle Mitteldruck nach Anästhesieeinleitung um 5 mm Hg höher bei verkürzter Nüchternzeit [2]. In einer aktuellen Arbeit war in einem großen pädiatrischen Kollektiv bei Verlängerung der Nüchternzeiten von 2 bis 4 h auf 4 bis über 20 h die Inzidenz niedriger systolischer Blutdrücke nach Anästhesieeinleitung ebenfalls erhöht [3]. Absolute Blutdruckwerte wurden nicht berichtet. Bei Betrachtung der Daten und der daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen drängt sich der Gedanke auf, dass aus statistischer Signifikanz deren klinische Relevanz abgeleitet wurde. Vor Diskussion der von uns in Abrede gestellten klinischen Relevanz sollten wir klären, wie präoperative Nüchternzeiten von 6 bis über 20 h vor dem Hintergrund der aktuellen Empfehlungen von 2 h zustande kommen. Es scheint also vielmehr zunächst geboten, organisatorische Veränderungen in den betroffenen Kliniken einzufordern, die das Erreichen der aktuell empfohlenen 2 h Nüchternzeit für klare Flüssigkeiten zuverlässig ermöglicht. Zusammenfassend sollte das Nichteinhalten bewährter Regeln bei pädiatrischen Patienten nicht dazu führen, für möglichst alle Altersgruppen geltende Regelungen zur Nüchternzeiten zu liberalisieren.

  2. 2.

    Da die perioperative pulmonale Aspiration mittlerweile ein seltenes Ereignis ist, bedarf es zur Beurteilung einer neuen NPO(nil per oral)-Regel multizentrischer Interventionsstudien mit großen Fallzahlen. Somit können die angeführten Observationsstudien mit Fallzahlen einfach reziprok der Inzidenz der primären Zielvariablen keine wissenschaftliche Evidenz liefern [4]. Vor diesem Hintergrund erscheint den Protagonisten die Reduktion auf das Magenvolumen als Surrogat-Variable für das Aspirationsrisiko attraktiv [5]. Während ein hohes Magenvolumen plausibel mit einem hohen Aspirationsrisiko assoziiert ist, muss die Validität des Umkehrschlusses allerdings noch dargelegt worden. Bei den meisten Studien, die bei gesunden Kindern ohne geplante operative Behandlung durchgeführt wurden, wird die hohe interindividuelle Variabilität der Magenentleerung nach Flüssigkeitsaufnahme betont. Daher müssten nicht der Mittelwert oder Median, sondern eher die Häufigkeit von Ausreißern mit präoperativ verzögerter Magenentleerung im Zeitverlauf betrachtet und deren Relevanz für das Auftreten einer Aspiration eindeutig geklärt werden. Damit erscheint die Validität der von den Protagonisten zitierten Studienergebnisse nicht gegeben.

Empfehlungen müssen einfach strukturiert und möglichst bei allen Patienten (z. B. auch solchen mit latenter diabetischer Neuropathie) und nicht nur von den geschicktesten Anästhesisten mit einem ausreichenden „margin of safety“ anwendbar sein. Diesen „margin of safety“ würden wir mit einer Liberalisierung der Nüchternzeiten ohne Not und Evidenz aufgeben.