In den frühen 1860er Jahren nahm die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft ein Projekt der „vaterländischen Landeskunde“ in Angriff, dem sie sowohl für die Wissenschaft als auch für die „Land‑, Forst- und Staatswirthschaft“ eine hohe Bedeutung attestierte (Mousson 1863a). Sie beabsichtigte nichts Geringeres, als mit einem landesweiten Beobachtungsnetz eine systematische und langfristig gesicherte Erhebung meteorologischer Daten zu koordinieren. Zu diesem Zweck gründete sie in Zürich die Meteorologische Zentralanstalt und richtete dort ein Archiv ein, in dem die eingesandten Tabellen zusammen mit älteren Beobachtungen aus der Schweiz aufbewahrt wurden. Die gesammelten und in Jahresbänden publizierten Daten sollten, so der Anspruch, eine „kostbare Grundlage für alle klimatologischen und meteorologischen Untersuchungen“ bilden (Wolf 1874: 85). Die Zentralanstalt stand zunächst unter der Leitung der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft, die 1815 als Vereinigung von „Liebhabern“ der Naturwissenschaften und „wirklichen Gelehrten“ gegründet worden war und nun für ihre meteorologische Datenerhebung vom schweizerischen Bundesstaat finanzielle Unterstützung erhielt.Footnote 1 Diese Verbindung von privater und behördlicher Initiative erklärten die Beteiligten zu etwas typisch Schweizerischem (Mousson 1864: 197). Eineinhalb Jahrzehnte später einigten sich die Naturforschende Gesellschaft und die Regierung darauf, dass die Beobachtung des Wetters innerhalb der Landesgrenzen zu einer offiziellen staatlichen Dienstleistung werden sollte. So wurde die Zentralanstalt 1881 als „amtliches ständiges Büreau“ in die Verwaltung integriert (Bundesbeschluß 1881: 22). Der Bundesrat begründete diesen Schritt damit, dass meteorologische Zentralstellen „in allen anderen Ländern“ unter staatlicher Obhut stünden (Botschaft des Bundesrathes 1880: 391).

Tatsächlich wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den meisten Ländern Europas und Nordamerikas staatliche Institutionen geschaffen, die Wetterbeobachtungsnetze unterhielten und deren Resultate publizierten. Ein frühes Beispiel ist das 1847 gegründete Königlich Preußische Meteorologische Institut in Berlin.Footnote 2 Obwohl solche Staatseinrichtungen zur Regel wurden, bildeten die deutschen Staaten in den folgenden Jahrzehnten dennoch eine Ausnahme: Nach der Reichsgründung 1871 entstand keine nationale Institution, sondern jeder Gliedstaat hatte für sich oder im Verbund mit Nachbarstaaten seine eigene Einrichtung. Erst 1934 wurde den meteorologischen Einrichtungen der deutschen Staaten ein Reichswetterdienst übergeordnet (Wege 2002: 29–61). Ansonsten etablierten sich in vielen europäischen Ländern meteorologische Institutionen auf nationaler Ebene. Die schnelle Verbreitung dieses Modells zeigt der Fall Italien. Der 1861 gegründete italienische Nationalstaat organisierte bereits 1863 eine Sammelstelle für meteorologische Beobachtungen (Bayard 1899: 74). Die Aufgabe dieser staatlichen oder staatlich finanzierten Institutionen war anfangs meistens auf das Sammeln und Publizieren von Daten beschränkt. Schon bald betrieben sie aber auch Prognosedienste, einige bereits in den 1860er Jahren.Footnote 3 Die Schweizerische Meteorologische Zentralanstalt erstellte ab 1880 tägliche Wetterberichte mit Vorhersagen.

Zu meteorologischen und klimatologischen Themen forschten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Wissenschaftler mit verschiedenen fachlichen Hintergründen. Als akademische Disziplinen mit eigenen Lehrstühlen und formalisierten Ausbildungswegen hatten sich die Meteorologie und Klimatologie zu dieser Zeit noch nicht etabliert. Auch ihre Auftrennung in zwei eigenständige Fachgebiete fand erst im 20. Jahrhundert ihren Abschluss. Davor, genauer in der hier interessierenden Zeitspanne von Mitte des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, galt Klimatologie in der Regel als Zweig einer breit gefassten Meteorologie, jedoch als „mehr beschreibend“ als die „Meteorologie im engeren Sinne“ (Hann 1883: 2; Hann 1901: 1). Ohne Spezifizierung umfasste der Überbegriff „Meteorologie“ demnach auch klimatologische Gesichtspunkte. Die These, die im Folgenden am Beispiel der Schweiz empirisch getestet werden soll, lautet, dass die Umwandlung des klimatologischen Wissensfelds in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wesentlich von der nationalen Institutionalisierung der Datenproduktion geprägt war. Wie für das politische Ordnungsmodell des Nationalstaats waren die Jahrzehnte von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis ins frühe 20. Jahrhundert auch für die Klimatologie eine Gründungszeit, geprägt von einer institutionellen Konstituierung und Konsolidierung. Die leitende Fragestellung bezieht sich auf die Verflechtungen zwischen diesen Prozessen und ihre Konsequenzen für die Erzeugung klimatologischen Wissens. Wie entstand eine staatliche Wetterbeobachtung? Welche Auswirkungen hatte dies für die Sammlung und Verwertung von Daten sowie für die Konturierung der Klimatologie als Wissenschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert?

Untersucht wird also, wie sich die klimatologische Praxis unter dem Einfluss der Staats- und Nationsbildung veränderte. Dabei soll der entstehende nationale Bezugsrahmen der Klimatologie nicht nur als ideelles Konzept, sondern auch in seinen konkreten Folgen als „realisierte Kategorie“ thematisiert werden (Saunier 2013: 8). Zwar hat die geschichtswissenschaftliche Forschung zu Nation und Nationalismus seit den 1990er Jahren die Historizität und den Konstruktionscharakter der Nation hervorgehoben und intensiv analysiert, aber die Beziehung von Wissenschaft und Nation ist insbesondere mit Blick auf die Naturwissenschaften noch wenig geklärt. Als Ausnahmen sind die Sammelbände Wissenschaft und Nation in der europäischen Geschichte (Jessen & Vogel 2002a) und The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire, 1848–1918 (Ash & Surman 2012) anzuführen, die beleuchten, wie Wissenschaften den Nationalisierungsprozess beeinflussten und umgekehrt von diesem geprägt wurden.Footnote 4 Die Klimatologie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist bislang nicht nur in Bezug auf ihre nationale Prägung, sondern generell historisch kaum untersucht worden, während die Literatur zur Einführung von Wetterprognosen und zur meteorologischen Theorieentwicklung deutlich umfangreicher ist.Footnote 5

Im Folgenden geht es zuerst um die Koppelung wissenschaftlicher, staatlicher und nationaler Interessen, die den Aufbau des Schweizer meteorologischen Beobachtungsnetzes bedingten. Als Zweites wird gezeigt, wie der Aufbau eines nationalen Datenarchivs auch Teil von internationalen Standardisierungsbestrebungen war. Ein dritter Teil untersucht, wie die nationale Institutionalisierung der Datenproduktion die Darstellung von Klimaverhältnissen beeinflusste. Danach wird viertens beleuchtet, welche Konzepte der Erkenntnisfindung die sogenannte Mittelwertsklimatologie prägten, die dem Projekt standardisierter und umfangreicher Datensammlungen zugrunde lag. Ein fünfter Abschnitt zeigt auf, dass sich dieser Ansatz mit der staatlichen Institutionalisierung verstetigte, zunehmend aber physikalische Zugänge für die Theoriebildung an Bedeutung gewannen. Schließlich wird die Transformation des klimatologischen Wissensfelds unter dem Einfluss der Nationsbildung bilanziert.

Interessen und Allianzen

Obwohl das Wetter als wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand eine lange Tradition aufwies, galt Mitte des 19. Jahrhunderts das theoretische Fundament zu den atmosphärischen Prozessen und ihren Interaktionen mit den Gegebenheiten der Erdoberfläche als schwach (Kämtz 1831: 5; Mousson 1862: 487; Hann 1878: 113). Vor diesem Hintergrund waren die staatlich finanzierten Beobachtungsnetze ein Teil des Versuchs, die Klimatologie als Wissenschaft zu stärken. Maßgeblich wirkte dabei die Überzeugung, dass weitere Fortschritte nur über eine koordinierte, standardisierte und langfristig gesicherte Beobachtung zu erzielen seien. Die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft gründete ihr Wetterbeobachtungsnetz mit der Zwecksetzung, „möglichst viele Thatsachen über die climaterischen Verhältnisse“ zu sammeln (Mousson 1864: 239). An 88 über die Schweiz verteilten Stationen ließ sie nach einheitlichen Methoden dieselben meteorologischen Elemente erfassen. Mit der staatlichen Finanzierung hoffte sie, die zwei großen Herausforderungen von Datenerhebungen – Einheitlichkeit und Kontinuität – bewältigen zu können. Sie formulierte zudem eine spezifische Problemstellung: die Frage, wie topografische Gegebenheiten das Wetter beeinflussten (Mousson 1862: 489–491). Die Beobachtungen sollten also dazu beitragen, die Wirkung geografischer Faktoren aufzuschlüsseln, wofür die stark gegliederte Schweiz ein geeignetes Terrain schien (Mousson 1864: 203). Die Wahl des nationalen Raums als Untersuchungsgebiet ist ferner mit der organisatorischen Struktur der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft als Dachorganisation lokaler und kantonaler Gesellschaften zu erklären und schließlich mit ihrer Selbstverpflichtung, die Kenntnis der „vaterländischen“ Natur zu fördern (Usteri et al. 1817: 3).

Die wissenschaftliche Verwertbarkeit von Wetterbeobachtungen im meteorologisch-klimatologischen Bereich und in anderen Wissenschaftszweigen wie der Hydrologie bildete nicht den einzigen Bezugspunkt der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft. Sie argumentierte, dass Kenntnisse über die klimatischen Verhältnisse – genauso wie Informationen zur Bodenbeschaffenheit oder zu vorkommenden Pflanzen, Tieren und Mineralien – eine „Grundlage für manche auf die Wohlfahrt des Landes abzielende Massregeln“ darstellen würden (Mousson 1864: 196). Deswegen waren laut der Wissenschaftlervereinigung naturbezogene Bestandsaufnahmen für den schweizerischen Bundestaat von Belang (ebd.: 201). Diesem Argument lag ein Verständnis von Staatlichkeit zugrunde, das darüber definiert war, das gesamte Territorium vollständig zu erfassen und zu durchdringen: Ein moderner Staat kannte nicht nur den geografischen Verlauf der Grenzen seines Territoriums, die Zahl und Zusammensetzung der auf diesem Territorium lebenden Bevölkerung, sondern er verfügte auch über eine genaue, wissenschaftliche Kenntnis der Natur (Scott 1998). Die Annahme eines staatlichen Interesses bestätigte sich insofern, als der schweizerische Bundesstaat 1862 eine finanzielle Beteiligung am Beobachtungsnetz beschloss und sich damit für die Förderung einer nationalen Datenerhebung zu Wetter und Klima zuständig erklärte. Als zentrale Begründung führte die Regierung aber nicht das Wissensbedürfnis der Verwaltung an, sondern verwies auf eine praktische Nutzbarkeit der Beobachtungsresultate in verschiedenen Wirtschaftsbereichen (Pioda 1862: 482). Auch die staatliche Übernahme der Meteorologischen Zentralanstalt 1881 rechtfertigte der Bundesrat mit dem Argument, die Institution diene „praktischen öffentlichen Interessen“ (Botschaft des Bundesrathes 1880: 391).

Die Schaffung staatlich finanzierter Einrichtungen brachte die neue Berufsgattung der amtlichen Meteorologen hervor. Sie kümmerten sich um die Sammlung, Bearbeitung und Publikation der Daten. Bei der eigentlichen Beobachtungsarbeit fand keine Professionalisierung statt. Es waren nicht staatliche Beamte – und auch nicht die „Gelehrten“ –, sondern Bürger aus den verschiedensten Berufen, die mit ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit als Beobachter die Basis des Unternehmens bildeten. Freiwillige ohne Fachausbildung spielten damit eine wesentliche Rolle bei der klimatologischen Datenproduktion.Footnote 6 Unter den 88 Beobachtern des schweizerischen Netzes waren 25 Lehrer, 21 Geistliche, elf Ärzte oder Apotheker, neun Gastwirte, vier Wissenschaftler, drei Telegrafisten, drei Uhrmacher und zwei Kaufleute. Neun weitere fielen in die Kategorie „andere Berufsarten“ (Mousson 1864: 216). Anfangs waren die Stationsinhaber ausschließlich Männer. Später übernahmen auch Frauen Beobachtungsposten, meistens in Nachfolge ihrer Ehemänner oder Väter. Die Organisatoren des schweizerischen Beobachtungsnetzes hatten den Anspruch, eine hohe Präzision zu gewährleisten, auch wenn die Beobachter auf ihren Stationen größtenteils nicht naturwissenschaftlich ausgebildet waren. Dank der staatlichen Finanzierung konnten sie das Netz mit vergleichsweise teuren, nach aktuellen wissenschaftlichen Qualitätskriterien ausgewählten Instrumenten ausstatten (Mousson 1864: 218). Die Beobachter maßen an 365 Tagen im Jahr um 7, 13 und 21 Uhr die Temperatur, die Feuchtigkeit und den Druck der Luft, bestimmten allfällige Niederschlagsmengen, erfassten die Windrichtung und Windstärke, stellten den Zug der Wolken fest und schätzten den Grad der Bewölkung. Alle Werte mussten die Beobachter fein säuberlich in Tabellen eintragen, die sie jeweils nach Monatsende an die Schweizerische Meteorologische Zentralanstalt in Zürich sandten.

Klimatologische Datensammlungen wurden also nicht im Alleingang von Wissenschaftlern hergestellt. Vielmehr waren sie das Produkt eines kollektiven Empirismus (Daston & Galison 2007: 19). Die Darstellung des schweizweiten Beobachtungsnetzes als Synthese gemeinsamer Anstrengungen ließ sich mit der Vorstellung einer republikanischen Tradition als Schweizer Spezifikum verbinden. In der Partizipation von Freiwilligen sah die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft einen Ausdruck der „vaterländisch gemeinnützigen Gesinnung“ und eine Verwirklichung „republikanischen Lebens“ – laut ihr eine nationale Eigenart (Mousson 1864: 197; 202). Als der Bundesstaat das Beobachtungsnetz 1881 übernahm, betonte die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft, dadurch werde das „Ineinandergreifen und Zusammenwirken der staatlichen Organe und der freiwilligen Privatleistungen“ nicht aufgehoben, sondern lediglich in eine andere Form gebracht (Hagenbach-Bischoff 1881: 110). Bei der klimatologischen Datenerhebung überkreuzten sich demnach wissenschaftliche und staatliche Rationalitäten mit dem Projekt der Nation. Die Partizipation wissenschaftsaffiner Bürger aus unterschiedlichen Regionen der Schweiz symbolisierte einen nationalen Konsens und wirkte damit als Integrationsfaktor für eine vielfältige Nation.

Standardisierung auf nationaler und internationaler Ebene

Im schweizerischen meteorologischen Beobachtungsnetz war vom Wettergeschehen in erster Linie relevant, was sich messen und somit zahlenmäßig handhaben ließ: die Temperatur, der Druck und die Feuchtigkeit der Luft sowie die Niederschlagsmenge. Hatten die Naturforscher der Aufklärungszeit das Wetter zunächst mit vielen verschiedenen, auch nicht-quantifizierenden Ansätzen zu verstehen versucht, wurde die instrumentell gestützte Datenerhebung im 19. Jahrhundert zum dominierenden Zugang. Die Beobachter auf den schweizerischen Stationen quantifizierten sogar Elemente, die sie mit ihrer Stationsausrüstung nicht instrumentell messen konnten: die Bewölkung und die Windgeschwindigkeit. Sie schätzten diese Parameter mit einem Blick in den Himmel respektive nach phänomenologischen Kriterien ab und definierten je einen Wert auf einer Skala (Mousson 1863b: 9). Diese numerisch abstrahierten Informationen wurden wie die gemessenen Werte zu den „Beobachtungsdaten“ gezählt (Mousson 1864: 228). Nach Bruno Latour sind Daten nicht etwas Gegebenes, bereits Vorhandenes, sondern das Resultat komplexer Konstruktionsprozesse (Latour 2002: 55). Wetterphänomene waren stets flüchtig, die Tabellenwerte immer nur Momentaufnahmen. Einmal auf Papier gebrachte Beobachtungen konnten nicht mehr direkt überprüft werden, weil die Messbedingungen des dokumentierten Augenblicks nicht reproduzierbar waren. Deshalb waren akribische Anleitungen ein wichtiges Resultat und Symbol der Bemühungen um verlässliche Beobachtungen. In der Wissenschaftsgeschichte hat sich der Begriff der „epistemischen Tugenden“ etabliert, um die explizit oder implizit vermittelten und historisch wandelnden Normen zu bezeichnen, die die wissenschaftliche Praxis prägten (Daston & Galison 2007; Daston 2008). Bei den klimatologischen Datenerhebungen bildeten Genauigkeit und Zuverlässigkeit die zentralen Eigenschaften, die von den Beobachtern eingefordert wurden (Mousson 1863b).

Staatlich finanzierte Institutionen wie die Schweizerische Meteorologische Zentralanstalt wirkten als Agenten der Standardisierung. Mit dem Ziel „vollkommener Vergleichbarkeit sämmtlicher Stationen“ vereinheitlichten sie die Wetterbeobachtungen innerhalb nationaler Räume weitgehend, auch wenn sie bei der Durchsetzung von Vorschriften gegenüber größtenteils ehrenamtlichen Beobachtern auf Schwierigkeiten stießen (Mousson 1864: 223). Homogene Datensätze galten als große Errungenschaft des 19. Jahrhunderts. Zu den Beobachtungen aus der Zeit vor ihrer Gründung hatte die Zentralanstalt ein ambivalentes Verhältnis: Sie nahm sie zwar in ihr Archiv auf, aber rechnete ihnen nur einen beschränkten Wert zu. Eine „ausgiebige Verwendung“ der meisten älteren Beobachtungen hielt sie wegen deren „Ungleichartigkeit, Vereinzelung und Unsicherheit“ nicht für lohnenswert (Maurer et al. 1909: 19). Julius Maurer, von 1905 bis 1934 Direktor der Schweizerischen Meteorologischen Zentralanstalt, setzte die Erkenntnisgewinne der Meteorologie – inklusive ihrer klimatologischen Richtung – in direkte Beziehung zur Institutionalisierung der Datenproduktion: Der „große Aufschwung“ der Meteorologie in neuerer Zeit sei damit zu erklären, dass an die Stelle der „früheren Planlosigkeit im Beobachten“ nun „Methode und übereinstimmende Grundsätze“ getreten seien (ebd.: 18). Maurers Zitat verdeutlicht, dass sich die Klimatologie, wie die Meteorologie überhaupt, ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark über Standards definierte. Wer nicht nach den in seinem Staat gültigen Vorgaben beobachtete, konnte keine wissenschaftlich relevanten Resultate erzeugen. Gleichzeitig stellte Einheitlichkeit ein Projekt dar: Die Standardisierung war mit der Gründung des Beobachtungsnetzes 1863 nicht abgeschlossen, sondern setzte sich als Prozess dauernd fort.

Aufgrund des universalistischen Anspruchs der Wissenschaft genügte es nicht, nationale Standards zu definieren und zu implementieren. Wenn in den verschiedenen Netzen mit unterschiedlichen Instrumenten, nach abweichenden Vorgaben und nicht zu denselben Tageszeiten beobachtet wurde, waren deren Resultate nicht direkt vergleichbar. Arbeiteten Klimatologen mit einer heterogenen Datengrundlage, mussten sie aufwendige Rechnungsarbeiten in Kauf nehmen. Einheitlichkeit der Daten war deshalb ein Ziel, das nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene angestrebt wurde. In den 1870er Jahren fanden zwei Kongresse mit offiziellen Regierungsvertretern statt, die zahlreiche Beschlüsse fassten und ein internationales Komitee mit der Ausarbeitung weiterer Empfehlungen beauftragten. Über diese berieten und entschieden dann ab 1891 die Direktoren meteorologischer Beobachtungsnetze, die sich regelmäßig zu geschlossenen Konferenzen trafen und auch Kommissionen für bestimmte Sachbereiche einsetzten (Hellmann & Hildebrandsson 1907). Die internationalen Direktorenkonferenzen stärkten die Zentralanstalten auf nationaler Ebene, indem die internationalen Verhandlungen über sie und nicht andere Fachvertreter liefen. Dass die Schweizerische Meteorologische Zentralanstalt international als nationale Repräsentantin auftrat, festigte ihre Position innerhalb der Schweiz, etwa gegenüber den Observatorien in Bern und Genf. Der Aufbau internationaler Strukturen und die Konsolidierung nationaler Institutionen bestärkten sich also gegenseitig. Sebastian Conrad hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Konstituierung nationaler Strukturen der Zunahme von internationalen Interaktionen nicht einfach vorausging, sondern die beiden Dynamiken nur in ihrer Wechselseitigkeit zu verstehen sind (Conrad 2006: 316). Zudem hatte der Vergleich mit anderen nationalen Institutionen eine wichtige Bedeutung bei der Konzeption von Datenerhebungen. Besonders wirksam war in der Schweiz das Argument drohender Rückständigkeit, mit dem eine den Einrichtungen anderer Staaten ebenbürtige Ausstattung eingefordert wurde.Footnote 7

Die Erwartung, durch internationale Absprachen einheitliche Beobachtungsdaten zu erhalten, erfüllte sich nur teilweise. Formell waren die internationalen Beschlüsse nur Vorschläge, die von den nationalen Institutionen entweder umgesetzt oder aber ignoriert wurden. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts erfolgte eine weitgehende Standardisierung auf internationaler Ebene, ab 1950 koordiniert von einer intergouvernementalen Institution. Durch den Aufbau gemeinsamer Infrastrukturen wurde Zusammenarbeit quasi obligatorisch, wie Paul Edwards dargelegt hat (Edwards 2006; Edwards 2010). Gewisse störende Unterschiede blieben aber bestehen. Beispielsweise bestand auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts keine vollständige Einheitlichkeit zwischen den Beobachtungsnetzen der verschiedenen Alpenländer. So hatte etwa ein Geograf, der sich Ende der 1960er Jahre um eine gesamtalpine Klimatografie bemühte, mit unterschiedlichen Beobachtungsterminen für Lufttemperatur- und Niederschlagsmessungen, verschiedenen Messverfahren der Schneedecke und zwei Notierungsvarianten von Niederschlagsmengen zu kämpfen (Fliri 1970). Zudem konstatierte er abweichende Formeln zur Berechnungen der Tagesmittel und unterschiedliche Methoden der Reduzierung auf eine Normalperiode. Das Prinzip, dass jeder Nationalstaat für die klimatologische Erschließung seines Territoriums sorgte, führte also zu einem ambivalenten Ergebnis: Zum einen transformierte die nationale Institutionalisierung die Wetterbeobachtung in eine stärker organisierte Aktivität und trieb deren Standardisierung voran, zum anderen schuf sie aus wissenschaftlicher Sicht künstliche Grenzen. Der nationale Raum blieb für die Klimatologie auch im 20. Jahrhundert ein zentrales Strukturprinzip, indem nationale Koordinationsstellen die Basis für internationale Datenzentren bildeten und diese wiederum die Verdichtung nationaler Klimamessnetze beförderten.

Nationale Klimatografie

Am offensichtlichsten und prägnantesten schlug sich die nationale Rahmung der klimatologischen Datenproduktion in der Präsentation der Beobachtungsergebnisse nieder. Jede staatlich finanzierte Institution sammelte und veröffentlichte Klimainformationen zum jeweiligen Staatsterritorium. Die Schweizerische Meteorologische Zentralanstalt gab jedes Jahr einen Band mit täglichen Beobachtungen sowie Mittelwerten ihrer Stationen heraus.Footnote 8 1909/1910 erschien die Übersichtsdarstellung Das Klima der Schweiz, deren Hauptautoren der damalige Direktor der Zentralanstalt und sein Assistent waren (Maurer et al. 1909; Maurer et al. 1910). Von der Konzeption her war diese Publikation ähnlich gestaltet wie die Klimatographie von Österreich (ab 1904) oder der Klima-Atlas von Deutschland (Hellmann et al. 1921).Footnote 9 Das Klima der Schweiz bestand aus einem Textband, in dem die Klimaverhältnisse in den verschiedenen Landesteilen beschrieben wurden, und einem Tabellenband, der die Mittelwerte aus 37 Jahren (1864–1900) der einzelnen Wetterelemente für 95 Stationen präsentierte. Diese Darstellung vermittelte die Vorstellung, dass die verschiedenen Gebiete der Schweiz eine Grundgesamtheit bildeten: Die lokalen Verhältnisse wurden in einen Zusammenhang integriert und formten zusammen das „Klima der Schweiz“.

Ralph Jessen und Jakob Vogel betonen in ihren Überlegungen zur Wechselbeziehung von Naturwissenschaften und Nation, dass wissenschaftliche Erfassungsprojekte vermeintliche Evidenzen eines nationalen Raumes produziert hätten (Jessen & Vogel 2002b: 32). Diesen Bildern kam gerade aufgrund ihrer Wissenschaftlichkeit eine besondere Bedeutung zu. Oliver Zimmer spricht diesbezüglich von einer Naturalisierung der Nation (Zimmer 1998: 638). Für die Imagination eines natürlich zusammengehörenden Raumes hatten besonders kartografische Darstellungen wie etwa die erste topografische Karte der Schweiz eine große Bedeutung. Sie stabilisierten die Nation, indem sie ihr einen geografischen Raum zuwiesen (Gugerli 1998; Gugerli & Speich 2002). Auch nationale Klimatografien trugen dazu bei, das Bild eines zusammengehörenden Naturraums zu kreieren und entfalteten somit eine nationsbildende Wirkung. Jedoch war die Nation eine brüchige und keineswegs ausschließliche räumliche Größe von Klimabeschreibungen. Viele Wissenschaftler arbeiteten zwar unhinterfragt mit nationalen Kategorien, verwiesen aber darauf, dass Wetterphänomene nicht an Landesgrenzen Halt machten und „keine Marken und Grenzpfähle“ respektierten (Sidler 1877: 18). Zeitgleich zur Entstehung nationaler Klimatografien bildete sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die Vorstellung eines globalen Klimas heraus.Footnote 10 Begünstigt wurde die Konstruktion eines globalen Klimas durch die bessere Verfügbarkeit von Daten, ihrerseits Resultat einer Institutionalisierung im nationalen Rahmen und einer vermehrten Publikation von Beobachtungen aus Kolonien europäischer Staaten. Da amtliche Sammelstellen bei der Datengewinnung in kolonialen Kontexten meistens fehlten, förderten Fachzeitschriften die Veröffentlichung von Beobachtungen (Meteorologische Zeitschrift 1886: 512). Während klimatologische Datensammlungen in Europa zum größten Teil von staatlichen Institutionen erzeugt wurden, entstanden solche zu nichteuropäischen Gegenden im späten 19. Jahrhundert teils auf private, teils auf kolonialherrschaftliche Initiative (Beattie et al. 2014; Siiskonen 2015; Mahony 2016).

Wie ordneten und interpretierten die Autoren von Das Klima der Schweiz die Mittelwerte der Schweizer Stationen? Bereits in der Anfangsphase des Projekts für eine Klimatografie der Schweiz hoben die Verantwortlichen hervor, die Schweiz habe als Ganzes gefasst „ebensowenig ein Klima“ wie „eine Sprache oder einen Volkscharakter“.Footnote 11 Auch in der schließlich realisierten Publikation von 1909/1910 betonten die Autoren wiederholt die „außerordentlich mannigfaltige örtliche Färbung des Klimas“ (Maurer et al. 1909: 63). Dies fiel auch den Rezipienten ins Auge. „Wie die Schweiz morphologisch keine Einheit darstellt, so ist auch ihr Klima kein einheitliches“, lautete der erste Satz einer Rezension zu Das Klima der Schweiz (Bach 1910: 695). In der schweizerischen Klimatografie wurden die Klimaverhältnisse des Landes also nicht homogen dargestellt. Vielmehr unterstrichen die Autoren die Verschiedenheit der „klimatischen Bezirke“. Vor dem Hintergrund des nationalen Identitätsdiskurses, der Vielfalt zu einem schweizerischen Wesensmerkmal erhob, passte klimatische Diversität innerhalb der territorialen Grenzen zum Selbstbild der multiethnischen Föderation. Die Klimabeschreibung war somit anschlussfähig an die Rhetorik der sprachlichen und kulturellen Vielfalt als schweizerische Eigenheit.

Julius Maurer und seine Mitautoren beschrieben die Alpen als „markante Klimascheide“ und unterstrichen, wie unterschiedlich die Verhältnisse zwischen der Nord- und Südschweiz seien (Maurer et al. 1909: 234). Für jeden Reisenden sei der Übergang in ein anderes Klimagebiet augenfällig, wenn er beispielsweise „aus den kalten Winternebeln des schweizerischen Mittellandes in die strahlende Sonne des Tessins“ trete oder die Eisenbahn ihn umgekehrt „aus den herbstlichen Regenfällen der Südschweiz unter den hellen Föhnhimmel des Nordens“ bringe (ebd.). Den südalpinen Kanton Tessin charakterisierten die Autoren als mediterranes Gebiet mit einem „schon fast subtropischen Gepräge“ (ebd.: 63). Damit wurde in Das Klima der Schweiz die Einteilung übernommen, die Julius Hann in seinem erstmals 1883 erschienen Handbuch der Klimatologie präsentiert hatte. Er rechnete die nördliche Schweiz mit Teilen des Deutschen Reichs und Österreich-Ungarns zu „Mitteleuropa“, charakterisiert durch den Übergang vom See- zum Kontinentalklima, die südalpinen Gebiete der Schweiz dagegen zu den „Mittelmeerländern“ (Hann 1883: 472).

Auffallend ist, wie viel Gewicht die nationale Klimatografie auf die Alpen legte. Das Kapitel zum Alpengebiet hatte einen doppelt so großen Umfang wie die Beschreibungen des Mittellands und des Juras zusammen. Einen klaren Fokus auf die Alpen lässt sich bereits beim Aufbau des schweizerischen Beobachtungsnetzes in den 1860er Jahren ausmachen. Die Organisatoren richteten viele Stationen in Lagen über tausend Metern über Meer ein – trotz der Schwierigkeit, in dünn besiedelten Regionen Beobachter zu finden (Mousson 1864: 262–264). Diese Stationen wurden auch in den folgenden Jahrzehnten prioritär behandelt, weil die Bedingungen im Gebirge deutlich von den Normallagen abwichen und damit als besonders interessant galten. Mit einem Schwerpunkt auf die Alpen konnte die Schweizerische Meteorologische Zentralanstalt nicht nur in der Fachgemeinschaft, sondern auch in der schweizerischen Öffentlichkeit auf Zustimmung hoffen, wo das Alpenmotiv als eine Form der nationalen Selbstversicherung präsent war (Marchal 1992; Zimmer 1998). Der Direktor der Zentralanstalt bezeichnete die Schweiz sogar explizit als „Alpenland“ und vernachlässigte damit den Jura und das Mittelland (Maurer et al. 1909: 65). Mit solchen Darstellungen bestärkten er und seine Kollegen die alpine (Selbst‑)Beschreibung der Schweiz, förderten also die Wahrnehmung der Schweiz als Gebirgsland.

Der epistemische Status institutionalisierter Datenproduktion

1880 hatte die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft eine detaillierte Klimatografie als „wahre Frucht“ der seit 1863 laufenden Erhebung bezeichnet (Rütimeyer & Mousson 1880: 70). Laut den Autoren von Das Klima der Schweiz stellten die darin enthaltenen Tabellen aber keineswegs den Abschluss der Datenverwertung dar. Vielmehr bezeichneten sie die berechneten Mittelwerte als Grundlage für zukünftige Forschungsarbeiten (Maurer et al. 1909: 10). Die Schweizerische Meteorologische Zentralanstalt beanspruchte, sich am Aufbau der Meteorologie als „noch junge Wissenschaft“ zu beteiligen, indem sie zu einer verbesserten empirischen Basis beitrug (Wolf & Billwiller 1880: 406). Es war nicht vorgesehen, dass die Zentralanstalt selbst eine wissenschaftliche Verwertung der von ihr erzeugten Daten vornehmen sollte. Ihre Aufgabe beschränkte sich zunächst darauf, die gesammelten Beobachtungen und daraus berechnete Mittelwerte zu veröffentlichen (ebd.: 398). Nach Heinrich Wild, der 1868 als Observatoriumsdirektor von Bern nach St. Petersburg gewechselt hatte, ließen sich viele Regierungen bei der Gründung meteorologischer Zentralanstalten von folgender Überlegung leiten:

Für die Bearbeitung der meteorologischen Beobachtungen werden sich, da diess eine interessante und unmittelbar lohnende Arbeit ist, gewiss immer Privatpersonen finden, welche in der Lage sind, dieselbe unentgeltlich aus Liebe zur Wissenschaft zu übernehmen, die Leitung, Sammlung und Publication der Beobachtungen dagegen ist eine so mühsame und undankbare Aufgabe, dass sich ihr Niemand mehr freiwillig unterziehen mag, da aber hiefür [sic] doch eine einheitliche, wissenschaftliche Leitung gefordert wird, so müssen aus Staatsmitteln gerade zu diesem Zwecke meteorologische Central-Anstalten geschaffen werden (Wild 1875: 360).

Staatliche Forschungsförderung sollte hier also über den Weg einer institutionalisierten Datenproduktion funktionieren. Doch Wild wandte ein, dass die Vorstellung einer wissenschaftlichen Weiterverarbeitung durch rein private Initiativen nicht mehr zeitgemäß sei. Der „Geist der Zeit“ dränge die Forschung aus „blosser Liebhaberei“ in den Hintergrund, weshalb es seiner Ansicht nach den Angestellten der Zentralanstalten ermöglicht werden sollte, sich auch selbst um eine wissenschaftliche Verwertung des angelegten Datenarchivs zu kümmern (ebd.: 361).

Auch wenn viele Wissenschaftler Wilds Position teilten, dass eine standardisierte Datenmenge allein keine automatische Weiterentwicklung des theoretischen Verständnisses brachte, waren die wissenschaftlichen Erwartungen hoch, die sich an die Institutionalisierung der Datenproduktion knüpften. Sie bezogen sich nicht nur auf die anwachsende Menge an verlässlichen und vergleichbaren Beobachtungen. Als entscheidender methodischer Fortschritt galten auch die statistischen Auswertungsverfahren. Der deutsch-russische Meteorologe und Klimatologe Wladimir Köppen schrieb in den 1870er Jahren, man erhalte mit der Einführung arithmetischer Mittel eine „Handhabe“, um sich in der „unendlichen Komplikation der Witterungs-Erscheinungen“ zurechtzufinden (Köppen 1874: 3). Anders als die heutigen Klimaforscher verfügten die Klimatologen im 19. Jahrhundert aber über keine rechnergestützten Verfahren zur Analyse großer Datenbestände und setzten auch keine maschinellen Hilfsmittel ein. Dementsprechend stellte eine sinnvolle Auswertung der rasch wachsenden Menge an Daten eine große Herausforderung dar. Allein auf der Schweizerischen Meteorologischen Zentralanstalt liefen pro Jahr über 1.000 Tabellen ein. Jede einzelne Monatstabelle umfasste bis zu tausend Angaben, womit total rund eine Million Beobachtungswerte pro Jahr zusammenkamen. Zwischen dieser Datenmenge und ihrer Verwertung in wissenschaftlichen Beiträgen entstand eine offensichtliche Diskrepanz. Viele Beobachtungen, die staatliche Stellen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sammelten und publizierten, wurden nicht genutzt. Die meteorologischen Zentralanstalten sahen sich deshalb bald mit dem Vorwurf konfrontiert, „in einem Wust von überflüssigen Zahlen“ zu schwelgen (Hann 1878: 121).

Dennoch verteidigten die staatlichen Institutionen die wissenschaftliche Bedeutsamkeit ihrer Arbeit. Wilhelm Trabert, von 1908 bis 1915 Direktor der Wiener Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik, argumentierte beispielsweise, man müsse unbedingt weiterbeobachten, auch wenn zurzeit eine geeignete Auswertungsmethode fehle. Er begründete dies historisch:

Eine Zeit, die zu wenig originelle Köpfe hat, muß sich bescheiden, Material aufzuhäufen. Auch das Mittelalter konnte nichts anderes tun, und es war gut, denn als später in Keppler ein origineller Kopf auftauchte, fand er das Material vor, aus dem er seine Gesetze ableiten konnte, mit dem aber das Mittelalter nichts anzufangen gewußt hatte (Trabert 1912: 9–10).

Das Theoriepotenzial der Beobachtungsnetze verlagerte Trabert damit von der Gegenwart in die Zukunft, zu Gunsten einer als überzeitlich begriffenen Forschergemeinschaft. Auch die Schweizerische Meteorologische Zentralanstalt rechtfertigte die Fortführung der Beobachtungen damit, dass sich deren eigentlicher Wert erst nach vielen Jahrzehnten offenbaren würde. Sie sah sich als Instanz, die dafür sorgte, dass auf dem Gebiet der Schweiz Wetterbeobachtungen stattfanden, die diachron vergleichbar sein würden. Diese Kontinuität schien einzig der Staat sichern zu können (Wolf 1891: 25).

Mit der staatlichen Datenproduktion bildete sich die Klimatologie, in der das Sammeln von Beobachtungen seit jeher viel Gewicht hatte, noch stärker als eine archivierende Wissenschaft heraus. Sie funktionierte als eine „Science of the Archive“. Mit diesem Begriff bezeichnet Lorraine Daston naturwissenschaftliche Disziplinen, die kollektive Dokumentationssysteme entwickelten, um Information für eine als überzeitlich begriffene Forschergemeinschaft aufzubewahren und nutzbar zu machen (Daston 2012; Daston 2017). Die Schwierigkeit, aus den Massen angesammelter Daten neue wissenschaftliche Erkenntnis zu ziehen, veränderte den epistemischen Status der Datenproduktion nicht grundlegend. Um ihre wissenschaftliche Relevanz aufrechtzuerhalten, hatten Zukunftsverweise eine wichtige Funktion. Dies gilt auch für den Anspruch praktischer Nutzbarkeit. Die Erwartung, klimatologische Daten in der Land- und Forstwirtschaft, im Hochwasserschutz oder bei der Ausbeutung von Wasserkraft einsetzen zu können, erfüllte sich in den Jahrzehnten nach der Gründung staatlich finanzierter Beobachtungsnetze nur bedingt (Botschaft des Bundesrathes 1880: 391). Indes erreichte die Schweizerische Meteorologische Zentralanstalt mit der Antizipation von Verwertungsmöglichkeiten, dass ihr der Bundesrat weiterhin das Vermögen zugeschrieb, für Privatwirtschaft und Verwaltung praktisch nutzbares Wissen zu generieren.Footnote 12 In einem 1914 publizierten Text zur Wasserwirtschaft als Anwendungsgebiet schrieb der Zentralanstaltsdirektor Julius Maurer, der eigentliche Wert der aktuellen Beobachtungen werde sich erst in ferner Zukunft offenbaren: „Unsern Nachfolgern wird es erst vorenthalten bleiben, aus jenen kostbaren Beobachtungsreihen, wenn sie einmal Hunderte von Jahren ununterbrochen weitergeführt worden sind, für die Allgemeinheit und die Volkswirtschaft insbesondere den wahren Nutzen zu ziehen (Maurer 1914: 26).“ Maurer versprach also, dass sich die gegenwärtigen Anstrengungen auf lange Sicht auszahlen würden.

Geografische und physikalische Ansätze

Einmal etabliert, entfalteten die staatlich alimentierten Beobachtungsnetze eine Eigengesetzlichkeit. Um den Anspruch diachroner Vergleichbarkeit einzulösen, mussten die Beobachtungspunkte und Messbedingungen möglichst unverändert beibehalten werden, was für die Schweizerische Meteorologische Zentralanstalt einen hohen Aufwand bedeutete. Zudem hatte sie kontinuierlich die einlaufenden Beobachtungen zu sortieren, statistisch aufzubereiten und verschiedenen potenziellen Nutzergruppen in Wissenschaft, Verwaltung und Wirtschaft bereitzustellen. Die statistische Aufbereitung des gesammelten Materials konzentrierte sich auf die Berechnung von arithmetischen Mitteln für verschiedene Zeitspannen. Dieser Fokus auf Durchschnittswerte war Ausdruck und Katalysator eines statistischen Klimabegriffs. Klassisch wurde die Definition, die Julius Hann (1883) in seinem Handbuch der Klimatologie vorlegte:

Was wir Witterung nennen, ist nur eine Phase, ein einzelner Akt aus der Aufeinanderfolge der Erscheinungen, deren voller, Jahr für Jahr mehr oder minder gleichartiger Ablauf das Klima eines Ortes bildet. Das Klima ist die Gesamtheit der „Witterungen“ eines längeren oder kürzeren Zeitabschnittes, wie sie durchschnittlich zu dieser Zeit des Jahres einzutreten pflegen, wir verstehen unter einer Darstellung des Klimas die Schilderung des mittleren Zustandes der Atmosphäre (Hann 1883: 1).

Die Berechnungsgrundlage für das Klima als „mittlerer Zustand“ bildeten die fortlaufenden täglichen Beobachtungen. Ihre staatlich institutionalisierte Koordination stärkte somit den statistischen Zugang, der oft als „Mittelwertsklimatologie“ beschrieben wurde (Heymann 2009). Die Berechnung der durchschnittlichen atmosphärischen Verhältnisse führte in erster Linie dazu, dass sich die klimatischen Bedingungen einzelner Gebiete genauer bestimmen ließen.

Wie oben gezeigt, wurde in der 1909/1910 publizierten Klimatografie der Schweiz viel Gewicht auf die Spezifika einzelner Regionen gelegt und nicht eine homogenisierende Darstellung des nationalen Raums präsentiert. Eine nationale Messinfrastruktur führte also nicht gezwungenermaßen zu einer Konstruktion eines nationalen Klimas und einem Bedeutungsverlust anderer Raumbezüge. Die national organisierte Produktion von Daten und die Erstellung nationaler Klimatografien verstanden die Verantwortlichen sowohl als Unterstützungsleistung zur Erforschung lokaler oder regionaler klimatischer Eigenheiten als auch als Beitrag zu einer möglichst erdumfassenden Datenerfassung. Untersuchungen mit weiträumiger oder sogar globaler Perspektive waren aber trotz der beginnenden internationalen Standardisierungsbemühungen vor das Problem gestellt, dass nicht genügend zuverlässige und vergleichbare Mittelwerte vorhanden waren. Wladimir Köppen etwa griff deshalb bei seiner Klassifikation der Klimate auf Informationen zu Vegetationsverhältnissen als indirekte Klimaindikatoren zurück (Köppen 1900). Eine weitere Schwierigkeit war, dass bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts keine normierten Referenzperioden für klimatologische Mittelwerte existierten (Heymann 2009: 172). Die Mittelwerte in Das Klima der Schweiz bezogen sich auf einen 37-jährigen Zeitraum, während in anderen Beobachtungsnetzen Durchschnitte für kürzere oder längere Zeitspannen berechnet wurden.

Obwohl das Sammeln von Beobachtungen und Feststellen von „Thatsachen“ einen wichtigen Teil ihrer Praxis ausmachte, erschöpfte sich der wissenschaftliche Anspruch der Klimatologie nicht darin. Ihr eigentliches Ziel war es, nicht nur die Verhältnisse zu dokumentieren, sondern auch die ihnen zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten zu bestimmen (Köppen 1895; Nebeker 1995: 11–26). Doch ab dem späten 19. Jahrhundert gewannen im meteorologisch-klimatologischen Forschungsfeld vermehrt Ansätze an Bedeutung, die stärker physikalisch statt geografisch-statistisch ausgerichtet waren. Die im Rahmen einer Mittelwertsklimatologie konzipierten, möglichst flächendeckenden und langjährigen Erhebungsprogramme wurden zwar fortgeführt und sogar ausgeweitet, aber die Forschungsarbeiten konzentrierten sich zunehmend auf eine physikalische Erklärung dynamischer Prozesse in der Atmosphäre. Besonders an die Durchführung von Messungen in höheren Luftschichten knüpften viele Meteorologen die Erwartung, damit Aufschlüsse über die Zusammenhänge des Wettergeschehens zu gewinnen (Höhler 2001). Laut Wilhelm von Bezold, Professor der Meteorologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin und gleichzeitig Direktor des Königlich Preußischen Meteorologischen Instituts, konnte sich ein Forscher am Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr mit bodennahen Beobachtungen begnügen, sondern musste „nach Oben vordringen“ (Bezold 1901: 435–436). Der von ihm geprägte Ausdruck „Physik der Atmosphäre“ wurde zum Schlagwort für das Bestreben, dynamische Vorgänge mithilfe physikalischer Grundlehren zu untersuchen.Footnote 13 Dieses Projekt erfasste nicht nur die „Meteorologie im engeren Sinne“, sondern auch die Klimatologie, in der sich eine Richtung formierte, die sich mit der Abhängigkeit der Klimaelemente von dynamischen Prozessen in der Atmosphäre beschäftigte.Footnote 14

Die Zentralanstalten spielten für die verschiedenen Strömungen der meteorologischen und klimatologischen Forschung nicht nur die Rolle von Datenlieferanten, sondern wurden zunehmend selbst zu wichtigen Orten der Forschung. Ursprünglich einzig zur Koordination, Sammlung und Publikation von Beobachtungen gegründet, entwickelte die Schweizerische Meteorologische Zentralanstalt eine eigene wissenschaftliche Tätigkeit, wenn auch anfangs in sehr beschränktem Rahmen. Ab 1901 gehörte die „Förderung der theoretischen Meteorologie und Klimatologie“ explizit zu ihren Aufgaben (Bundesgesetz 1901: 896). Damit begann sich nach der Wetterbeobachtung auch die Wetterforschung auf nationaler Ebene zu institutionalisieren. Die Zentralanstalt trat in Folge nicht nur als Repräsentantin des schweizerischen meteorologischen Beobachtungsnetzes auf, sondern vermehrt auch als Vertreterin einer schweizerischen Meteorologie und Klimatologie. Die Kategorie „schweizerisch“ war dabei kein Widerspruch zu einem universalistischen Wissenschaftsverständnis, sondern ein Mittel, um eigene Schwerpunkte wie die Alpenforschung zu akzentuieren (Maurer et al. 1909: 10).

Stabilisierung durch nationale Institutionalisierung

Durch die Schaffung nationaler, staatlich alimentierter Institutionen wie der Schweizerischen Meteorologischen Zentralanstalt nahm das klimatologische Wissensfeld in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine neue Gestalt an. Ausgelöst hatte diese Entwicklung das Projekt, die Datenproduktion auf nationaler Ebene zentral zu koordinieren. Dies geschah unter dem Einfluss des Staatsausbaus und der Nationsbildung. Die Entwicklung der Klimatologie wie der modernen Naturwissenschaften überhaupt erscheint auf den ersten Blick als Entwicklung, die dem Makrotrend der Nationalisierung – die Prägung der unterschiedlichsten Lebensbereiche durch die Nation als Vorstellung und Praxis – gerade zuwiderlief. Zu ihren Charakteristika gehörten ein universalistisches Methodenverständnis, die Suche nach objektivem, universell gültigem Wissen und eine ausgeprägte inter- und transnationale Vernetzung. Für die klimatologische Praxis blieben grenzüberschreitende Beziehungen während der Zeit der Nationalstaatenbildung nicht nur wichtig, sondern gewannen sogar an Intensität. Sie erwiesen sich schon deshalb als Notwendigkeit, weil sich die Klimatologie mit Problemen auseinandersetzte, die sich einer nationalen Raumlogik entzogen. Wetter und Klima sind und waren stets Forschungsobjekte, die nationale Grenzen überschritten oder in ihren lokalen und regionalen Eigenheiten problematisiert wurden. Internationalistisches Ethos und Anspruch auf Universalität von Methoden und Wissen waren aber nur die eine Seite der modernen Wissenschaft (Jessen & Vogel 2002b: 35). Die andere war ihre Verankerung in nationalstaatlichen Institutionenordnungen und ihre Integration in den nationalen Diskurs.

Durch den Aufbau nationalstaatlicher Institutionen wurde Wissenschaftlichkeit im klimatologischen Feld enger definiert. Der wissenschaftliche Status von Langzeitwetterbeobachtungen war in Europa nun an deren Zugehörigkeit zu offiziellen Netzen gebunden. Die institutionelle Einbindung war ein entscheidender Faktor für die Zuschreibung von Wissenschaftlichkeit. Das Vertrauen in klimatologisches Material hing also von Institutionen und weniger stark als früher vom Beobachter als Individuum ab. Indem Staaten für den Unterhalt von Beobachtungsnetzen verantwortlich wurden, hatten Klimadaten zunehmend den Charakter öffentlicher Daten. Ihnen wurde sowohl wissenschaftliche als auch praktische Relevanz zugeschrieben, unter Betonung der Notwendigkeit einer langfristigen Fortführung der Beobachtungen. Die nationalen Einrichtungen teilten die Überzeugung, dass die Nutzung ihrer Daten allen Forschern freistehen sollte. Dieser Grundsatz des offenen Zugangs wurde vor dem Hintergrund eines rasant anwachsenden Datenvolumens zu einer zentralen Komponente der klimatologischen Forschung. Der grenzübergreifende Austausch klimatologischer Daten vollzog sich allerdings nie aus rein wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Vielmehr war er – wie bereits die Entstehung der Datenarchive – geprägt einer Kopplung politischer und nationalstaatlicher Interessenlagen.

Danksagung

Den anonymen Gutachterinnen oder Gutachtern sowie Cornelius Borck danke ich für ihre konstruktive Kritik. Danken möchte ich auch Linda Richter, Dania Achermann und Manuel Kaiser für die Diskussionen im Rahmen unseres gemeinsamen Panels „Von Daten getrieben? Meteorologische und klimatologische Theoriebildung in historischer Perspektive“ auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik 2016.