Waren Sie in diesem Corona-Sommer in der Natur schwimmen? Vielleicht haben Sie mit den kleinen Bewohnern vieler Seen Bekanntschaft gemacht: Blutegeln. Sie sind enge Verwandte der Regenwürmer, bis zu 15 cm lang, schwarzbraun mit zwei charakteristischen Saugnäpfen und kurioses Therapeutikum seit Jahrtausenden.

Erste Überlieferungen zu den Blutegeln gehen bis ins alte Mesopotamien, dem heutigen Irak, zurück, sie sind schätzungsweise ca. 5.000 Jahre alt. Aber auch in der traditionell chinesischen und indischen Medizin spielt Egeltherapie eine Rolle. In Europa ist sie mindestens seit dem altrömischen Gladiatorenarzt Galenus bekannt. Sie war bis weit ins 19. Jahrhundert als "Mikro-Aderlass" Bestandteil von Schul- und Volksmedizin. Die Tiere saugen sich mit ihrem Mundsaugnapf an der Haut fest und beginnen zu saugen. Insgesamt saugen sie in 10 bis 120 Minuten etwa 10 ml Blut, bevor sie sich wieder abfallen lassen. Aufgrund gerinnungshemmender Substanzen in ihrem Speichel blutet die Saugstelle aber noch über mehrere Stunden leicht nach, so das es zu insgesamt etwa 100 ml Blutverlust kommt.Diese Menge ist aber aber nicht signifikant. Aber was bringt dann die Egeltherapie?

Egel als Mini-Apotheke

Wie die Heilwirkung im Detail zustande kommt, ist noch weitgehend unbekannt. So vermuten Wissenschaftler ein Zusammenspiel von drei Faktoren

  • dem Bissreiz,

  • bioaktiven Substanzen im Speichel und

  • der spezifischen Bakterienflora der Egel.

Insbesondere die bioaktiven Substanzen, von denen bisher über 20 verschiedene identifiziert wurden, liegen heute im Blickpunkt der Forscher. Dazu zählen schmerzlindernde, entzündungshemmende und antimikrobielle Stoffe. Hinzu kommen mehrere gerinnungshemmende Faktoren, die an unterschiedlichen Stellen der Gerinnungskaskade ansetzen.Blutegeltherapie ist daher seit einigen Jahren wieder, neben ihrer Verwendung in Naturheilverfahren, fester und anerkannter Bestandteil bei bestimmten Indikationen der Schulmedizin. In der Plastischen Chirurgie und Mikrochirurgie haben die Egel in den letzten 30 Jahren eine wahre Renaissance erlebt und sind anerkannter Therapiebestandteil. Es zeigte sich, dass Gewebstransplantationen im Mund-Kieferbereich unter Egeltherapie deutlich bessere Heilungstendenzen aufweisen. Doch auch bei der Re-Transplantationen von abgetrennten Fingern fördern die Blutegel die Bildung neuer Blutgefäße und unterstützen daher den Erhalt der abgetrennten Gliedmaße. Durch die Vielfalt der bioaktiven Stoffe im Speichel wirken die Tiere wie eine wandelnde Apotheke.

Saugendes Allround-Talent

Mindestens vier verschiedene Substanzen hemmen die vorzeitige Gerinnung, andere fördern die Wundselbstreinigung. Entzündungs- und Abstoßungsreaktionen werden unterdrückt. Gleichzeitig wird das Gewebe angeregt, neue Gefäße auszubilden. Dadurch werden sie auch in der Therapie von Krampfadern, Thrombosen und dem postthrombotischen Syndrom erfolgreich eingesetzt. Anerkannt ist auch die schmerzlindernde Wirkung der Egeltherapie. Oft sind Blutegel für langjährige Arthrose-Patienten die letzte Hoffnung gegen die quälenden Schmerzen in den Gelenken.

Noch nicht geklärt ist der Wirkmechanismus bei Ohrentzündungen und Tinnitus, aber hier haben Komplementärmediziner ebenfalls über gute Erfolge berichtet. Was für den Menschen gut ist, kann dem Tier nicht schaden - so sind die Egel auch in der Tiermedizin beliebt und werden daher in der Behandlung von Pferden eingesetzt.

figure 1

© Grafik:Eva Künzel

Florierender Handel

Die medizinisch eingesetzten Tiere werden heute in speziellen Betrieben gezüchtet und nur einmal zur Therapie eingesetzt, sodass sie keine Krankheiten übertragen können und der Naturbestand nicht gefährdet wird. Aber noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden sie aus den schlammigen Uferbereichen der Flüsse gesammelt. So ging der "Vierlander Blutegelhandel" in die Geschichte ein. Es begann als Zuverdienst für Gemüsebauern aus dem Hamburger Umland, die ihre Erzeugnisse auf den Markt brachten und die Blutegel aus den Elbmarschen an Hamburger Apotheker lieferten. Der Bedarf wuchs und die Elb-Egel genügten nicht mehr. Es entwickelte sich ein neuer Wirtschaftszweig. Die Landwirte begannen, Egel aus dem Baltikum und später aus Russland zu importieren und zu vertreiben. In seiner Biografie berichtet der Hamburger Unternehmer Johann Heinrich Dräger vom legendären Reichtum dieser Gemüsebauern. Es war eben jener Johann Dräger, der auch Gründer der Dräger-Werke und Erfinder der Wiederbelebungsmaschine "Pulmotor" war - aber das ist eine andere Geschichte …