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Fast vergessene Krankheiten

Wissen Sie, was das febrilische Fünklein ist? Was sich hinter Hundswuth verbirgt? Oder seit wann es die sogenannte Franzosenkrankheit gibt? In unserer Serie geht es um die Geschichte, Symptomatik und Behandlung fast vergessener Krankheiten.

© Jessen

Nach Aufkommen des Buchdrucks um 1470 führten neben Bibeln vor allem Gesundheitsratgeber die Bestsellerlisten an. Was heute Selbsthilferatgeber sind, waren in der frühen Neuzeit die „Seuchenschriften“. Sie gaben Ratschläge zur Verhütung und Behandlung der häufigsten Krankheiten. In der Regel waren sie unbebildert und kleinformatig. Damit waren sie auch für (nichtadelige) Bürger erschwinglich. Sie gaben Tipps und Ratschläge von Stadt- oder Leibärzten an die Landbevölkerung. Allerdings — ganz uneigennützig waren diese Tipps nicht. Oft enthielten sie Wundermittel, die vom jeweiligen Verfasser „erfunden“ und vermarktet wurden. Durchfallerkrankungen jeglicher Art waren tägliche Begleiter der Menschen und eine Hauptursache der hohen Kindersterblichkeit. Anhand dieser Seuchenschriften finden sich nicht nur Hinweise zu Durchfallerkrankungen, sondern auch zur Entwicklung von Sprache und Medizin.

Der Ursprung der roten Flüsse

Man vermutet, dass der Begriff „Ruhr“ auf das althochdeutsche „hruorjan“ für „Rühren“ zurückgeht. Im Mittelalter verstand man unter „ruora“ ganz allgemein „Bauchfluss“, „Leibfluss“ oder „Blutgang“. Später wurde dann mit dem Ausdruck „ruor, ruore“ ein „Bauchfluss, Ruhr oder heftige, eilige Bewegung der Gedärme“ bezeichnet. Das Ergebnis dieser „eiligen Bewegung“ ist den meisten wohlbekannt.

Im 14. Jahrhundert konnte man beim Wundarzt Ortolf von Baierland Folgendes lesen: „dissenteria ist das plut mit der rur, diarrea haizzet die rure da niht pluttes bei ist“ — oder auf Neudeutsch: Dysenterie sind blutige Durchfälle, während es sich bei Diarrhoe um unblutige Durchfälle handelt. Parallel dazu wurde das Wort „ruor“ jedoch weiterhin für jegliche Art von „Durchlauf“ verwendet. So entstand aus dem blutigen (Leib-)Fluss die Rothe Ruhr. Namensgebend waren die blutig-schleimigen Durchfälle, was zu weiteren Bezeichnungen wie Blutruhr, Blutfluss, das Röt, Rothlauff, Blutgang oder blutiger Hoffgang führte. Die aggressive, hochinfektiöse Form war auch als Dysenteria Hippocratis bzw. Galeni bekannt. Eine besonders tödliche Form der Rothen Ruhr wütete zwischen ca. 1595 und 1605. So schrieb ein Professor aus Marburg, dass sie genauso schrecklich, tödlich und ansteckend sei wie die Pest selbst. Da die Seuche aber nun schon im dritten Jahr hintereinander auftrete, könne es ja nicht schon wieder die Pest sein (!).

Im Delta des Flusses

Weiterhin konnte nach Genera und Graden aufgeteilt werden, so dass sich unzählige Varianten ergaben, deren einziges gemeinsames Merkmal Darmentleerungen mit mehr oder minder Blutabgang waren und die keinem (heutigen) Krankheitsbild eindeutig zugeordnet werden können.

Im Fluss der Vergangenheit

Zum Ende des 17. Jahrhunderts differenzieren sich die Beschreibungen. Und um 1730 wurde die Rothe Ruhr eindeutig von nichtinfektiösen Blutabgängen unterschieden: Rote Ruhr war verbunden mit heftigsten Schmerzen um den Nabel, Fieber, Appetitverlust, flüssig-schleimigen bis rein blutigem Stuhl. Ursache war am ehesten ein hämorrhagisches Fieber oder ggf. eine Darmmanifestation der Pest. Güldener Aderfluss dagegen war charakterisiert durch mäßige Schmerzen im Unterleib, kein Fieber, geformten Stuhlgang mit Auflagerung von „schönem, frischen“ Blut. Nach unserem Verständnis waren am ehesten Hämorrhoiden oder Divertikulitis ursächlich.

Ab dieser Zeit etwa werden die Beschreibungen seltener und verschwinden im 19. Jahrhundert gänzlich. Die Seuchenschriften und Rothe Ruhr versinken im Ozean der Vergangenheit.