Ärzte dürfen sich in der interdisziplinären Zusammenarbeit nicht auf Zielaufträge beschränken, sondern müssen Zufallsbefunde, soweit bei Einhaltung des Facharztstandards erkennbar, erfassen und Kollegen informieren.

Ein Patient hatte sich im März und April 2014 jeweils beim Hausarzt mit Kopfschmerzen vorgestellt und war von ihm zur Abklärung mittels Magnetresonanztomografie (MRT) überwiesen worden. Der Radiologe hatte aber nur einen unauffälligen Befund gesehen. Daran kamen Zweifel auf, nachdem er sich beim HNO-Arzt wegen eines dann seit einigen Wochen bestehenden Tinnitus sowie Schwindels (1/2015) vorgestellt und eine weitere HNO-Ärztin wegen verstärkten Schwindels, Kopfschmerzen und Ohrdrucks aufgesucht hatte. Denn schließlich war eine Computertomografie erfolgt, die schon destruierende Knochenveränderungen mit ausgedehnter Cholesteatombildung zu Tage gefördert hatte. Die Entfernung des Cholesteatoms führte zu einer linksseitigen Fazialisparese mit inkomplettem Lidschluss. Nach einem weiteren Eingriff aufgrund eines Cholesteatomrezidivs konnte die Gesichtsmuskulatur bei bleibender Fazialisparese nur stabilisiert werden. Der Patient begehrte daraufhin Schadensersatz.

So sah das Gericht den Fall

Das Landgericht Dresden wies die Klage gegen den Radiologen nach einem radiologischen und HNO-ärztlichen Gutachten dennoch ab. Weil im MRT schon diskrete Befunde des linken Felsenbeines mit Beteiligung der Bogengänge und der Cochlea hätten auffallen können, sah es einen Diagnosefehler im Rahmen der MRT-Befundung als gegeben. Dieser Fehler sei aber nicht für den späteren Verlauf verantwortlich gewesen.

Das Oberlandesgericht hielt das Urteil (Urt. v. 10.10.2023, Az. 4 U 634/23). Der Radiologe habe die sich bereits andeutende Läsion pflichtwidrig nicht gesehen und beschrieben. Er dürfte sich vor allem bei seiner Arbeit nicht allein auf das Zielgebiet (innerhalb des Gehirnschädels) beschränken, sondern hätte aufgrund der Fürsorgepflichten alle erkennbaren Auffälligkeiten erfassen müssen; denn auch Zufallsbefunde sind zu beachten (BGH, Urt. v. 21.12.2010, Az. VI ZR 284/09). Und auch wenn der Radiologe diese nicht zum Anlass nehmen musste, selbst weitere Befunderhebungen anzuordnen - zumal die Signalveränderung für ein Cholesteatom noch nicht hinreichend spezifisch war und er auch keine zielführenderen Informationen hierfür hatte - hätte er doch den Zufallsbefund in seinem Arztbrief erwähnen müssen, damit der Hausarzt weiteres hätte tun können. Dennoch kam es nicht zur Haftung, weil der Fehler „nur“ als einfacher Diagnose- und vor allem nicht Befunderhebungsfehler qualifiziert wurde. Damit blieb es bei der Darlegungs- und Beweislast des Patienten, dass die Diagnoseverzögerung angeblich zu einem zusätzlichen Schaden geführt oder diesen erst bedingt habe. Der Nachweis war aber nicht geführt: Der HNO-Gutachter nahm ein genuines Cholesteatom an, das über viele Jahre aus embryonalversprengten Epithelinseln langsam entstanden sei. Folglich hielt er eine relevante, für die Kausalität der späteren Gesichtsnervenlähmung wesentliche Größenzunahme des Cholesteatoms zwischen 5/2014 bis 9/2015 für wenig wahrscheinlich. Deshalb blieb es auch dabei, dass sich nur ein spezielles und HNO-chirurgisch bekanntes, allgemeines Risiko bei einer Resektion großer Cholesteatome der Pyramidenspitze verwirklicht haben konnte. Zumindest war nicht anzunehmen, dass selbst eine frühere Operation (noch) sicher Schäden vermieden hätte.

Was bedeutet das Urteil für den klinischen Alltag?

Der Fall zeigt ein gutes Beispiel für die Abgrenzung von Diagnose- und Befunderhebungsfehlern und deren rechtliche Bedeutung, indem hier der Schwerpunkt des Vorwurfs in der (fehlerhaften) Beschreibung des Befundergebnisses lag. Dass keine früheren Reaktionen erfolgten, war die zwangsläufige Konsequenz davon. Der Fall zeigt aber auch, dass sich Ärzte zumindest nicht ohne weiteres allein auf Zielaufträge beschränken dürfen, sondern ebenso Zufallsbefunde, soweit bei Einhaltung des Facharztstandards erkennbar, erfassen und an Kollegen wenigstens als Information weitergeben müssen. Dies gilt auch, wenn sie ihr Fachgebiet nicht unmittelbar betreffen und die Entscheidung zum weiteren Vorgehen anderen obliegt.