J. Andrew Mendelsohn, Annemarie Kinzelbach und Ruth Schilling (Hg.) 2020: Civic Medicine. Physician, Polity, and Pen in Early Modern Europe. London, New York: Routledge, geb., xvi +316 S., 18 Abb., 120,00 GBP, ISBN: 978-1-4724-5358‑7.

Alexa Geisthövel und Volker Hess (Hg.) 2017: Medizinisches Gutachten. Geschichte einer neuzeitlichen Praxis. Göttingen: Wallstein, geb., 366 S., 10 Abb., 32,90 €, ISBN: 978-3-8353-3000‑9.

Monika Ankele, Céline Kaiser und Sophie Ledebur (Hg.) 2019: Aufführen – Aufzeichnen – Anordnen. Wissenspraktiken in Psychiatrie und Psychotherapie. Wiesbaden: Springer, brosch., XVII +353 S., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN: 978-3-658-20150‑0.

Medizin und medizinische Gegenstände zählen schon länger zu den Kernbereichen einer kultur-, wissens-, wissenschafts- und diskurshistorisch orientierten Auseinandersetzung. Drei neue Sammelbände unternehmen nun den Versuch eines methodischen Brückenschlags zur derzeit konjunkturellen Praxeologie und vollziehen damit eine Blickwendung von den makrohistorischen Großnarrativen hin zu einer fallbezogenen, mikrohistorischen Rekonstruktion.

Der im ERC-Projekt „Ways of Writing“ entstandene und von Andrew Mendelsohn, Annemarie Kinzelbach und Ruth Schilling herausgegebene Sammelband Civic Medicine widmet sich allein den frühneuzeitlich Praxiszusammenhängen zwischen Ärzten, Patienten und Gemeinwesen und stellt das „everyday written word“ (5) bzw. die „paper practices“ (20) ins Zentrum. Gegen lineare Modernisierungsnarrative argumentiert Mendelsohn in seiner umfänglichen Einführungs- und Forschungsdiskussion für eine „knowledge history of polity“ (36), die die Frühe Neuzeit als ein vorgängiges und vernachlässigtes „golden age“ (41) ausmache.

Die erste Sektion „Scholar in Town, Scholar in Office“ enthält drei Aufsätze. Michael Stolberg skizziert die Gelehrten‑, Gattungs- und Sozialgeschichte des Prager Arztes Georg Handsch, sowohl seiner wissenschaftlichen, handschriftlichen und gedruckten observationes als auch seiner Kasualpoesie und Briefe. Sabine Schlegelmilch untersucht 140 deutsche Bewerbungsschreiben von Ärzten des 16. und 17. Jahrhunderts auf deren Praxiswissen und rhetorische Techniken der petitio und persuasio. Fritz Dross komplementiert diese Sicht passgenau und systematisiert anhand der Nürnberger Eid- und Pflichtbücher sowie Vertragsdokumentation die komplexen städtisch-offiziösen Auswahlmechanismen.

Im zweiten Teil „Evaluating, Reporting“ beobachten Laura Di Giamatteo und Andrew Mendelsohn den „polity-building effect“ (140) und die „intercollegiality“ (151) zwischen Medizinern und Juristen, die sich am Verwaltungsschrifttum des Mailänder Tribunale di Sanità ablesen lassen. Annemarie Kinzelbach schließt an mit einer Studie zu den Schauzetteln in Nördlingen in den 1590er Jahren und den damit verbundenen Konflikten zwischen Wundärzten und Rath-Schreibern.

Im Abschnitt „Documenting, Locating“ präsentiert Valentina Pugliano die Tage- und Reisebücher des Venezianers Cornelio Bianchi innerhalb der „urban documentary culture“ (199) und zugleich als interkulturelles „self-narrative“ und „note-taking“ (187). Dagegen setzt Gianna Pomata jene hippokratisch orientierte „localized information“ (214) über Wasser- und Luftqualität oder Phänomene wie den Tarantismus, die sich in „case collections“ (216) finden und eine Vorform der anthropologischen „thick description“ (225) seien. Passend ergänzt Ruth Schilling diesen natur- und kulturhistorischen Lokalbezug mit ihrer Studie zu Christian Heinrich Erndtels Warsavia physice illustrata (1730).

In der letzten Sektion „Translating, Translocating“ zeichnet Elaine Leong die buch-, editions- und rezeptionsgeschichtlichen Konturen von Lazare Rivières Bestseller The Practice of Physick (1655) als einem Beispiel der „vernacularizing medicine“ (258) nach. Annemarie Kinzelbach und Marion Maria Ruisinger beschließen den Band mit einem Aufsatz zum Nürnberger Commercium litterarium (1730–1745), der ersten deutschen medizinischen Wochenschrift, deren redaktionelle Produktions‑, Übersetzungs- und Verbreitungspraktiken einem gesteigerten Neuigkeitsbewusstsein und einer „timeliness of information“ (282) unterstünden.

Ebenfalls aus dem ERC-Projekt „Ways of Writing“ stammt der Band von Alexa Geisthövel und Volker Hess zum medizinischen Gutachten, der als deutschsprachige Publikation zugleich ein wissenschaftspolitisches Statement ist, weil „die Vieldeutigkeit des Begriffs ‚Gutachten‘ in der englischen Sprache verloren geht“ (7). Die materialreichen Beiträge sind in die Sektionen „Gutachten für Gemeinwesen“, „Begutachtung von Sachen“ und „Gutachten vor Gericht“ zumeist sinnvoll eingeordnet. In ihrer programmatischen Einleitung betonen die Herausgeber eine „breite Verwendung der Wortmarke ‚Gutachten‘“ (16). Mit einer überzeugenden begriffs-, konzept- und wissensgeschichtlichen Herleitung seit der Frühen Neuzeit wird die Praxis des Gutachtens gegen ältere historiographische, sozial- und körpergeschichtliche Positionen in Stellung gebracht, die von einem eher linearen Prozess der „Verwissenschaftlichung“ (32) im Übergang von der Vormoderne zur Moderne ausgingen. Die Beiträge greifen die praxeologische Perspektive weitgehend konsequent auf, indem sie mit Fallbeispielen arbeiten. Die zeitlichen Abstände dieser Probebohrungen sind mitunter sehr groß. Vor allem zwischen den Aufsätzen zur Frühen Neuzeit, mit denen jede Sektion eröffnet, und zur Moderne um 1900 klafft eine Lücke. Sie zu füllen muss aber nicht zwingend zur methodischen Anlage eines Bandes gehören, der die mikrohistorische Rekonstruktion einem makrohistorischen Großnarrativ vorzieht.

Eine „Urszene des medizinischen Gutachtens“ (43) beschreibt Andrew Mendelsohn die frühneuzeitliche Lepraschau am Leipziger Fall des Paul Ammann und seiner „Schauzettel“ (48) an den Schnittstellen von Rechts‑, Politik- und Medizingeschichte. Als eigenständige Akteure erweisen sich demgegenüber Ärzte in ihrer „Sachverständigentätigkeit“ (71) für die Unfallversicherung des Deutschen Kaiserreichs und gegen etwaige Simulanten, wie sie Sebastian Knoll-Jung untersucht. Überhaupt ist das „Expertenwissen“ (73) für das moderne „Massengeschäft“ (95) des Gutachtens zentral, das Martin Lengwiler am Beispiel der Schweizer Silikoseprävention und der „Ausbreitung des Formularwesens“ (106) beobachtet. Das Gutachten tritt somit im Sinne des ERC-Projektes als „paperwork“ und „Aufzeichnungspraxis“ (128–129) in Erscheinung, die Geisthövel anhand der Epilepsie-Begutachtung um 1930 ausmacht.

Der zweite Teil beginnt mit Alix Cooper, die an Friedrich Hoffmanns Medicina consultatoria (1721–1739), einem Kompendium über Heilwässer, die Praktiken von schriftlichen Ratschlägen eines Arztes (consilium) und Meinungen der Fakultät (responsa) freilegt. Auf die Publikationsformen verweist auch Saskia Klerk, die sich mit Sachgutachten zur Behandlung von Nieren- und Blasensteinen und der öffentlichen Debatte in England und Frankreich um 1740 auseinandersetzt. Volker Hess bestimmt das Gutachten nochmals ausdrücklich „als Tätigkeit wie als verdinglichtes Schriftstück“ (192) und belegt an preußischen Zulassungsgutachten des frühen 19. Jahrhunderts sowie an Krankenakten und -tabellen der Charité minutiös die „Papiertechniken, die Wissen und Handeln verschränkten“ (216). Die Quellen eher referierend geht Axel C. Hüntelmann vor, wenn er die bürokratische „Gutachten-Maschine“ (224) der deutschen Medizinalbehörden zwischen 1870 und 1930 in den Blick nimmt und nicht zu Unrecht den narrativen Sinnzusammenhang der formal variablen Berichte betont. Mit einem etwas unerwarteten Sprung zurück ins frühe 19. Jahrhundert und Astrid Alberts Studie zur wichtigen Konkurrenz von staatlichen und kirchlichen Deutungsanliegen in Bezug auf den Wunderglauben und stigmatisierte Frauen in der westfälischen Provinz um Dülmen endet die Sektion.

Heiner Fangerau und Irmgard Müller setzen im letzten Abschnitt bei der Schreibpraxis und „Aktenlogik“ (289) des Hallenser Professors Michael Alberti an, dessen rechtsmedizinische Fallsammlungen in einem mehrbändigen Systema (1725–1747) gedruckt und zugleich in einem handschriftlichen Diarium vorliegen. Die „Plurimedialität“ (296) rechtsmedizinischer Gutachten gibt Stephanie Langer zu bedenken, wenn sie sich mit den ab 1928 in Innsbruck geführten Prozessen zum Fall Halsmann beschäftigt und hierzu den widerstrebenden Auslegungen von Fotographien des Leichnams nachspürt. Die von Urs Germann analysierten gerichtspsychiatrischen Gutachten um 1900 verfügen, ähnlich wie Hüntelmann argumentiert, über eine narrative Qualität, sofern sich hier „Verzeitlichungseffekte“ (319) und ein „emplotment“ (330) bemerken lassen. Damit wird aus dem Einzelvergehen einer Person im Strafprozess ein vermeintlich „lebensgeschichtliches Kontinuum“ (331) erstellt und eine „Legalprognose[]“ (334) abgegeben. Thomas Mayer rundet den Band ab. Seine Studie zum Vaterschafts- und Abstammungsnachweis in Wien im Umfeld der „NS-Biopolitik“ (359) legt die Gutachtenpraxis in ihrer ökonomischen, rassen- und wissenschaftspolitischen Dimensionierung dar, ohne jedoch die textliche Verfahrensseite des Materials genauer zu beleuchten.

Der von Monika Ankele, Céline Kaiser und Sophie Ledebur verantwortete Band zu den Aufführungs‑, Aufzeichnungs- und Anordnungspraktiken, die als „Kernoperationen von Psychiatrie und Psychotherapie“ (VI) aufgefasst werden, resultiert aus einer von der VolkswagenStiftung geförderten Veranstaltungsreihe. Der Band richtet sich explizit auch an praktizierende Therapeut*innen und kalkuliert insofern mit einer zusätzlichen Rezeptionsebene. Aus den titelgebenden Praktiken ergeben sich drei Abschnitte, die von je einer Herausgeberin eingeleitet werden.

Das „Aufführen“ wird „in der Begegnung zwischen Arzt/Therapeut und Patient/Klient“ (4–5) explizit theaterwissenschaftlich gefasst. Bemerkbar ist das bei Ulrich Streeck in der „Interaktion im Behandlungszimmer“ (18) und mit Blick auf ein unbewusstes „prozedurales Beziehungswissen“ (14) sowie bei Michael Schödlbauer und der „Narration“ (34) eines Progressiven Therapeutischen Spiegelbildes. In wissenschaftshistorischer Wendung finden sich Aufführungspraktiken in Manuela Schwartz’ Studie zur Musiktherapie des 19. Jahrhunderts oder „in Form der Gestaltung und des räumlichen Arrangements“ (80) zwischen Isolierzelle und Wachsaal in der Psychiatrie um 1900, die Ankele vorstellt. Henrike Hölzers Beitrag springt zurück in die Gegenwart und diskutiert den Einsatz von möglichst authentischen Simulationspatienten in der medizinischen Ausbildung.

Im zweiten Teil zum „Aufzeichnen“ befassen sich die ersten drei Aufsätze mit dem frühen 20. Jahrhundert: Urs Germann mit dem Rorschach-Formdeutversuch und den Techniken seiner Versprachlichung, Kai Sammet mit den Kurvenverläufen psychologischer Aufmerksamkeitstests sowie Katrin Luchsinger mit der künstlerischen Reflexivität und Ambiguität von Zeichnungen aus der Irrenanstalt Breitenau und ihrer ärztlichen Vereindeutigung. Neuere audiovisuelle Aufzeichnungspraktiken beschäftigen Maike Rotzoll beim psychiatrischen Lehrfilm der 1970er Jahre und der dort evozierten „asymmetrischen Gesprächssituation“ (218).

Susanne Düwell eröffnet den Abschnitt „Anordnen“ mit dem von Foucault bekannten gerichtshistorischen Fall Rivière und dem Argument, das in der zeitgenössischen Beurteilung die semiotische Typisierung eine biographische Narrativierung des Täters überwiege. Die folgenden Beiträge wechseln in die kunsttherapeutischen Anwendungsbereiche und verfolgen eher praxistheoretische, interaktionsanalytische, studien- und forschungsprogrammatische und weniger praxeologische Ziele. Constanze Schulze fokussiert mit Luhmann die „Rolle des Kunstwerkes als Kommunikat“ (263), Sabine Trautmann-Voigt wiederum die nonverbale, „körpersprachliche Kommunikation“ (277). In der Theatertherapie optiert Simone Klees für eine dialogische Rekonstruktion und eine mit Hartmut Rosa bezeichnete „Resonanzbeziehung zwischen Patient*in und Befrager*in“ (311). Analog hierzu spricht sich Nicole Hartmann in der Tanz- und Bewegungstherapie für „eine individuelle Resonanzerfahrung durch künstlerische Mittel“ (327) aus. Céline Kaisers Schlussbeitrag bündelt zuletzt alle drei Praktiken des Aufführens, Aufzeichnens und Anordnens am Beispiel des improvisatorischen Psychodramas Jacob Levy Morenos und seiner audiovisuellen Transkription zwischen den 1930er und 1950er Jahren.

Geisthövel und Hess gelingt ein methodisch durchdachter, mit seinen Fallstudien perspektivenreicher Band, dessen praxeologischer Ansatz über die zeitlichen Sprünge zwischen Früher Neuzeit und Moderne hinwegsehen lässt und nur bei wenigen Beiträgen mit einem Quellenreferat verwechselt wird. Gleiches gilt für den Band von Mendelsohn, Kinzelbach und Schilling, in dem die historische Konzentration noch klarer vorgegeben ist. Weitergehende interdisziplinäre Diskussionen, die zumal das Wissen der Rhetorik berücksichtigen und noch stärker nach den tradierten Techniken der Evidenz- und Plausibilitätserzeugung, der textlichen Veranschaulichung und Sichtbarmachung fragen, ließen sich bei beiden Publikationen fruchtbar anschließen. Bei Ankele, Kaiser und Ledebur ist die Spreizung zwischen wissenschaftshistorischen und dezidiert praxisbezogenen Beiträgen sicher am größten. Umgekehrt zeigt sich so auch das Analysepotential, das von der Praxeologie je noch zu erwarten ist. Alle drei Bände liefern hierzu wichtige Impulse.

Christian Meierhofer (Bonn)