Einleitung

Ein Myokardinfarkt ist definiert durch eine akute ischämische Myokardschädigung. Er kann nach aktueller Definition anhand seiner Ursache in fünf Typen eingeteilt werden [35]. Ein Myokardinfarkt stellt einen akuten Myokardschaden dar, bei dem in der Regel auch eine akute Troponinerhöhung auftritt. Zusätzlich muss mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt sein: ischämieverdächtige Symptome, bestimmte EKG-Veränderungen, Nachweis des neuen Verlusts von vitalem Myokard bzw. neuer Wandbewegungsstörungen in der Bildgebung oder der direkte Nachweis eines koronaren Thrombus in der Angiographie oder Autopsie. Eine sehr wichtige Rolle spielt das EKG, welches eine kardiale Ischämie häufig sofort anzeigen kann. Hierbei wird das Augenmerk vor allem auf Veränderungen der ST-Strecken gelegt. Der ST-Hebungs-Infarkt (STEMI) ist ein häufig auftretender Notfall, der eine unmittelbare Koronarintervention ohne Abwarten von Troponinwerten notwendig macht. Auch abseits der „klassischen“ ST-Hebung existieren EKG-Veränderungen, die ebenso hinweisend auf einen akuten okklusiven Myokardinfarkt (OMI; [10, 22]) sind und eine akute Koronarintervention indizieren. Expertise in EKG-Interpretation ist daher essenziell für alle Notfallmediziner*innen, um das akute Koronarsyndrom adäquat zu versorgen.

Gleichzeitig gibt es Veränderungen, die die EKG-Kriterien eines STEMI erfüllen, aber nicht aus einem (akuten) Koronarverschluss resultieren (sogenannte „STEMI mimics“). Um die mit Übertherapie einhergehenden Risiken einer Koronarangiographie zu vermeiden und Ressourcen effektiv einzusetzen, müssen „STEMI mimics“ sicher abgegrenzt werden. „STEMI mimics“ können zudem auf andere, nicht koronar bedingte, jedoch teils ebenso akut lebensbedrohliche Krankheitsbilder hinweisen, die einer gänzlich anderen Akuttherapie bedürfen.

Grundsätzlich muss die Interpretation eines EKGs immer in Zusammenschau mit der vorliegenden Klinik betrachtet werden. Sorgfältige Anamneseerhebung, Point-of-care-Ultraschall (POCUS) sowie Blutgasanalyse und Messung der Körpertemperatur decken dabei die meisten Ursachen für „STEMI mimics“ auf. Für spezielle Fragestellungen wird zudem die Computertomographie, etwa zum Ausschluss einer Lungenembolie oder eines akuten Aortensyndroms, notwendig. Bei zunächst unklarer Befundkonstellation können serielle EKG- und Troponinkontrollen bei Nutzung hochsensitiver Assays meist eine Stunde nach Abnahme des initialen Troponins [6] bei einer weiteren Differenzierung unterstützen.

Entscheidend ist, dass die Abklärung möglicher „STEMI mimics“ unter keinen Umständen dazu führen soll, dass es bei akuten Koronarverschlüssen zu einer relevanten Verzögerung einer koronaren Rekanalisation kommt.

ST-Hebungs-Infarkt

Ursächlich für einen ST-Hebungs-Infarkt sind in der Regel arteriosklerotisch bedingte Plaquerupturen und Stenosen. Seltener führen Vasospasmen, Koronardissektionen oder thrombembolische Verschlüsse zu einem STEMI-Bild im EKG.

Die vasospastische Angina (Prinzmetal-Angina) wurde erstmals 1959 erwähnt [29]. Ein lokaler Koronarspasmus führt bei diesem Krankheitsbild zu einer (relativen) Myokardischämie. Auslösend können neben Drogen (Kokain, Amphetamin) auch Stress, Magnesiummangel oder sogar Anaphylaxie sein. Da das initiale Management dem eines klassischen STEMI mit akuter Koronarangiographie entspricht, ist die vasospastische Angina zwar kein klassischer STEMI, muss aber in der Akuttherapie gleichwertig behandelt werden und wird daher getrennt von den klassischen „STEMI mimics“ erwähnt.

Bei der Koronardissektion kommt es durch Dissektion der Intima zu einer Teil- oder Komplettokklusion der betroffenen Koronararterie, unterschieden werden dabei die traumatische und die spontane Dissektion.

Spontane Koronardissektionen treten gehäuft bei jüngeren Patientinnen auf. Risikofaktoren sind insbesondere Schwangerschaft [37] und der Konsum von sympathomimetischen Drogen (Kokain, Amphetamin; [11]).

Traumatische Ursachen können durch eine thorakale Verletzung bedingt sein, Warnhinweis ist zum Beispiel eine Sternumfraktur, die immer auf das Risiko einer relevanten Herzkontusion hindeutet.

„STEMI mimics“

In der Akutsituation muss – soweit möglich – ein STEMI von einem „STEMI mimic“ unterschieden werden. „STEMI mimics“ haben eine unterschiedliche Relevanz in der Akutsituation:

  • „STEMI mimic“, der eine andere potenziell akut lebensgefährliche Erkrankung maskiert und einer akuten Behandlung bedarf: „STEMI mimic“ Notfall

  • „STEMI mimic“ ohne unmittelbare Lebensgefahr, dessen Differenzialdiagnose dennoch erkannt und umgehend abgeklärt gehört: „STEMI mimic“ dringlich

  • „STEMI mimic“ bei vorbestehenden EKG-Veränderungen: „STEMI mimic“ vorbestehend

Eine Übersicht dieser Einteilung in Abgrenzung zum STEMI ist in Abb. 1 dargestellt.

Abb. 1
figure 1

Unterteilung STEMI und „STEMI mimics“ verschiedener Dringlichkeitsstufe

Auswahl von Verdachtsmomenten für „STEMI mimic“:

  • Alter < 45 Jahre [32]

  • Atypische oder fehlende thorakale Beschwerden

  • Nichtischämietypische EKG-Veränderungen: fehlende reziproke ST-Strecken-Veränderungen im EKG, konkav geformte ST-Strecke (siehe Tab. 4 für ischämietypische EKG-Veränderungen)

Allerdings kann auch bei Vorliegen aller obigen Faktoren bei ST-Hebungen ein akuter Koronarverschluss selbstverständlich nicht ausgeschlossen werden [16]. Beispielsweise existieren manchmal bei Vorderwandinfarkten in der Frühphase konkave Morphologien der ST-Strecken-Hebung.

Methoden

Zur Identifikation häufiger und seltener Ursachen für ST-Hebungen ohne akuten Koronarverschluss wurde eine Literaturrecherche bei PubMed durchgeführt. Es wurden Suchbegriffe gewählt, die für „STEMI mimics“ verwendet werden („STEMI mimic“, „mimicking STEMI“, „pseudo STEMI“, „simulating STEMI“ und „false cath lab activation“). Dabei konnten 585 Publikationen identifiziert werden, von denen 251 Publikationen thematisch passend waren. In die Auswertung wurden 243 Publikationen genommen, da sechs weder in Deutsch noch Englisch verfasst und zwei zurückgezogen worden waren.

Die Mehrzahl dieser Publikationen stellten „case reports“ und Reviews dar. Insgesamt konnten 593 einzelne Fälle ausgewertet und den Ursachen der ST-Hebung zugeordnet werden.

Jedoch ist zu beachten, dass anhand dieser Literaturrecherche natürlich keine quantitative Auswertung in Bezug auf die relative Häufigkeit der einzelnen Ursachen möglich ist, da von einem Reporting-Bias ausgegangen werden muss.

Unsere Ergebnisse der im Rahmen dieser Untersuchung gefundenen, häufigsten Diagnosen sind in Abb. 2 zu sehen. Sie wurden analog zu der oben genannten Aufteilung von „STEMI mimics“ in „Notfall“, „dringlich“ und „vorbestehend“ differenziert.

Abb. 2
figure 2

Relative Häufigkeiten der beschriebenen „STEMI mimics“ und dazugehörende Aufteilung nach Dringlichkeit

Ergebnisse

In der Folge werden die wichtigsten „STEMI mimics“ entsprechend der o. g. Klassifikationen vorgestellt und in den klinischen Kontext gestellt.

Die „STEMI mimics“ der höchsten Dringlichkeitsstufe sind:

  • Intrakranielle Blutung

  • Aortendissektion

  • Hyperkaliämie

  • Lungenembolie

1 Intrakranielle Blutung.

Für die intrakranielle Blutung sind als EKG-Veränderungen tiefe negative T‑Wellen als sogenannte „cerebral T waves“, aber auch ST-Hebungen beschrieben [18]. Die ST-Hebungen treten im Rahmen von akut erhöhtem intrakraniellem Druck typischerweise in Kombination mit spitzen P‑Wellen > 2,5 mm und großen R‑Zacken-Amplituden auf ([5]; Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Mögliche EKG-Veränderungen bei ICB bzw. akut erhöhtem intrakraniellem Druck; oben im Bild ST-Hebungen mit häufig kombiniert erhöhter R‑Zacke und P‑Welle, unten im Bild die meist deutlichen T‑Negativierungen. (Mit freundl. Genehmigung © P. Gotthardt, alle Rechte vorbehalten)

Besteht der klinische Verdacht auf ein intrakranielles Geschehen, muss dieses vor Beginn einer Antikoagulation oder der Gabe von Thrombozytenaggregationshemmern durch eine Computertomographie ausgeschlossen werden. Ergänzende Hinweise können insbesondere Zephalgien und Vigilanzminderung sein und erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer zerebralen Ursache weiter [20].

2 Aortendissektion.

Eine Aortendissektion kann mit ST-Hebungen einhergehen, wenn die Dissektion zu einer Obstruktion der Koronarien führt.

Bei passagerer Verlegung der Koronarien durch die Dissektionsmembran kommt es zu „wandernden“ ST-Hebungen, d. h., die ST-Hebungen können bei der gleichen Patient*in je nach Lokalisierung der Dissektion in verschiedenen Versorgungsgebieten auftreten [15].

Klinisch können Schmerzen in Thorax, Rücken und/oder Abdomen auftreten, die teils als „reißend“ oder mit stärkster vorstellbarer Intensität beschrieben werden. Bei neuen, ggf. intermittierenden fokalneurologischen Defiziten oder Durchblutungsstörungen der Extremitäten in Kombination mit Thoraxschmerzen sollte bis zum Beweis des Gegenteils von einer Aortendissektion ausgegangen werden („Thoraxschmerz plus 1“).

3 Hyperkaliämie.

Die Hyperkaliämie ist aufgrund drohender rhythmogener Ereignisse potenziell lebensbedrohlich. Diese präsentieren sich zum Beispiel als höhergradige AV-Blockierungen oder Sinusarrest. Die Hyperkaliämie führt zu einem sehr variablen Bild von EKG-Veränderungen mit u. a. zeltförmigen erhöhten T‑Wellen, QRS-Verbreiterung, AV-Blockierungen, Brady- und Tachykardien und kann im fortgeschrittenen Stadium ein sinusförmiges EKG-Bild annehmen. Auch ST-Hebungen können im Rahmen von Hyperkaliämien auftreten, deren Ursache möglichst zeitnah erkannt werden sollen. Die durch das EKG nachgewiesene Veränderung der myokardialen Erregbarkeit bedingt eine umgehende medikamentöse Therapie zur Behandlung der Hyperkaliämie und ggf. die Initiierung eines Nierenersatzverfahrens.

Klinisch stehen bei der Hyperkaliämie Abgeschlagenheit, (Prä‑)Synkopen, Muskelschwäche bis zu -lähmungen sowie eine respiratorische Insuffizienz im Vordergrund.

Auch bei bereits milder Hyperkaliämie kann die verstärkte Wirkung AV-blockierender Medikamente im Rahmen eines BRASH-Syndroms (Bradykardie, renales Versagen, AV‑Knoten-blockierende Medikation, Schock und Hyperkaliämie) in lebensgefährlichen bradykarden Herzrhythmusstörungen resultieren [12].

4 Lungenarterienembolie.

Durch die akute rechtsventrikuläre Vorlasterhöhung kann die Lungenarterienembolie in einem Herzstillstand münden. Aufgrund der klinisch sehr unterschiedlichen Präsentation ist das Erkennen verdächtiger Befundkonstellationen für die Notfallmedizin unerlässlich.

Im EKG sind insbesondere neu aufgetretene Veränderungen zu beachten. Diese können beispielsweise ein inkompletter oder kompletter Rechtsschenkelblock und eine Sinustachykardie sein. Die Herzachse kann im Rahmen der akuten Rechtsherzbelastung nach rechts gedreht sein. Zusätzlich können ST-Hebungen auftreten. Diese treten vor allem anterior-septal auf, können aber auch inferior vorhanden sein [38]. Der häufig erwähnte S1Q3T3-Lagetyp ist weder sensitiv noch spezifisch für Lungenembolien und sollte keinesfalls alleine zur Verdachtsdiagnose einer Lungenembolie genutzt werden.

Außer bei zusätzlich auftretenden tachykarden Herzrhythmusstörungen wie dem Vorhofflimmern oder beim kardiogenen Schock ist eine Tachykardie beim akuten Koronarsyndrom im Gegensatz zur Lungenarterienembolie die Ausnahme.

Bei gleichzeitigen T‑Negativierungen in V1 und III ist die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer Lungenarterienembolie höher als für ein akutes Koronarsyndrom [17].

„STEMI mimics“ mit dringlichem Handlungsbedarf

Bei den folgenden „STEMI mimics“ handelt es sich um Krankheitsbilder, welche in der Notaufnahme erkannt werden müssen:

1 Hyperkalzämie.

Während milde Hyperkalzämien a‑ bzw. oligosymptomatisch auftreten und häufig Zufallsbefunde darstellen, ist die schwere Hyperkalzämie ein akuter Notfall. Ausgeprägte Hyperkalzämien können zu lebensgefährlichen Arrhythmien führen [1] und gehen zusätzlich häufig mit neurologischen und gastrointestinalen Beschwerden einher. Schwere Hyperkalzämien liegen dabei in der Regel ab einem ionisierten Kalziumspiegel von 1,5 mmol/l vor bzw. bei raschem Anstieg des Serumspiegels. Entscheidend für die Beurteilung des Schweregrads ist aber die aus der Hyperkalzämie resultierende Klinik.

Im EKG kann sich neben einer häufig auftretenden Verkürzung der QT-Strecke auch eine ST-Hebung zeigen [3].

Auslösend sind neben einem primären bzw. tertiären Hyperparathyreoidismus oft maligne Erkrankungen, nach welchen in der Anamnese gesondert gefragt werden sollte [36]. Auf das Vorliegen eines primären Hyperparathyreoidismus kann die klassische Trias aus Nephrolithiasis, ossären Beschwerden und Ulcus ventriculi hinweisen („Stein‑, Bein‑, Magenpein“).

2 Genetische kardiale Erkrankungen.

2a Brugada-Syndrom. Ein Brugada-Syndrom prädisponiert zu einem plötzlichen Herztod. Daher müssen die typischen EKG-Veränderungen der zwei verschiedenen Typen eines Brugada-EKGs erkannt werden: Typ 1 zeigt erhöhte, steil abfallende ST-Strecken in den Ableitungen V1 und V2, wohingegen bei Typ 2 neben dem erhöhten ST-Abgang sattelförmige Veränderungen in diesen Ableitungen imponieren (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Brugada-Typ I und II mit rot markierten ST-Hebungen; Brugada-Typ I zeigt eine gewölbte ST-Hebung > 2 mm und T‑Negativierungen in mind. 2 Ableitungen von V1 bis V3; Brugada-Typ II zeigt typischerweise eine „sattelförmige“ ST-Hebung > 2 mm und eine positive oder biphasische T‑Welle. (Mit freundl. Genehmigung © P. Gotthardt, alle Rechte vorbehalten)

2 b ARVD/ARVC. Bei der arrhythmogenen rechtsventrikulären Kardiomyopathie (ARVD/ARVC) sind EKG-Veränderungen am besten in den Ableitungen des rechten Herzens zu detektieren. Die pathognomonische, aber erst in einem späteren Stadium auftretende Epsilon-Welle kann in Ableitung V1 vorhanden sein. Daneben können ein verlängerter Aufstieg der S‑Zacke in V1–V3 sowie eine QRS-Verbreiterung in V1–V3 auftreten (Abb. 5). Das EKG kann sich ähnlich einem anterioren STEMI präsentieren [24]. Höhergradige Herzrhythmusstörungen wie ventrikuläre Tachykardien bis zum Kammerflimmern sind beschrieben. Ventrikuläre Tachykardien zeigen mit rechtsventrikulärem Ursprung ein linksschenkelblockartiges Bild.

Abb. 5
figure 5

Arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie; oben im Bild die hoch spezifische, aber seltene Epsilon-Welle (rot markiert); unten im Bild links rot markiert die verlängerte S‑Zacke, rechts im Bild blau markiert zum Vergleich der Normalbefund. (Mit freundl. Genehmigung © P. Gotthardt, alle Rechte vorbehalten)

2c Hypertrophe (obstruktive) Kardiomyopathie. Bei dieser Kardiomyopathie entsteht eine linksventrikuläre Hypertrophie (LVH). Hier finden sich häufig diskordante konkave ST-Hebungen in V1–V3 bei tiefen S‑Zacken sowie ST-Senkungen und T‑Negativierungen anterolateral. Eine hypertrophe (obstruktive) Kardiomyopathie (H[O]CM) kann sich im EKG durch eine hohe QRS-Voltage zeigen. Es sind verschiedene Kriterien bekannt, die hinweisgebend auf eine H[O]CM sind. Nach dem Algorithmus von Peguero et al. wird die Amplitude der S‑Zacke in V4 mit der tiefsten S‑Zacke addiert (falls V4 die tiefste S‑Zacke ist, wird diese verdoppelt). Der Verdacht auf eine LVH sollte ab 2,3 mV (Frauen) bzw. 2,8 mV (Männer) geäußert werden [26]. Grundsätzlich sind alle Algorithmen zur Detektion von LVH im EKG fehleranfällig und durch das Screening des EKGs kann nur ein Anfangsverdacht gestellt werden.

Nicht mit Ischämiezeichen verwechselt werden dürfen die häufig zu sehenden diskordanten konkaven ST-Hebungen in V1–V3 bei tiefen S‑Zacken sowie ST-Senkungen und T‑Negativierungen anterolateral. Neben fehlender EKG-Dynamik spricht eine Proportionalität der Endstreckenveränderungen im Vergleich zum QRS-Komplex für reine Hypertrophie ohne Ischämie (z. B. dürfen die Hebungen in V1–max. 1/6 der S‑Zacken in diesen Ableitungen betragen).

Hier kann der POCUS eine Hilfestellung bieten, mit deren Hilfe die Dicke der Ventrikelwand abgeschätzt werden kann und Wandbewegungsstörungen ausgeschlossen werden können.

Die Sonderform einer apikalen hypertrophen Kardiomyopathie kann im EKG ebenfalls mit ST-Hebungen imponieren [25]. Häufig kommen bei dieser Form anterior tiefe T‑Wellen und inferior sowie lateral T‑Negativierungen vor.

Wesentlich häufiger als die hypertrophen Kardiomyopathien im eigentlichen Sinne sind im klinischen Alltag linksventrikuläre Hypertrophien bei Patient*innen mit hypertensiver Herzerkrankung oder Aortenklappenstenose anzutreffen. Sind hier die EKG-Veränderungen und eine entsprechende Grundkrankheit bekannt, so besteht meist kein akuter Handlungsbedarf (wegen der Gemeinsamkeit der EKG-Veränderungen mit der H[O]CM wurde die LV-Hypertrophie in diesem Abschnitt vorgestellt, in Abb. 1 und 2 wurde sie jedoch bei den Ursachen ohne akuten Handlungsbedarf aufgeführt).

3 Hypothermie.

Die Hypothermie kann sich im EKG mit ST-Hebungen manifestieren. Neben Artefakten durch Kältezittern und einer Bradykardie ist die sogenannte Osborn-Welle bei sehr niedrigen Temperaturen zu detektieren. Sie besteht aus einer Knotung am Ende des absteigenden R.

Häufig ist allerdings bereits die Anamnese, z. B. die Auffindesituation, suggestiv für eine Hypothermie. Zur notfallmedizinischen Basisdiagnostik sollte in jedem Fall die Messung der Körpertemperatur zählen. Auf diese Weise ist die Diagnosestellung einfach zu führen und hypotherme Patient*innen müssen nicht fälschlicherweise einer Herzkatheteruntersuchung zugeführt werden.

4 Perimyokarditis.

Sowohl die Myokarditis [27] als auch eine Perikarditis [8] kann einen STEMI imitieren.

Bei beiden Erkrankungen wie auch beim Mischbild einer Perimyokarditis können ST-Hebungen auftreten, die dann meistens nicht einem bestimmten koronaren Versorgungsgebiet entsprechen. Außerdem zeigt das EKG bei der Perikarditis [2] und Myokarditis [4] in der Regel außer in aVR keine reziproken ST-Senkungen, die wiederum bei Koronarischämie häufig auftreten. Typisch für eine Perimyokarditis ist eine PQ-Senkung sowie das sogenannte Spodick-Zeichen, eine abfallende TP-Strecke (Abb. 6). Diese tritt ebenfalls häufiger bei Perikarditis auf, ist allerdings auch bei 5 % der STEMI vorhanden [40]. Weiterhin sind ST-Hebungen entzündlicher Genese meist geringer ausgeprägt und zeigen keine akut verlaufende Dynamik. Sie gehen häufig mit angehobenem S bei erhöhtem ST-Abgang einher. Anamnestisch sollte nach kürzlich zurückliegenden viralen Infekten gefragt werden. Es gibt aber auch andere Ursachen wie das Dressler-Syndrom bei Z. n. Myokardinfarkt, Urämie, Toxine, paraneoplastische Erkrankungen oder aktuell Myokarditiden nach SARS-CoV‑2 Impfungen.

Abb. 6
figure 6

Frühe Repolarisation, Perimyokarditis und klassischer STEMI mit jeweils typischer Morphologie zur Abgrenzung. Ergänzend müssen Anamnese und Beschwerdebild in die Beurteilung des EKGs einfließen. (Mit freundl. Genehmigung © P. Gotthardt, alle Rechte vorbehalten)

5 Elektrische Kardioversion und Stromunfall.

Nach einer elektrischen Kardioversion können passagere ST-Hebungen ohne Nachweis eines Myokardinfarkts entstehen [31]. Da diese insbesondere in den ersten Sekunden bis Minuten nach Kardioversion auftreten, sollte ein 12-Kanal-EKG frühestens nach ca. 5 min geschrieben werden. Treten nach dieser Zeit jedoch ST-Hebungen auf, gelten diese als suspekt und bedürfen weiterer Abklärung.

Bei Erwachsenen kann es nach einem Stromunfall zu passageren ST-Hebungen ohne Nachweis einer Koronarsklerose, am ehesten verursacht durch Vasospasmen, kommen [13]. Es muss dabei nicht zwingend eine Erhöhung der kardialen Biomarker nachgewiesen werden [30]. Auch bei Kindern können infolge von Stromunfällen ST-Hebungen detektiert werden [14].

6 „Spiked helmet sign“ (Pickelhaubenzeichen).

Das „spiked helmet sign“ (Pickelhaubenzeichen) ist eine seltene, erstmals in 2011 beschriebene EKG-Veränderung [21], welche bei nichtkardialen schweren Erkrankungen wie z. B. Sepsis, abdominellen Erkrankungen oder Hirnblutungen auftreten kann [23]. Wenn dieses Zeichen detektierbar ist, ist mit einer deutlich erhöhten Mortalität zu rechnen. Es sollten ein intensives Monitoring und eine umgehende Einleitung der entsprechenden Therapie angestrebt werden.

Im EKG imponiert ein konvexer An- und Abstieg vor bzw. nach dem QRS-Komplex meist in den inferioren Ableitungen. Das Bild ähnelt dem alten deutschen Militärhelm, einer „Pickelhaube“ (siehe Abb. 7).

Abb. 7
figure 7

„Spiked helmet sign“ (Pickelhaubenzeichen), hier in drei möglichen Varianten dargestellt. Zur besseren Visualisierung rechts im Bild die namensgebende „Pickelhaube“. Mit freundl. Genehmigung © P. Gotthardt, alle Rechte vorbehalten

7 Tako-Tsubo-Kardiomyopathie.

Die Tako-Tsubo-Kardiomyopathie (TTK) ist eine Erkrankung, bei der regionale Wandbewegungsstörungen auftreten. Die Erkrankung verläuft oft benigne und es bleiben keine Residuen zurück. Komplizierend kann es allerdings zum kardiogenen Schock oder zu malignen Herzrhythmusstörungen kommen, weshalb auch bei wenig beeinträchtigten Patient*innen ein kontinuierliches Monitoring dringend anzuraten ist.

Im EKG können sich Veränderungen wie bei einem akuten Myokardinfarkt zeigen [28]. Ein Hinweis auf eine TTK bei Vorliegen von ST-Hebungen kann der fehlende Bezug zu einem koronaren Versorgungsgebiet sein. Bei der typischen Form liegt eine Hypo- bzw. Akinesie des apikalen linken Ventrikels vor, welche bereits im POCUS durch das typische Bild den Verdacht erhärten kann. Bei atypischen Formen können andere Teile des linken Ventrikels betroffen sein. Falls Zweifel an der Diagnose bestehen, sollte niederschwellig zum Ausschluss einer stenosierenden koronaren Herzkrankheit eine Herzkatheteruntersuchung durchgeführt werden.

Anamnestisch sollte nach emotional bewegenden Ereignissen gefragt werden, die mit der TTK häufig in zeitlichem Zusammenhang auftreten.

8 Überlagerung der ST-Strecke durch Vorhofaktionen.

Bei Überlagerung der ST-Strecke durch Vorhofflatterwellen kann auch der Eindruck einer ST-Elevation entstehen, insbesondere wenn das Flattern z. B. bei 2:1-Überleitung nicht sofort offensichtlich ist. Nach Reduktion der Kammerfrequenz (Gabe von z. B. Adenosin oder Betablocker) ist es meist leichter, die typische Morphologie der Flatterwellen zwischen den QRS-Komplexen zu erkennen.

„STEMI mimics“ ohne Handlungsbedarf

Schlussendlich sollen noch „STEMI mimics“ vorgestellt werden, die bei bereits vorbestehenden EKG-Veränderungen auftreten können. Bei dieser Kategorie empfiehlt es sich ganz besonders, auf Vor-EKGs zum Vergleich zurückzugreifen, wenn diese vorhanden sind.

1 Aneurysma, ventrikulär.

Bei stattgehabtem Myokardinfarkt kann ein ventrikuläres Aneurysma entstanden sein, das im weiteren Verlauf dauerhafte ST-Hebungen, typischerweise in V1–V4, manchmal aber auch inferior oder lateral, im EKG hinterlässt. In diesem Fall ist anamnestisch nach solch einem Ereignis zu fragen und das aktuelle EKG mit einem Vor-EKG zu vergleichen. So können neue Veränderungen von bereits bestehenden abgegrenzt werden. Im POCUS kann dann das Aneurysma meist dargestellt werden. Es zeigt sich als systolische Dys- oder Akinesie, das betroffene Gebiet ist ausgedünnt und „ausgebeult“. Ursächlich ist meist eine Myokardnarbe nach stattgehabter Myokardischämie.

2 Blockbilder (Rechtsschenkelblock, Linksschenkelblock, rechtsventrikulärer Schrittmacherrhythmus).

Bei einem Linksschenkelblock und einem rechtsventrikulären Schrittmacherrhythmus sind die QRS-Komplexe verbreitert. Entgegen der früheren Lehrmeinung ist es möglich, Ischämiezeichen im EKG in dieser Konstellation zu erkennen. Hierzu können die modifizierten Sgarbossa-Kriterien [34] oder die allerdings noch nicht endgültig validierten Barcelona-Kriterien herangezogen werden [7].

Bei einem Rechtsschenkelblock ist die Ischämiediagnostik meistens ungestört möglich. Fehlinterpretationen können bei der Missdeutung der Abgrenzung vom QRS-Komplex zur ST-Strecke entstehen.

3 Frühe Repolarisation.

Die frühe Repolarisation tritt häufig bei jungen, schlanken Männern auf. Hierbei kommt es zu einem erhöhten ST-Abgang insbesondere der anterioren Ableitungen. In Ableitung V4 oder einer der direkt benachbarten Ableitungen kann eine Knotung im J‑Punkt vorhanden sein, die als „Angelhakenzeichen“ („fishhook sign“) bezeichnet wird (siehe Abb. 5).

Erschwerend kann hinzukommen, dass auch Patient*innen mit einer vorbestehenden frühen Repolarisation zusätzlich eine kardiale Ischämie erleiden können. Hierbei können sich die beiden Phänomene im EKG überlagern. Hilfreich für diese Situation kann eine Berechnung der EKG-Veränderungen sein. Insbesondere wenn in den Ableitungen V2–V4 weder eine S‑Zacke noch eine J‑Welle erscheint, ist dieses suggestiv für eine Ischämie [19]. Für diese Situation wurde ein validiertes Rechner-Tool entwickelt, mit dessen Hilfe gearbeitet werden kann [9, 33].

Besonders herausfordernd kann die Beurteilung von EKG-Normvarianten bei Menschen mit genetisch afrikanischem Bezug sein. Hierbei kann es neben einer frühen Repolarisation auch einerseits zu ST-Hebungen oder andererseits zu T‑Negativierungen in V1–V4 ohne ST-Strecken-Veränderungen kommen [39].

Ergänzend werden in Tab. 1 seltene Ursachen für einen „STEMI mimic“ aufgeführt.

Tab. 1 Seltene Ursachen für einen „STEMI mimic“

Im Folgenden sind die für die notwendige Evaluation zu empfehlenden Fragen und Untersuchungen sowie eine Übersicht zu ergänzenden Möglichkeiten der Evaluation des EKGs bei ST-Hebungen in Tabellenform zusammengefasst (Tab. 23 und 4).

Tab. 2 Anamnestische Fragen zur Ermittlung möglicher Differenzialdiagnosen
Tab. 3 Untersuchungen zur Ermittlung möglicher Differenzialdiagnosen (außer EKG, Troponin und D‑Dimer)
Tab. 4 Ergänzende Möglichkeiten zur Evaluation eines EKGs bei ST-Hebungen

Schlussfolgerung

Wenn ein EKG bei entsprechender klinischer Symptomatik die STEMI-Kriterien erfüllt, ist grundsätzlich eine schnelle Rekanalisation durch eine Herzkatheteruntersuchung indiziert. Es gibt jedoch Konstellationen, bei denen eine ST-Hebung nicht gleichbedeutend mit einem Koronarverschluss ist. Dann ist eine Durchführung einer Koronarangiographie nicht nur eine unnötige Untersuchung mit potenziellen prozedurbedingten Risiken, sondern kann unter Umständen auch lebensgefährdend sein, da sie die für die Patient*in eigentlich indizierte Therapie verzögert.

Bei den vorgestellten Beispielen ist die Kombination aus sorgfältiger Anamnese, präziser Befundung des EKGs und ggf. weiteren Untersuchungen zielführend, um alternative Diagnosen zum akuten Koronarsyndrom zu vermuten. Hierdurch kann eine Aktivierung des Herzkatheterlabors vermieden, aber auch die eigentlich zugrunde liegende Erkrankung erkannt und therapiert werden. Wenn eine akute koronare Ischämie nicht ausgeschlossen werden kann, sollte in jedem Fall eine notfallmäßige Durchführung einer Koronarangiographie niederschwellig in Erwägung gezogen werden. Die vorgestellten weiteren Untersuchungen sollen diese Diagnostik nicht über Gebühr verzögern, der englische Merkspruch „time is muscle“ gilt.

Wertvoll ist ebenfalls die Evaluation eines älteren EKGs dieser Patient*in. Leider ist ein Vor-EKG in der Notfallsituation nicht immer verfügbar. In der Zukunft kann eine elektronische Gesundheitskarte, auf der ein EKG gespeichert wird, diese Information bereithalten.

Vor einer Herzkatheteruntersuchung sollten bei Verdacht auf eine andere Ursache der EKG-Veränderungen neben dem 12-Kanal-EKG auch die Ergebnisse von POCUS, BGA und Körpertemperaturmessung berücksichtigt werden. In speziellen beschriebenen Situationen kann auch eine CT-Diagnostik notwendig sein.

Fazit für die Praxis

  • ST-Hebungen müssen nicht grundsätzlich für einen akuten Koronarverschluss stehen.

  • Hinter ST-Hebungen im EKG können auch andere lebensgefährliche Erkrankungen stecken.

  • EKG sowie Anamnese und Klinik müssen ergänzend zueinander für eine korrekte Einschätzung beurteilt werden.

  • Bei eindeutigem Hinweis auf einen akuten Koronarverschluss sollte eine umgehende Therapie nicht durch unnötige Diagnostik verzögert werden.