Als Prof. Eduard Arnold Martin, Direktor der Entbindungsanstalt an der Charité Berlin, am 27. Januar 1859 ans Bett der 18-jährigen Kronprinzessin Victoria tritt, liegt sie bereits in den Wehen. Martin ist hinzugerufen worden, weil die Steißlage übersehen worden war. Prinz Friedrich Wilhelm von Preußen (später Kaiser Friedrich III.) bereitet sich auf eine Totgeburt vor.

Die schmerzhaften, krampfhaften Uteruskontraktionen sind unproduktiv. Martin narkotisiert Victoria mit Chloroform, um das Kind manuell zur Welt zu bringen. Als erster Arzt in Deutschland hatte er 1848 Chloroform bei Kreißenden angewendet.

Zerren um Wilhelm: Als das Kind mit dem Gesäß voran in den Geburtskanal eintritt, bemerkt Martin, dass der Nabelschnurpuls sehr schwach ist. Er entwickelt zunächst die in Utero komplett nach kranial gestreckten Beine, bekommt dann den nach oben gestreckten linken Arm zu fassen, den er unter „erheblicher Anstrengung“ herabführt. Unter starkem Zug am linken Arm dreht er nun den Körper im Geburtskanal, um dann auch den rechten Arm und den Kopf zu befreien. Diese Technik ist später kritisiert worden, da sie zur Verletzung des Armnervengefechts beigetragen haben könnte.

Der Prinz sei fast moribund gewesen, notiert Martin einige Tage später. Mit den „üblichen Maßnahmen“ sei es jedoch gelungen, dem Kind einen ersten Schrei zu entlocken. Zwei oder drei Tage später bemerkte Gräfin Madeleine von Blücher beim Baden des Kindes, dass der linke Arm des Neugeborenen schlaf gelähmt war. In der linken Achsel fand Leibarzt Dr. August Wegner leichte Spuren einer Quetschung. Es ist davon auszugehen, dass die Manipulationen unter der Geburt zu einer irreversiblen Schädigung des Plexus brachialis und damit zu einer Erb-Duchenne-Lähmung geführt hatten, ein Makel, der das weitere Leben Wilhelms II. bestimmen sollte.

Die Therapieversuche muten aus heutiger Sicht lächerlich und grausam an. So kühlte man den lahmen Arm in den ersten Lebensmonaten mit Umschlägen, kaltem Salzwasser, nahm „stärkende, spirituose Waschungen“ und Malzbäder vor. Als der Säugling ein halbes Jahr alt war, band man den rechten Arm täglich eine Stunde lang fest in der Hoffnung, dies würde das Kind zum Gebrauch des linken Armes anregen. Auch eine „Elektrisierungsbehandlung“ des Armes mit Wechsel- oder galvanischem Strom wurde vorgenommen. Der Historiker Röhl meint, „dass die meisten der zweifellos gut gemeinten Versuche der Ärzte objektiv gesehen einer massiven Misshandlung des zarten kleinen Jungen gleichkamen“.

Wilhelms Mutter konnte sich nur schwer mit der Behinderung abfinden und distanzierte sich emotional von ihrem Sohn. Sigmund Freud äußerte später, sie habe „dem Kind ihre Liebe wegen seines Gebrechens“ entzogen, was seinen späteren Handlungen seiner Meinung nach anzumerken gewesen sei. Die spätere Selbstherrlichkeit und maßlose Überschätzung der eigenen Fähigkeiten Kaiser Wilhelms II. sind bekannt. Regierungsmitglieder hielten ihn für nicht zurechnungsfähig. Sein bizarrer Humor war verletzend und demütigend. Inwiefern diese Persönlichkeitseigenschaften Einfluss auf die europäische Geschichte hatten, ist umstritten.

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