Hopwood, Nick 2015: Haeckel’s Embryos: Images, Evolution, and Fraud. Chicago/London: The University of Chicago Press, geb., 388 S., US $ 45,00/UK £ 31,50, ISBN-13: 978-0-22604-694-5.

Ernst Haeckel war und bleibt eine schillernde Gestalt. Gestern wie heute haben wenige Naturwissenschaftler derart leidenschaftliche Diskussionen ausgelöst – und dies nicht nur unter Fachkollegen, sondern gerade auch bei einem breiten Publikum. Viele seiner Ideen, Begriffe und Bilder haben dabei eine gewisse Eigendynamik entwickelt. Eine der bekanntesten Abbildungen ist nun von Nick Hopwood einer umfangreichen und systematischen Analyse unterworfen worden. Wie der Titel bereits verrät, handelt es sich nicht um den berühmten Stammbaum des Menschen, sondern um Haeckels Embryos. Auf dem Weg von der Buchillustration zum viel kopierten Standardwissen und von der Ikone des Evolutionsmus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zum erst kürzlich von nordamerikanischen Kreationisten erneut aufgegriffenen Betrugsvorwurf, ging die ursprüngliche Bedeutung dieser Zeichnung zum Gutteil verloren. Bilder haben ihr eigenes, selbst vom Urheber schwer zu kontrollierendes Leben. Wer immer daran zweifelte, wird nach der Lektüre dieses Buches eines Besseren belehrt sein.

Die Eingangskapitel führen ein in die Embryologie des 19. Jahrhunderts und konzentrieren sich auf die Produktion visueller Evidenz und die neuen Wege der Illustration, die es zu beschreiten galt, um Entwicklungsprozesse zu verstehen, aber auch um diese für andere nachvollziehbar zu machen. Ob dieser Prozess als teleologisch-phylogenetisch determiniert verstanden wurde, wie es später auch Haeckel tat, oder mechanisch-physiologisch, eine Sicht, die sein erster großer Widersacher, Wilhelm His, vertrat, war entscheidend für die Wahl der darzustellenden Objekte, den Aufbau der Bildtafel und die Anwendung bestimmter künstlerischer Mittel. Gegenstand der folgenden vier Kapitel ist die detaillierte Entstehungsgeschichte des Embryobildes. Hopwoods Augenmerk richtet sich hier insbesondere auf Haeckels Entscheidung, auf einer Doppeltafel ausgewählte Entwicklungsetappen verschiedener Wirbeltiere parallel nebeneinander in Kolonne zu platzieren, also Embryologie und vergleichende Morphologie visuell miteinander zu verbinden. Ziel dieser Darstellungsform war es aufzuzeigen, dass sich die Stadien umso mehr glichen, desto weiter man in der Entwicklungsphase zurückging – Haeckels wohl schlagkräftigstes Argument für seine Überzeugung, die individuelle Entwicklungsgeschichte rekapituliere die Phasen der Stammesgeschichte. Die zahlreichen Modifizierungen und Varianten, die Alternativen, Karikaturen und „kreativen Kopien“, die in den folgenden Jahrzehnten in Neuauflagen, Übersetzungen, Zeitungen, Lehrbüchern und Lexika Einlass fanden, und ihre Rezeption in satirischen Bildern und Versen werden in weiteren fünf Kapiteln analysiert. Die letzten vier Kapitel setzen sich mit den Fälschungsanschuldigungen – die erste 1908, die bisher letzte 1997 – auseinander.

In zehn Jahren Arbeit hat Hopwood sein Material zusammengesucht, darunter 202 hochwertige, farbige und vielfach seitengroße Abbildungen, Tafeln, Zeichnungen, Skizzen, Fotos, Präparate und mehr. Dass dieses großformatige Werk dennoch zu einem vergleichsweise niedrigen Preis zu erwerben ist, ist umso erfreulicher. Auch schriftliche Quellen wurden ausgiebig genutzt, denn Haeckel überließ keineswegs nur seinen Kontrahenten das Wort, sondern sah sich – zur Freude aller Historiker – durch die zum Teil sehr heftige Kritik früh veranlasst, die Beweggründe seiner Darstellungsweise öffentlich darzulegen und zu rechtfertigen. So hängte er der vierten Auflage seiner Anthropogenie (1891) ein aufschlussreiches „apologetisches Schlusswort“ an, in dem er den Wahrheitsgehalt seiner Bilder nicht als naturgetreue, sondern „schematische Figuren“ verteidigte und argumentierte, dass jeder Naturforscher, der eine schematische Abbildung zur Illustration einer Tatsache benutze, sich etwas dabei denke und deshalb die wirkliche Form verändere. Wie Hopwood aufzeigt, gilt es eine Fülle von Aspekten und Dimensionen zu berücksichtigen, um diesen Anspruch beurteilen zu können. Nicht nur theoretische, ästhetische und soziale Überlegungen, auch die damaligen materiellen Unzulänglichkeiten im Umgang mit embryologischen Präparaten erklären, warum Haeckel weiterhin fest davon überzeugt blieb, seine Diagramme spiegelten die Wirklichkeit wieder.

Hopwood will den Streit um den Wert der Embryobilder nicht auflösen, doch zeigt sein Buch zweierlei besonders eindrücklich: den oft verdeckten und gerade deshalb so wirksamen Einfluss vergangener Bilder auf heutige Vorstellungen und die Unentbehrlichkeit angemessener Kontextualisierung historischer Artefakte.

Ariane Dröscher, Trient

Pascal Germann 2016: Laboratorien der Vererbung. Rassenforschung und Humangenetik in der Schweiz, 1900–1970. Göttingen: Wallstein, brosch., 490 S., € 54,00, ISBN 978-3-83531-950-9.

Britta-Marie Schenk 2016: Behinderung verhindern. Humangenetische Beratungspraxis in der Bundesrepublik Deutschland (1960er bis 1990er-Jahre). Frankfurt am Main: Campus, brosch., 428 S., € 49,00, ISBN 978-3-59350-533-6.

In den letzten zwanzig Jahren ist die Geschichte der Humangenetik im 20. Jahrhundert zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses sowohl der internationalen Wissenschaftsgeschichte als auch der Gesellschafts- und Kulturgeschichte gerückt. Die beiden im Folgenden vorgestellten Veröffentlichungen leisten hierzu einen wichtigen Beitrag.

Die Arbeit von Pascal Germann befasst sich aus medizinhistorischer Perspektive mit der Geschichte der Rassenforschung und Humangenetik in der Schweiz, wobei Letztere bisher ein Desiderat darstellt. Den Rahmen für die Darstellung bildet die „Julius Klaus-Stiftung für Vererbungsforschung, Sozialanthropologie und Rassenhygiene“, die in den Jahren von 1922 bis 1971 maßgeblich die Erforschung der Erblichkeit des Menschen in der Schweiz förderte. Die ineinander verwobene Geschichte beider Gebiete in der Schweiz wird in fünf Kapiteln dargestellt. Den Rahmen, das erste und letzte Kapitel, bildet die Geschichte der nach dem Schweizer Ingenieur Julius Klaus (1849–1920) benannten Stiftung, die nach dessen Tod begründet worden und bereits 1923 Mitglied der internationalen eugenischen Organisation war. Prägende Kuratoriumsmitglieder auf Lebenszeit waren der Anthropologe Otto Schlaginhaufen (1879–1973) und der Botaniker Alfred Ernst (1875–1968) aus Zürich. Das von der Stiftung herausgegebene Archiv fand europaweite Verbreitung und in zahlreichen Lehrbüchern der Humangenetik wie dem von Curt Stern (1955) Erwähnung. Das Ziel, Erkenntnisse über die menschliche Vererbung zu gewinnen, war das Interesse der Rassenforschung und der Humangenetik. Das erste Kapitel thematisiert die Rassenforschung und Anthropometrie von 1900 bis 1960. Bis zum Ersten Weltkrieg bestand sowohl eine klare Trennung zwischen Anthropologie und Ethnologie als auch eugenischen, sozialhygienischen und bevölkerungspolitischen Anwendungen. Danach gewann eine Homogenität fördernde Ordnung von Zugehörigkeit (Nationalismus) an Bedeutung und etablierte sich. Für die Kontinuität der anthropometrischen Rassenforschung in der Schweiz stand der Anthropologe Rudolf Martin (1864–1925), dessen Methoden sich weltweit verbreitet hatten. Im Gegensatz zu seinen deutschen Schülern wie Theodor Mollison oder Walter Scheid, ließ sich das Züricher Institut von Martin politisch nicht vereinnahmen. Dieses Bestreben teilte es mit der internationalen Forschungsgemeinschaft der Rassenanthropologen (S. 179). Das zweite Kapitel, „Stammbäume sammeln“, beschäftigt sich mit der Geschichte der medizinischen Genetik und Genealogie von 1900 bis 1970. Der Züricher Mediziner Ernst Hanhart (1891–1973) stellte fest, dass sich kein Land so gut wie die Schweiz für die Erforschung der Erbpathologie des Menschen eigne, und bezeichnete dies als „nature’s laboratories of human genetics“ (S. 184). So basiert dieser Abschnitt auf der Entstehung, Praxis und Rezeption von Hanharts Projekt der genetischen Bestandsaufnahme. Dieses ging nach 1945 nahtlos in die Isolatforschung über. Germann weicht in seinen Ausführungen von der gängigen Vorstellung einer zunehmenden Medikalisierung der Genetik als beispielsweise einem Übergang von präventiven zu kurativen Konzepten ab. Diese Neuorientierung und damit Öffnung der Forschungsperspektive vermittelt neue und interessante Erkenntnisse. Die Entwicklung der medizinischen Genetik in der Schweiz fand im transnationalen Austausch statt, der auch deutsche, rassenhygienisch orientierte Wissenschaftler einschloss und nach 1945 fortgesetzt wurde. Für die Etablierung der Humangenetik war die Eugenik als motivierende Ausgangslage wie in anderen europäischen und nordamerikanischen Ländern von Bedeutung. In der genetischen Beratung blieb soziales und rassisches Differenzwissen auch nach 1945 in der Schweiz konstitutiv (S. 307). Die Blutgruppenforschung schlug eine Brücke zwischen Rassenforschung und Populationsgenetik und wird im dritten Kapitel „Gene lokalisieren“, behandelt. Die Blutgruppenforschung war sowohl Teil der traditionellen Rassenforschung als auch der aufstrebenden Humangenetik. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden der Blutspendedienst und die damit verbundene Forschung in der Schweiz ausgebaut. Gemeinsam war den damit befassten Wissenschaftlern ihr allgemeines Interesse an genetisch terminierten Merkmalen in der Bevölkerung. Seit Mitte der 1950er-Jahre entfernte sich die humangenetische Blutgruppenforschung von den Vorstellungen der Rassenforschung. Politische Kontexte wie der schweizerische Föderalismus entfalteten eine eigene Dynamik (S. 409). So kam es zu einem Bedeutungsverlust des Rassebegriffs, doch die humangenetischen Bevölkerungserhebungen wurden weiterhin durchgeführt und schienen als „eugenische Überwachung des Volkskörper“ unverändert auf Resonanz bei den Beteiligten zu stoßen. Durch die erhöhte Strahlenbelastung im Atomzeitalter rechnete man mit erhöhten Mutationsraten. Die Julius Klaus-Stiftung erlebte seit den 1960er-Jahren eine institutionelle Krise und ihr „Abschied von der Rassenhygiene“ ist das Thema des kurzen fünften Kapitels. Die beiden prägenden Figuren Ernst und Schlaginhaufen verließen die Stiftung. Die belasteten Begriffe „Rassenhygiene“ und „weisse Rasse“ wurden aus den Statuten gestrichen. Als neues Ziel wurde allgemein formuliert, zur Erbgesundheit der Menschen beitragen und die notwendige wissenschaftliche Forschung fördern zu wollen (S. 412). Im Bemühen um internationales Renommee wurden bis Ende der 1970er-Jahre an allen fünf Medizinischen Fakultäten der Schweizer Universitäten genetische Beratungsstellen etabliert. Die Einrichtung des ersten Instituts für Medizinische Genetik an der Universität Zürich 1977 bedeutete das Ende der Verbindung von Rassenforschung, Eugenik und Humangenetik.

Medizinische Genetik ist die Anwendung der Kenntnisse der Humangenetik in der Klinik, diese manifestiert sich auch in der humangenetischen Beratungspraxis. Mit deren Umgang mit behinderten Menschen in den Jahren von 1960 bis 2000 beschäftigt sich der zweite Band der Reihe „Disability Studies“ mit dem Titel Behinderung verhindern. Weniger als die medizinhistorische Perspektive, die nur kurz dargestellt wird, stehen dabei Behinderungs- und Normalitätsvorstellungen sowie deren Veränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im politischen Kontext der Liberalisierung im Zentrum der Arbeit. Britta-Marie Schenk geht es darum, das Spannungsverhältnis „zwischen gestiegener gesellschaftlicher Akzeptanz von behinderten Menschen und den Motiven und Möglichkeiten, Behinderung zu verhindern“ (S. 7), zu beleuchten. Sie stellt die Frage nach dem Einfluss der sich verändernden Vorstellungen von Behinderung auf die genetische Beratung. Welche Ansichten hatten die Berater und spiegelten sich in den genetischen Beratungsangeboten und Praktiken wider? Wie wirkte sich der zunehmend liberalere Umgang mit behinderten Menschen in der Gesellschaft aus? Schenk stellt in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung das Fallbeispiel der Hamburger „Humangenetischen Beratungsstelle des Allgemeinen Krankenhauses Barmbek (AK Barmbek)“. An diesem Beispiel behandelt sie detailliert ihre Fragestellung für alle beteiligten Gruppen. Ihre Entscheidung für die Hamburger Beratungsstelle begründet sie damit, dass es sich dabei um eine außerwissenschaftliche und staatliche Beratungsstelle handele, die eine der ersten Institutionen ihrer Art war und bis zur ihrer Schließung 1993 ausschließlich von der Biologin und Medizinerin Marianne Stoeckenius geleitet wurde. Die Arbeit ist in vier Kapitel gegliedert, die sich mit den unterschiedlichen Aspekten des Themas beschäftigen. Im ersten Kapitel stehen die Voraussetzungen und die Institutionalisierung humangenetischer Beratung (1960er und 1970er-Jahre) im Mittelpunkt. Zuerst beleuchtet Schenk die Etablierung der humangenetischen Beratung seit den 1960er-Jahren und bezieht dies auf das gewählte Beispiel des AK Barmbek. Neben den Tätigkeitsfeldern und den Ratsuchenden der Beratungsstelle, steht dabei die Leiterin Stoeckenius im Mittelpunkt. Diese ist studierte Biologin und führte ursprünglich ausschließlich cytogenetische Untersuchungen für niedergelassene Ärzte und Kliniken durch (S. 69). In einer Aufstellung ihrer Tätigkeitsfelder benannte sie die humangenetische Untersuchung und Beratung, aber auch die Familienplanung. Weiterhin fanden sich darin die Diagnostik chronischer Erkrankungen wie „Schwachsinn“, die vorgeburtliche Diagnostik, die Untersuchung allen Formen von perinatal verstorbenen Kindern sowie Gutachten für Sterilisationen. Auf welches Beratungskonzept sie ihr Handeln begründete, ist nicht überliefert und wird in der Arbeit erschlossen (S. 74). Im zweiten Abschnitt setzt die Autorin sich mit Konzeptionen von Behinderung anhand der gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen, der humangenetischen Traditionen und den Psychose-Gutachten ausführlich auseinander. Es folgen im dritten Kapitel die Konsequenzen humangenetischer Diagnosen mit den Punkten Heimunterbringung und Sterilisation. Diese beiden Punkte sind spezifisch für das Fallbeispiel. Im vierten Kapitel folgt die Darstellung der teilweise radikalen Kritik an der humangenetischen Beratung und Sterilisationspraxis der Beratungsstelle am AK Barmbek vor allem in den 1980er und 1990er-Jahren. Eingegangen wird unter anderem auf die Kritik von Behindertenverbänden („Krüppelkritik“) und solcher von radikalen Feministinnen („Rote Zora“).

Im abschließenden Fazit wird die dargestellte Entwicklung der humangenetischen Beratung am AK Barmbek mit den Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kontextualisiert, vor allem in Bezug auf die sich wandelnden Vorstellungen von Behinderung. Die Studie ist ein sehr interessanter Beitrag zur Geschichte der humangenetischen Beratung in der Bundesrepublik Deutschland, da als Quellen sowohl die Patientenakten der Beratungsstelle des AK Barmbek als auch die persönliche Korrespondenz sowie die Gutachten der langjährigen Leiterin Stoeckenius herangezogen wurden. Die formal nachvollziehbare Fokussierung auf eine Beratungsstelle verengt den Blick auf die allgemeine Konzeption der humangenetischen Beratung in der BRD. Diese war in der Tat eine der ersten Institutionen ihrer Art, doch wurde in allen nach 1945 neugegründeten Instituten für Humangenetik auch genetische Beratung, teilweise schon Ende der 1950er-Jahre, angeboten. Eine vergleichende Kontextualisierung wäre hier wünschenswert gewesen. Seit der Liberalisierung der Abtreibung (§ 218) im Jahr 1976 war eine der Konsequenzen der Beratung auch die Abtreibung, u. a. aus embryopathischer Indikation. Dieser Aspekt ist ein bestimmendes Element der Diskussion über genetische Beratung bis heute und wird auch als behindertenfeindlich betrachtet. Dass dieser Aspekt in der Darstellung fehlt, zeigt dass er bei dem Hamburger Fallbeispiel nicht von Bedeutung gewesen zu sein scheint. Es wird anhand des Barmbeker Beispiels auch nicht deutlich, dass bei der Durchführung der Sterilisation noch die Beteiligung eines Mediziners mit seiner Expertise erforderlich war. Weiterhin lag der Fokus bei der humangenetischen Beratung am AK Barmbek, wie es anhand der Gutachten von Stoeckenius deutlich wird, auf dem Bereich der Psychosen. Andere geistige Behinderungen, beispielsweise durch genetisch bedingte Stoffwechselerkrankungen, fanden keine Berücksichtigung. Die skizzierte Engführung durch die Beschränkung auf das Beispiel der Beratungsstelle am AK Barmbek sowie die konkrete Fragestellung zur Bedeutung von Behinderungs- und Normalitätsvorstellungen im Prozess der Liberalisierung machen es fraglich, ob die Arbeit als eine allgemeine Geschichte der humangenetischen Beratung in der Bundesrepublik Deutschland gelesen werden kann. Daran anschließend müsste für die zahlreichen anderen deutschen humangenetischen Beratungsstellen noch untersucht werden, ob deren Beratungsziel im Allgemeinen ebenfalls „Behinderung verhindern“ war.

Beide Arbeiten leisten einen Beitrag zur Geschichte der Humangenetik. Bei der Geschichte der Rassenforschung und Humangenetik in der Schweiz von Pascal Germann beeindruckt vor allem die Klarheit und Nachvollziehbarkeit der Darstellung, die den internationalen Kontext berücksichtigt. Die Veröffentlichung von Britta-Marie Schenck liefert eine erste konzise Darstellung der (zu Recht) umstrittenen humangenetischen Beratungspraxis von Stoeckenius in Hamburg und bettet diese in die zeithistorische Debatte über die Liberalisierung der Bundesrepublik ein. Beide Bücher sind nicht nur absolut lesenswert, sondern für die weitere Forschung von großer Bedeutung.

Heike I. Petermann, Münster

Alex Mercer 2014: Infections, Chronic Disease, and the Epidemiological Transition. A New Perspective. Rochester: University of Rochester Press, geb., 352 S., £ 80,00, ISBN-13: 978-1-58046-508-3.

Die Lebenserwartung in Westeuropa hat sich in den letzten 150 Jahren mehr als verdoppelt. Die Ursachen und Mechanismen hinter dieser Entwicklung als integralem Teil der Demographischen Transition sind seit Jahrzehnten Untersuchungsgegenstand unzähliger Forschungsarbeiten aus den verschiedensten Disziplinen. Der Weg zu den modernen Gesundheitsverhältnissen wird dabei häufig im Rückgriff auf das von Abdel R. Omran in den 1970er-Jahren entwickelte Modell des epidemiologischen Übergangs beschrieben, in dem die gestiegene Lebenserwartung infolge eines tiefgreifenden Wandels des Todesursachenpanoramas in Wechselwirkung mit sozioökonomischen Veränderungen während der Industrialisierung erklärt wird. Um die Mechanismen hinter diesen Entwicklungen herauszuarbeiten orientieren sich historische Arbeiten im Wesentlichen bis heute an den ebenfalls in den 1970er-Jahren entwickelten Thesen von Thomas McKeown, der den säkularen Rückgang der Sterblichkeit hauptsächlich auf den gestiegenen Lebensstandard, der über eine verbesserte Ernährungslage als Folge der Industrialisierung Lungenerkrankungen und insbesondere Tuberkulose als Todesursachen verringerte, sowie den sanitären Reformen, welche die Sterblichkeit an Erkrankungen der Verdauungsorgane reduzierten, zurückführte. Beide Konzepte sind mittlerweile in mannigfaltigen Studien wesentlich differenzierter und elaborierter anhand von einschlägigen Daten aus zahlreichen Ländern getestet worden. Dabei wurden verschiedene Ansatzpunkte gewählt. So wurde beispielsweise betont, dass nationalstaatliche Daten zu stark aggregiert sind, um differenzierte Einblicke zu erlauben: zahlreiche Studien beschäftigten sich mit ökonomisch unterschiedlich strukturierte Regionen ebenso wie mit dem enormen Stadt-Land-Gefälle, also einer dramatischen Übersterblichkeit in den Städten (die Forschung spricht von einer urban penalty oder Städtegräbern), die allerdings zeitgleich mit dem Ausbau der öffentlichen Gesundheit einschließlich der gesundheitsrelevanten Infrastruktur verschwand. Wiederholt wurde dabei betont, dass McKeown die Rolle des Lebensstandards über- und die Rolle der sanitären Reformen (einschließlich des individuellen Hygieneverhaltens) unterschätzt habe.

Diese Diskussion greift die hier anzuzeigende Monographie von Alex Mercer auf. Sie kommt mit ihrem Rückgriff auf die Entwicklungen in England und Wales zwischen 1850 und 1910 auf der empirischen Seite sehr traditionell daher (die gelegentlichen Vergleiche zum „other Europe“ konzentrieren sich auf wenige Staaten wir Finnland, Schweden und Italien) und nimmt auch grundlegende Literatur etwa zur „urban penalty“ leider nicht zur Kenntnis. Er versucht die Rolle der öffentlichen Gesundheit auf andere Weise zu betonen. Seine „neue Perspektive“ versucht die Trennung zwischen „communicable“ und „non-communicable diseases“ oder, wie der Autor es nennt, zwischen Infektionskrankheiten und chronischen Krankheiten schon im Titel retrospektiv neu zu justieren. Dahinter stecken einige Überlegungen aus der jüngeren biologischen Forschung, die davon ausgehen, dass bei einigen chronischen Krankheiten spezifische Mikroorganismen als Auslöser fungieren könnten – wie es etwa im Zusammenhang mit der Impfung gegen humane Pappillomaviren (HPV) diskutiert wird. Dahinter steht die Annahme, dass Krankheiten durch ein Zusammenspiel verschiedener Ursachen entstehen können. Unter diesem Blickwinkel werden die Entwicklung der Sterblichkeit in bestimmten risikobehafteten Altersgruppen (Säuglingssterblichkeit und Kleinkinder) sowie an prominenten Todesursachen (Pocken, gastrointestinale, respiratorische und Herz-Kreislauf Krankheiten, Krebs sowie andere chronische Erkrankungen) diskutiert. Viele Aussagen sind dabei wenig überraschend, wie etwa die These, dass der Rückgang der Säuglingssterblichkeit zu einer höheren Lebenserwartung und damit zu einem verstärkten Auftreten chronischer Krankheiten führte. Multimorbidität und das Zusammenspiel verschiedener Krankheitsregime (besonders in den Entwicklungsländern) mögen nicht nur heutzutage anzutreffen sein, sondern gelten auch für historische Gesellschaften. Möchte man diese Punkte herausstellen, sollte aber zumindest die komplette Todesursachenstatistik, wie sie im Anhang präsentiert wird, stärker in den Blick genommen werden und nicht nur ausgewählte Todesursachen, die lediglich punktuell nach Alter oder Geschlecht differenziert werden.

Gleichwohl bleibt die Frage, ob die Dichotomie angesichts der sich permanent wandelnden Krankheitskonzepte, die entsprechend ihren Niederschlag auch in der veränderten zeitgenössischen Medizinal- und Bevölkerungsstatistik fand, für die historische Analyse nicht für viele Fragestellungen eine sinnvolle ist und bleibt. Anregend wäre auch, die räumliche und zeitliche Perspektive weiter auszudehnen. So ist zu fragen, ob das Konzept des epidemiologischen Übergangs angesichts der Zunahme neuer, längst besiegt geglaubter Infektionskrankheiten mittlerweile um eine weitere Phase ergänzt werden sollte. An erster Stelle ist hier HIV/Aids zu nennen, eine Infektionskrankheit, die seit den 1980er-Jahren weltweit mehr als 37 Millionen Todesopfer gefordert hat. Mit Aids verbunden ist zudem ein verstärktes Wiederauftreten der Tuberkulose. Etwa ein Drittel der Weltbevölkerung ist mit Tuberkuloseerregern infiziert. Knapp neun Millionen Menschen erkranken und beinahe 1,8 Millionen sterben jedes Jahr daran. Die meisten Todesfälle treten in Südost-Asien und Afrika auf, wobei die Sterberate mit 50 pro 100.000 Lebenden in Afrika am höchsten liegt. Was die europäischen Befunde angeht, so werden die hohe und im 19. Jahrhundert sogar wachsende Bedeutung von gastrointestinalen Krankheiten in Zentral-, Ost- und Südeuropa ausgeblendet. Diese bedrohten wiederum primär Säuglinge und Kleinkinder und waren die Haupttodesursache der Hochindustrialisierungsphase, weit vor den skandalisierten Erkrankungen der Atmungsorgane wie der Tuberkulose sowie weit vor den klassischen Infektionskrankheiten, vor allem des Kindesalters. Doch gerade dieser auf Mangel- und Fehlernährung zurückzuführende Krankheitskomplex spielt bis heute eine dominierende Rolle im Seuchengeschehen.

Insgesamt bleibt eher ein gemischter Eindruck zurück: Einerseits zeigt Mercers Studie deutlich, wie wichtig das Thema sowohl für die aktuelle als auch für die historische Forschung ist. Andererseits hätte man sich entweder eine stärkere methodische Anlehnung etwa an eine moderne life course epidemiology gewünscht oder eine intensivere Auseinandersetzung mit dem historischen Datenmaterial und auch mit den zahlreichen einschlägigen modernen Arbeiten zum Thema aus anderen europäischen Ländern und über andere europäische Länder – die internationale Literatur wurde offensichtlich schlicht nicht wahrgenommen, selbst wenn sie auf Englisch vorliegt. So liefert der Autor sicherlich interessante Denkanstöße, der Erkenntnisgewinn bleibt insgesamt aber doch eher begrenzt.

Jörg Vögele, Düsseldorf