Paulina S. Gennermann 2023: Eine Geschichte mit Geschmack. Die Natur synthetischer Aromastoffe im 20. Jahrhundert am Beispiel Vanillin. Berlin, Boston: De Gruyter, geb., 264 S., 15 Abb. und 3 Tabellen, 79,95 €, ISBN: 978-3-111-18906‑2.

Lisa Haushofer 2022: Wonder Foods: The Science and Commerce of Nutrition. Oakland: University of California Press, brosch., 288 S., 20 Abb., 29,95 US$, ISBN: 978-0-520-39039‑3.

Ob Essen wirklich der neue Sex ist, wie seit etwa fünfzehn Jahren unermüdlich in den Feuilletons dieser Welt behauptet wird, sei dahingestellt. Unübersehbar kommt dem Thema „gesunde Ernährung“ in der Leistungs- und Konsumgesellschaft aber eine zentrale Bedeutung zu. Die Vermeidung falscher und die Befolgung richtiger Ernährungsweisen ist dabei zu einem zentralen Identitätsangebot geworden, das von Beiträgen, die expertisch gestützt werden, in der medialen Öffentlichkeit ebenso angeleitet wie es von der Nahrungsmittelindustrie und ihren Werbestrategien befeuert wird.

Mittlerweile ist gut erforscht, dass jene Chemie der Nahrungsbestandteile, wie sie im 18. Jahrhundert etabliert und seit den 1860er Jahren mit neuer experimenteller Methodik durchgeführt wurde, Vorstellungen von gesunder Ernährung erheblich verändert hat. So konnten Nahrungsmittel kategorisiert und Ernährungspraktiken rationalisiert werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts richtete sich der Fokus einer explizit neuen Ernährungslehre neben den Kalorien und dem Nährwert zunehmend auf bestimmte chemische Agentien, denen in der Nahrung eine spezifische, in Experimenten als lebensnotwendig für den Organismus herausgearbeitete Funktion zugewiesen wurde. Dazu zählten vor allem die Vitamine. Ebenso wurden aber auch Stoffe identifiziert, die sich potenziell schädigend auf die physiologischen Leistungen auswirken. Dabei wurde ebenso kategorial wie kategorisch zwischen gefährlichen oder sogar giftigen und lebensnotwendigen oder sogar leistungssteigernden Substanzen unterschieden. Dieses dichotome Modell wurde in einer lebensreformerisch und zivilisationskritisch orientierten Debatte auf die Antonymie künstlicher und natürlicher Stoffe reduziert.

Da eine Geschichte der modernen Lebensmittelproduktion bisher kaum ausreichend geschrieben wurde, ist es höchst erfreulich, dass zu dieser Thematik nun zwei besonders lesenswerte Bücher vorliegen. Das eine – verfasst von der Medizinhistorikerin Paulina S. Gennermann – widmet sich der Natur synthetischer Aromastoffe und hebt damit bereits im Titel pointiert hervor, dass nicht nur die Geschichte des Vanillins, sondern auch die Problematisierung der Kategorie der „Natürlichkeit“ im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht. Lisa Haushofer wiederum, mittlerweile Assistant Professor of food history an der Universität Amsterdam, befasst sich in ihrer englischsprachigen Monografie mit jener „Wundernahrung“ („wonder food“), von der seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend erwartet wird, sowohl die individuellen und globalen Ernährungsprobleme als auch spezifische Herrschaftsinteressen ernährungstechnisch zu lösen.

Beide Bücher ergänzen einander hervorragend, weil sie die Verwissenschaftlichung, die industrielle Produktion und Vermarktung von Lebensmitteln einerseits im deutschsprachigen und andererseits im englischsprachigen Raum untersuchen. Beide Autorinnen gehen methodisch davon aus, dass chemische Forschung als eine soziale Praxis zu verstehen ist. Bei Gennermann steht dabei die chemische Gruppe der Aromastoffe im Mittelpunkt ihrer Monografie, während Haushofer vier Produkte in den Fokus nimmt, von denen in einer bestimmten Epoche Großartiges erwartet wurde und anhand derer sich die Geschichte der Lebensmittelindustrie von 1840 bis 1940 exemplarisch erzählen lässt: aus Fleisch und Mehl hergestellte Kekse (meat biscuits), mit Verdauungsfermenten angereicherter Brei (self-digestive gruel), getrocknete Frühstücks-Getreideprodukte (breakfast cereal) und Hefewürfel (yeast cube).

Haushofer stellt zum Ende ihres wunderbar geschriebenen Buches treffend fest, dass die Geschichte dieser Produkte auf dem unerschütterlichen Traum beruht, die Gesundheit zu verbessern, den Hunger zu beseitigen, eine stabile Nahrungsmittelversorgung sicherzustellen und letztlich die Welt zu verändern (183). Zugleich ist die Entwicklung dieser neuen Lebensmittel fundamentaler Teil der die USA und Großbritannien prägenden historischen Prozesse der Zeit: Die Wundernahrung war ein Produkt von Kapitalismus, Kolonialismus, Imperialismus, Rassismus und Extraktivismus. So kam den haltbar gemachten und somit transportablen meat biscuits – extrahiertes und konzentriertes Fleisch mit angeblich hohem Nährwert – Mitte des 19. Jahrhunderts eine genuin militärische Rolle zu. Dieses Lebensmittelprodukt wurde damit nach imperialen und kolonialen Bedürfnissen und Interessen ausgerichtet. Erfrischend deutlich beschreibt Haushofer diesen Fakt in der Einleitung ihres Buches so, dass Kühe in kleine Kekse verwandelt wurden, welche die imperiale Eroberung und das weiße Siedlerprojekt der USA mitermöglichen sollten und denen die indigene Bevölkerung zum Opfer fiel (13). Während meat biscuits in den USA kommerziell allerdings kaum erfolgreich waren, wurden sie in Großbritannien als Mittel verwendet, um zukünftig Ernährungs- und Hungerkrisen zu verhindern, die in den 1840er Jahren die britischen Inseln und insbesondere Irland im Great Famine erschüttert hatten. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden dann Lebensmittel mit einem Zusatz an Verdauungsfermenten hergestellt. Diese quasi künstlich verdauten Lebensmittel (artificially digested food) müssen, so Haushofer, auch im Kontext der Optimierungs- und Sparsamkeitsdiskurse des Thrift Movement verstanden werden. Sie nährten gleichermaßen die Armen wie die Kranken. Die allseits bekannten Getreideprodukte von John Harvey Kellogg schließlich basierten auf indigenen Nahrungspraktiken und sollten auch in einem eugenischen Kontext als gesunde und ursprüngliche Lebensmittel für die Verbesserung des Volkes oder der „Rasse“ eingesetzt werden. Daran schließt auch Haushofers letztes Beispiel aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an. Gewissen Hefeprodukten wurde eine gesundheitlich wirksame und leistungssteigernde Funktion zugeschrieben. Sie sollten aber auch in den britischen Kolonien gegen Hungersnöte Verwendung finden. Zwischen 1840 und 1940 entstand ein Markt für Wundernahrung, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dann dazu beitrug, auf materieller Ebene den Konnex von Politik, Forschung und Konsum mitzugestalten.

Haushofer gelingt es, diese Komplexität durch eine beinahe literarische Sprache in einzelnen Episoden darzustellen, in denen sie jeweils sehr genau die Produktionsbedingungen, Distributionswege und Konsumpraktiken in Bezug auf die jeweiligen Produkte entfaltet. Auf den Geschmack dieser zumeist mehr zweckdienlichen als wohlschmeckenden Lebensmittel kann sie dabei nur an wenigen Stellen – etwa bezüglich der meat biscuits – eingehen. Dies aber ist just das Leitmotiv in Gennermanns Geschichte der Aromastoffe als einer Geschichte mit Geschmack. Aromen kam in der im 20. Jahrhundert immer komplexer ausdifferenzierten chemischen wie juristischen Ordnung der Inhalts- und Zusatzstoffe eine besondere Rolle zu, weil sie nur schwerlich in das dichotome Schema guter und schlechter Substanzen passten. Sie besitzen eher Genuss- als Nährwert, womit ihnen auch kein „Mehrwert“ in den emphatischen Auseinandersetzungen zur richtigen Ernährung zukommt.

Anhand der Produktgeschichte des Vanillins, das seit den späten 1870er Jahren synthetisch hergestellt werden konnte, zeigt Gennermann, wie die Eigenschaften „natürlich“, „künstlich“ und „synthetisch“ im frühen 20. Jahrhundert konzeptualisiert wurden. Eng verbunden war dies mit dem mittlerweile gut erforschten Gebiet der zumeist abwertend so bezeichneten Ersatzstoffe, zu denen das Vanillin eigentlich gezählt werden müsste. Es ist das zentrale Anliegen des Buches zu zeigen, wie Vanillin den Status des Synthetischen sozusagen abstreifte. Gennermann geht es in ihrer Untersuchung um die Methoden der Naturalisierung synthetischer Stoffe und deren Auswirkungen auf Regulierung, Vermarktung und Wahrnehmung (14). Um dies zu leisten, führt sie den Neologismus des „Konsumstoffs“ ein, der die spezifische Qualität von Agentien wie Vanillin genauer erfassen soll, deren besondere Funktion in der Geschmacksverbesserung besteht. Die Hauptabschnitte der Monografie befassen sich dann auch mit der Entwicklung der Aroma- und Duftstoffindustrie, welche die Basis für die Naturalisierung des Syntheseprodukts Vanillin seit den 1910er und 20er Jahren darstellte. Gennermann bezeichnet dies auch als „Gestaltung des industriellen Vanillin-Netzwerks“ (230). Vanillin produzierende Großunternehmen wie Boehringer, Hoffmann-la-Roche oder die zu den IG Farben gehörende Agfa schlossen sich in Konventionen zusammen. Sie zeigten sich auf dem Markt kleineren Unternehmen wie der Holzmindener Firma Haarmann & Reimer, die in den 1870er Jahren Vanillin erstmals als Coniferin gewonnen hatte, schon deshalb überlegen, weil sie besten Zugang zu den notwendigen Rohstoffen hatten. Das auf diese Weise industriell im großen Maßstab produzierte Vanillin verdrängte die Vanilleschote, zu der es geschmacksgleich, aber in der Anwendung überlegen war, und reüssierte im alltäglichen Gebrauch in der Küche quasi selbst als „Vanille“. Damit konnte Vanillin aber nicht mehr abwertend als Ersatzstoff bezeichnet werden. Für die 1930er und 1940er Jahre beschreibt Gennermann sehr anschaulich, wie Vanillin und Ethylvanillin in Nahrungsmittel integriert und marktstabil gemacht wurden. Vanillin fungierte deshalb auch während des Zweiten Weltkriegs nicht als Ersatzstoff, sondern als Konsumprodukt; als „Konsumstoff“.

Die Prekarisierung von Lebensmittelzusatzstoffen, die so kennzeichnend ist für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und die Gennermann treffend als „Chemiekritik“ bezeichnet, machte es geradezu notwendig, Vanillin als natürlichen und nicht als künstlichen Stoff zu bezeichnen. In diesem Kontext erhielten Aromastoffe in den 1970er Jahren dann auch die juristische Bezeichnung „naturidentisch“. Dies war nicht nur lebensmittelrechtlich bedeutsam, sondern die Aromastoffe wurden damit endgültig der dichotomen Ordnung entzogen, die Mitte des 20. Jahrhunderts im Gegensatzpaar der Vital- und Fremdstoffe zugespitzt worden war.

Beide Monografien zeigen eindrucksvoll, dass die Lebensmittelgeschichte notwendigerweise immer auch als Sozial- und Wirtschaftsgeschichte erzählt werden muss. Deshalb besteht eine der vielen Stärken beider Forschungsansätze darin, die Unternehmensgeschichte ebenso ernst zu nehmen wie die Einordnung in die strukturellen Bedingungen, in denen diese Lebensmittelprodukte hergestellt, vertrieben und verbraucht wurden und werden. Während Paulina S. Gennermann dabei vor allem die bis heute so bedeutsamen Natürlichkeitsdiskurse problematisiert, ordnet Lisa Haushofer Lebensmittel kritisch als Bestandteil von Herrschaftspraktiken ein.