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Autonomie und Fürsorge in der Intensivmedizin

Praktisches Vorgehen in schwierigen Situationen

Autonomy and welfare in intensive care medicine

Practical approach in difficult situations

Zusammenfassung

Auf Intensivstationen werden oft kurzfristig für den Patienten weitreichende Entscheidungen getroffen. Dazu bedarf es der Einwilligung des aufgeklärten Patienten. Ist diese aufgrund seines Zustands nicht möglich, müssen Ärzte und rechtmäßige Vertreter den vorab geäußerten oder mutmaßlichen Willen des Patienten ermitteln und entsprechend handeln. Rechtliche Grundlagen finden sich im „Patientenverfügungsgesetz“ und im „Patientenrechtegesetz“. Die Durchführung diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen setzt außerdem deren Indikationen, die anhand des zuvor formulierten Therapieziels beurteilt werden, voraus. Um Konflikte zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Patienten und ärztlicher Fürsorge zu vermeiden, ist das Therapieziel regelmäßig zu hinterfragen, mit Patienten, Vertretern oder Angehörigen zu besprechen und schriftlich zu dokumentieren. Checklisten können für strukturierte Gespräche helfen, Transparenz herzustellen und Missverständnisse zu vermeiden. Ethikkonsile können in schwierigen Situationen vermitteln.

Abstract

In intensive care units far-reaching decisions are often made at short notice that require the consent of the informed patient. If this is not possible due to the patient’s condition, physicians and legal representatives must ascertain the previously expressed or presumed will of the patient and act accordingly. The legal principles are specified in the Patient Advance Directives Act and the Patient Rights Act. Any indications for medical treatment need a clearly defined aim of the therapy, which can be questioned during the progress of the disease. To avoid conflicts between patient autonomy and medical treatment, the aims of therapy must be regularly discussed with the patient, representatives or relatives and documented in a written form. Checklists can be useful for structured consultations, to promote transparency and to avoid misunderstandings. Ethics consultations can help to deescalate critical situations.

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Abb. 1
Abb. 2

Literatur

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Authors and Affiliations

Authors

Corresponding authors

Correspondence to M. Gruß or F. Salomon.

Ethics declarations

Interessenkonflikt

M. Gruß und F. Salomon geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.

Additional information

Redaktion

H. Forst, Augsburg

A. Heller, Dresden

T. Fuchs-Buder, Nancy

M. Weigand, Heidelberg

Zur besseren Lesbarkeit wird im vorliegenden Beitrag die männliche Form verwendet; grundsätzlich sind beide Geschlechter gemeint.

CME-Fragebogen

CME-Fragebogen

Welche Grundvoraussetzung neben der Zustimmung des Patienten benötigt es, damit die Rechtmäßigkeit eines medizinischen Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit gegeben ist?

Schriftliche Einverständniserklärung

Vorhandene Patientenverfügung

Positives Kosten-Nutzen-Verhältnis

Gültige Krankenversicherung

Medizinische Indikation

Wie sollte das Vorgehen bei kritisch erkrankten Intensivpatienten hinsichtlich der Entscheidung zu Therapiemaßnahmen aussehen?

Die ärztliche Fürsorge verpflichtet zu lebenserhaltenden Maßnahmen auch gegen den Willen des Patienten.

In Akutsituationen sollte zunächst eine Therapie begonnen werden, die im Verlauf mit dem Patienten bzw. seinen Angehörigen reflektiert und besprochen wird.

Eine vorliegende Patientenverfügung ist aufgrund der oft akuten Erkrankung/Verschlechterung generell für die Ärzte nicht bindend.

Der behandelnde Arzt hat über die weitere Therapie zu entscheiden, da Patienten und Angehörige die komplexen Krankheitsabläufe regelmäßig nicht verstehen können.

Die Notwendigkeit zur Zustimmung des Patienten entfällt grundsätzlich dann, wenn er aufgrund medizinisch notwendiger Sedierung nicht ansprechbar ist.

Wer ist für die Einwilligung zu medizinischen Maßnahmen beim Intensivpatienten zuständig?

Betreuer, wenn ein solcher bestellt wurde – auch bei wachen und einwilligungsfähigen Patienten.

Patient, wenn dieser Art, Ausmaß und mögliche Folgen der Maßnahme abschätzen kann.

Nahe Angehörige, wenn der Patient z. B. aufgrund einer Sedierung nicht ansprechbar ist.

Keine detaillierte Aufklärung notwendig, da Patienten und Angehörige die komplexen Krankheitsabläufe regelmäßig nicht verstehen können.

Betreuungsgericht bei lebensbedrohlichen Eingriffen.

Was ist bei potenziell lebensbedrohlichen Maßnahmen bzw. Eingriffen bezüglich der Einwilligung zu beachten?

Sie dürfen grundsätzlich nicht durch einen gerichtlich eingesetzten Betreuer bzw. einen Bevollmächtigten genehmigt werden.

Sie sollten bei medizinischer Indikation immer durchgeführt werden, da sich Patienten auch von sehr schweren Erkrankungen erholen können.

Sie sollten bei Vorliegen einer Patientenverfügung grundsätzlich unterlassen werden.

Sie dürfen auch bei vitaler Gefährdung grundsätzlich nur nach der Zustimmung des Betreuers durchgeführt werden.

Sie dürfen durch einen gerichtlich eingesetzten Betreuer bzw. einen Bevollmächtigten genehmigt werden, wenn Sie medizinisch indiziert sind und die Einwilligung dem Willen des Patienten entspricht.

Wie ist Ihr sinnvolles Vorgehen zu einer suffizienten Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens?

Kann der Patient aktuell nicht selbst entscheiden, ist ein vorausverfügter Wille rechtlich nur gültig, wenn er schriftlich im Sinne einer Patientenverfügung vorliegt.

Früher getätigte mündliche Äußerungen des Patienten, z. B. gegenüber den behandelnden Ärzten, haben in lebensbedrohlichen Situationen keine rechtliche Bedeutung.

Angehörige haben bei der Ermittlung des Patientenwillens nur dann ein Mitspracherecht, wenn sie rechtlich eingesetzte Betreuer bzw. Bevollmächtige sind.

Kann der Patient aktuell nicht selbst entscheiden, müssen die behandelnden Ärzte und die Angehörigen nach ihren eigenen Wertevorstellungen und Wünschen handeln.

Gibt es in Notfallsituationen keine Informationen über den Willen des Patienten, so muss zum Wohle des Patienten, d. h. für das Leben des Patienten entschieden werden.

Bei einem Patienten ist aufgrund einer langfristigen intensivmedizinischen Behandlung eine gesetzliche Betreuung eingerichtet. Der Patient selbst ist klar und orientiert. Er kann die Folgen eines geplanten Eingriffs selbst abschätzen. Von wem muss die Einverständniserklärung für einen geplanten Eingriff eingeholt werden?

Nahe Angehörige

Gesetzlicher Betreuer

Patient

Medizinisches Behandlungsteam

Betreuungsgericht

Welches Vorgehen hinsichtlich Therapiezieldefinition entspricht aktuellen Empfehlungen?

Bereits zu Beginn einer Behandlung sollte ein Therapieziel klar formuliert werden und im Verlauf regelmäßig hinterfragt werden.

Ein Therapieziel sollte möglichst vage formuliert werden, um sich verschiedene Therapieoptionen und Maßnahmen für den weiteren Verlauf offenzuhalten.

Absprachen zum Therapieziel sollten auch aus rechtlichen Gründen nicht schriftlich in der Akte hinterlegt werden.

Ein im Verlauf einmal festgelegtes Therapieziel sollte konsequent verfolgt und möglichst nicht mehr hinterfragt werden, um Patienten und Angehörigen ein „Hin und Her“ zu ersparen.

Eine Begrenzung oder gar Beendigung lebensverlängernder Maßnahmen muss in der Intensivmedizin möglichst vermieden werden.

Wer sollte in die Entscheidungsfindung zur Festlegung des Therapieziels miteingebunden werden?

Äußerungen von Angehörigen sollten nicht berücksichtigt werden, wenn diese nicht Betreuer bzw. Bevollmächtigte sind.

Behandelnde Chefärzte sind alleine verantwortlich, da sie die Verantwortung für die Patientenversorgung tragen.

Kostenträger, meistens die entsprechende Krankenkasse – auch wirtschaftliche Aspekte sollten berücksichtigt werden.

Lediglich erfahrene Ärzte mit Facharztqualifikation, da nur sie eine entsprechende Erfahrung in der Vorhersage komplexer Krankheitsverläufe haben.

Pflegende sollen grundsätzlich einbezogen werden, da sie meist eine stärkere Nähe zum Patienten und den Angehörigen haben als Ärzte.

Wie gehen Sie bei problematischen Entscheidungsfindungen bei Patienten aus anderen Kulturkreisen am besten vor?

Aus Gründen der Gerechtigkeit müssen die gleichen Wertvorstellungen wie bei christlichen Patienten angelegt werden.

Bei Sprachbarrieren nach Möglichkeit sollten enge Angehörige dolmetschen, da diese die familiäre Situation besser einschätzen können.

Bei Patienten aus anderen Kulturkreisen sollten nach Möglichkeit örtliche kompetente Ansprechpartner miteinbezogen werden (Imame etc.).

Von den verschiedenen Religionsgemeinschaften gibt es bundesweit einheitliche und verbindliche Vorgaben zum Vorgehen.

Das Vorgehen sollte nach Möglichkeit eher vage beschrieben werden, um potenzielle Konflikte zu vermeiden.

Was ist die Zielsetzung der klinischen Ethikberatung?

Übernahme der Verantwortung von im klinischen Alltag eingebundenen Ärzte und Pflegenden in schwierigen Situationen.

Verbindliche Vorgabe des weiteren Therapieziels im entsprechenden Patientenfall.

Betrachtung und Erörterung ethischer Fragen aus unterschiedlichen, interdisziplinären Blickwinkeln mit Aussprechen von Empfehlungen.

Verpflichtende Einschaltung einer Ethikberatung zur Konsensbildung immer dann, wenn zwischen behandelnden Ärzten, Pflegekräften und Angehörigen keine Einigkeit erzielt werden kann

Ultima Ratio zur Entscheidungsfindung bei ethischen Fragestellungen grundsätzlich nur dann, wenn anderweitig keine Lösung erzielt werden konnte.

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Gruß, M., Salomon, F. Autonomie und Fürsorge in der Intensivmedizin. Anaesthesist 65, 875–888 (2016). https://doi.org/10.1007/s00101-016-0222-z

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/s00101-016-0222-z

Schlüsselwörter

  • Patientenwille
  • Einwilligung
  • Therapieziel
  • Entscheidungsfindung
  • Rechtsfragen

Keywords

  • Patient’s will
  • Informed consent
  • Therapeutic goal
  • Decision making
  • Legal aspects