Das „Buch des Lebens“ – so nannte der Leiter des Human Genome Project, Francis Collins, die erste Fassung des vollständig sequenzierten menschlichen Erbguts, die er der Welt am 26.06.2000 im Weißen Haus vorstellte. Die Präsentation hatte historische Dimensionen. Die Botschafter der beteiligten Nationen hatten sich versammelt. Der amerikanische Präsident Bill Clinton sprach einleitende Worte; der britische Premierminister Blair war live zugeschaltet.

Die Medien überschlugen sich. Forscher und Mäzene fühlten sich beflügelt, dieses „Buch des Lebens“ nun in ihr wissenschaftliches Lektorat zu nehmen. Seine Sprache sollte entschlüsselt, seine endgültige Gestalt beschrieben werden. Die Vision einer personalisierten Medizin stand vor aller Augen. Es herrschte Aufbruchstimmung.

Das „Buch des Lebens“ hat eine wechselvolle Geschichte

Doch das „Buch des Lebens“ hat eine wechselvolle Geschichte. Als klar wurde, dass sich die genetische Variabilität zwischen den Menschen auf lediglich 1% des Genoms beschränkte, mischte sich früh Ernüchterung in die Euphorie. War das möglich? Konnte ein einziges Prozent der Desoxyribonukleinsäure („deoxyribonucleic acid“, DNA) aus dem Model Heidi Klum den Boxer Wladimir Klitschko oder den aktuellen US-Präsidenten Barack Obama machen? Die Vermutung drängte sich auf, dass es nicht allein unterschiedliche Basenabfolgen waren, die über Aussehen, Intelligenz, Krankheit, Tod oder Anästhesierisiko entscheiden.

Kritiker mahnten deshalb zur Zurückhaltung. Zu einem Zeitpunkt, da sich die wissenschaftliche Lektoratsarbeit am „Buch des Lebens“ gerade einmal mit dem Inhaltsverzeichnis abmühte, sei es verfrüht, das gesamte Werk zu rezensieren.

Bereits seit der ersten Veröffentlichung des „Buch des Lebens“ wird die Assoziation von „single nucleotide polymorphisms“ (SNP) mit Krankheitsrisiken und -verläufen intensiv erforscht sowie kontrovers diskutiert. Abhängig von ihrer Lokalisation im Verhältnis zum betroffenen Gen können SNP die Proteinsequenz, die Aktivität des Gens oder durch Veränderung der Botenribonukleinsäure (Spleißen der „messenger-RNA“) im Zellkern die grundsätzliche Funktion und Gestalt des Genprodukts beeinflussen. Funktionslose SNP in Introns, also nichtcodierenden Abschnitten eines Gens, können somit auf eine funktionelle genetische Variante hinweisen, da sie oftmals in Abhängigkeit von funktionellen SNP vererbt werden (Kopplungsungleichgewicht).

Inzwischen sind mehr als 13 Mio. SNP bekannt. Zwischen 2000 und 2013 wurden 100.000 Assoziationsstudien durchgeführt. Dennoch ist zurzeit nur eine geringe Zahl von SNP bekannt, die reproduzierbar mit physiologischen und pathophysiologischen Prozessen im menschlichen Organismus assoziiert sind und als Biomarker genutzt werden können.

Trotz enormer Forschungsaktivitäten ist die Erkenntnislage i. Allg. also unbefriedigend geblieben. Der Grund dafür liegt u. a. darin, dass Assoziationsstudien bisher zu oft nach dem Schrotschussprinzip und ohne arbeitshypothetische Untermauerung durchgeführt wurden. Ergebnisse konnten deshalb nur in wenigen Fällen reproduziert werden.

Nichtsdestotrotz wurden wichtige Erfolge erzielt. Gelang der Nachweis der Assoziation eines SNP mit einem Krankheitsrisiko oder einem Krankheitsverlauf, konnten durch aufwendige molekularbiologische Untersuchungen oftmals die Funktionalität der genetischen Variante erhellt und zuvor unbekannte Signalwege oder Schlüsselmechanismen aufgezeigt werden. Dass dies trotz reproduzierbarer Assoziation nicht für alle SNP gelang, wird der Kopplung der untersuchten SNP an noch unbekannte funktionelle SNP zugeschrieben.

Wie weit ist das Lektorat des „Buch des Lebens“ also vorangeschritten? Welche Schlussfolgerungen für die anästhesiologische Praxis erlaubt uns inzwischen die Lektüre des menschlichen Genoms? Wo stehen wir auf dem Weg zur personalisierten Medizin, die sich doch bereits im Duktus der 2500 Jahre alten hippokratischen Lehre findet?

Obwohl die Sequenzierung des menschlichen Genoms und die teilweise sehr gut beschriebenen Assoziationen von SNP mit Gesundheits- und speziell Narkoserisiken Fortschritte darstellen, müssen wir jedoch konstatieren, dass der entscheidende Durchbruch bei der Lektüre des „Buch des Lebens“ bisher ausgeblieben ist.

Erst in den letzten Jahren wurden dem Inhaltsverzeichnis des „Buch des Lebens“ die Einträge Epigenetik, „microRNA“, RNA-Interferenz, phänotypische Plastizität und Proteinfaltung hinzugefügt, die ebenso wie SNP die Individualität von Patienten prägen und mit Krankheitsverläufen, Komplikationen und Risiken assoziiert sind. Weitere grundlegende Entdeckungen dürften noch bevorstehen.

Der Übersichtsbeitrag von Pech et al. in dieser Ausgabe fasst den aktuellen Kenntnisstand zu SNP zusammen, die als Biomarker Patientengruppen mit erhöhtem Komplikationsrisiko während der Narkose aufzeigen können und bereits ihren Weg in die Praxis nehmen.

Folgerichtig werfen die Autoren die Frage auf, ob zukünftig der genetische Fingerabdruck zum Standard der anästhesiologischen Vorbereitung gehören wird. Denn selbst wenn das Risiko für schwere Komplikation durch Anästhesie gering erscheint und die große Masse der Patienten keine an ihr genetisches Profil adaptierte Anästhesie benötigt, bleibt eine kleine Patientengruppe übrig, bei der SNP als Biomarker zur Vorsicht oder adaptierter Narkose mahnen könnten.

Der Druck zur Implementierung der Gendiagnostik im anästhesiologischen Alltag dürfte zunehmen. Schon jetzt können Patienten für rund EUR 400 einen an das Anästhesierisiko adaptierten genetischen Fingerabdruck erstellen lassen. Erforderlich dafür sind lediglich ein Abstrich von der Wangenschleimhaut und etwa 24-h-Zeit.

Die Anästhesiologie hält eine Vielzahl lohnender Fragestellungen zu genetischer Prädisposition und Pharmakogenetik bereit.

Mit ihren 4 Säulen bietet sie ideale Voraussetzungen. Selbst wenn sich die Relevanz neuer Einsichten für den am Patienten arbeitenden Anästhesisten nicht immer unmittelbar erschließt, sollten sich gerade Anästhesisten an der aktuellen Forschung beteiligen und ihre Ergebnisse ohne unnötige Verzögerung in die Praxis am Patienten einbringen.

Wir bleiben also aufgefordert, weiter im „Buch des Lebens“ zu „lesen“, Textlücken zu schließen und Übersetzungsfehler zu beheben. Auch dazu sollte der gelungene Übersichtsbeitrag von Pech et al. inspirieren.

M. Adamzik