Irmela Marei Krüger-Fürhoff (2012): Verpflanzungsgebiete. Wissenskulturen und Poetik der Transplantation. München: Wilhelm Fink Verlag, brosch., 400 S., 44,90 €, ISBN-13: 978-3-770-55239-9.

Uwe Wirth (Hg.) (2011): Impfen, Pfropfen, Transplantieren. Berlin: Kadmos Verlag, brosch., 300 S., 24,90 €, ISBN-13: 978-3-865-99105-8.

Tanja Nusser (2011 ): „Wie sonst das Zeugen Mode war“. Reproduktionstechnologien in Literatur und Film. Freiburg: Rombach Verlag, geb., 505 S., 52,00 €, ISBN-13: 978-3-793-09666-5.

Kaum zwei andere Felder der Medizin und Biowissenschaft sind in den letzten Jahrzehnten so kontrovers diskutiert worden wie die moderne Reproduktionsmedizin und die Organtransplantation. Während die moderne Reproduktionsmedizin spätestens seit den 1970er Jahren regelmäßig in den Fokus gesellschaftlicher Auseinandersetzung wiederkehrt, hat die bioethische Diskussion zur Organtransplantation (die zwar schon Ende der 1960er Jahre durch die Einführung des Hirntodkriteriums eine Wende erfahren hatte) erst in den letzten Jahren deutlich an Schärfe zugenommen, geht es doch um die grundlegende Entscheidung über Leben und Tod. Trotz dieser andauernden bio- und medizinethischen Aktualität und großen gesellschaftlichen Relevanz ist die Geschichte der beiden Felder aus wissenschafts- oder medizinhistorischer Perspektive noch bei weitem nicht ausreichend verstanden. Umso interessanter ist es daher, dass sich nun zwei literaturwissenschaftliche Monographien und ein kulturwissenschaftlicher Sammelband dem Themenfeld von Transplantation und Reproduktion widmen. Die drei Bücher sind in einem engen Diskussionszusammenhang (und zum Teil am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin) entstanden, was sich auch in der thematischen Nähe, den Interferenzen in der Fragestellung und der wechselseitigen Dynamik in der methodischen Annäherung bemerkbar macht.

In Verpflanzungsgebiete. Wissenskulturen und Poetik der Transplantation widmet sich die Literaturwissenschaftlerin Irmela Marei Krüger-Fürhoff dem medizinethisch hoch brisanten Thema der Organtransplantation. Schon die bloße Zahl der untersuchten Texte zeugt von der Relevanz des Themenfeldes in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Gegenstand der Untersuchung sind etwa 90 literarische Texte und 40 Filme vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Es handelt sich um deutsch-, englisch- und französischsprachige Werke, von denen die meisten in der Literaturforschung bisher kaum Beachtung gefunden haben. Zudem werden Gegenwartsautorinnen und -autoren aus Algerien und Tunesien, die Transplantationsfiktionen als Aushandlungsräume identitätspolitischer und postkolonialer Diskurse wenden, einbezogen, was der Studie einen transkulturellen Schwerpunkt verleiht. In der sehr informativen Einleitung entwickelt Krüger-Fürhoff nicht nur ihren methodischen Zugang, sondern präsentiert auch einen konzisen Überblick über die verschiedensten Ansätze des im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte theoretisch und methodologisch weit ausdifferenzierten Feldes der literature and science studies. Obwohl sich die Autorin hier im Feld einer Poetologie des Wissens verortet, geht es ihr jedoch in Abgrenzung zu anderen Ansätzen nicht um eine Analyse literarischer und narrativer Repräsentationen in der Genese wissenschaftlichen Wissens, sondern primär um den genuinen Beitrag, den die literarische und filmische Fiktion zu einem Verständnis der kulturellen Wirksamkeit von Medizin und Naturwissenschaft leisten kann. Damit wird die Unterschiedlichkeit von Literatur und Wissenschaft (beziehungsweise Medizin) epistemologisch produktiv gewendet statt negiert. Das untersuchte Terrain bleibt also, ungeachtet der großen Fülle zusammengetragener Literatur, klar umrissen und auch der analytische und methodische (Geltungs-)Anspruch verbleibt im Feld der Literaturwissenschaft, wodurch die Arbeit aber gerade ihre Überzeugungskraft gewinnt.

Die Ausgangsfragen richten sich auf die Rolle der „künstlerische(n) Beschäftigung mit den körperpolitischen, ethischen und erkenntnistheoretischen Herausforderungen der Transplantationsmedizin“ (S. 28). Bereits die beiden im Untertitel angekündigten Bereiche „Wissenskulturen“ und „Poetik“ verbinden zwei grundlegende Untersuchungsrichtungen: die Analyse der literarischen story/histoire (und ihrer diskursiven Einordnung) mit der Analyse des discourse/discours, der literarischen Verfahren der Darstellung. Es wird nicht nur danach gefragt, in welche narrativen Zusammenhänge die Visionen, Phantasmen und Wissensbestände der Transplantation im Verlauf des 20. Jahrhunderts eingebunden wurden und welche lebensweltlichen Wirkungen diese literarischen und filmischen Werke wiederum entfaltet haben, sondern es geht der Autorin immer auch um die poetologische Frage, inwieweit die Metaphern der „Verpflanzungen“ und Transplantationen eine neue Ästhetik der Darstellung hervorgebracht haben. Schon in der Anlage der Studie wird deutlich, dass es primär um eine literarisch vermittelte kulturgeschichtliche Einordnung von Wissenskulturen und nicht um eine wissens- oder gar medizinhistorische Studie geht. Die vier Kapitel sind nicht chronologisch, sondern vielmehr anhand von Themenfeldern gegliedert, die die Autorin aus ihrer Analyse heraus als die kulturhistorisch relevanten, literarisch vermittelten Erfahrungsfelder im Transplantationsdiskurs hervorhebt, wobei ihre Perspektive hier vor allem durch die gegenwärtige Debatte geleitet ist. Im Kapitel „Fremd/Körper“ verhandelt die Autorin Körpererfahrungen, speziell Körperfragmentierungen, im Kapitel „Überlebensnotwendige Eindringlinge“ Identitätspolitiken, im Kapitel „Leibhaftige Verbindungen, imaginäre Verwandtschaften“ zeichnet sie am Beispiel des literarischen und filmischen Motivs der Herztransplantation die soziale Konstitution neuer Beziehungskonstellationen nach und diskutiert eine neue Typologie ‚leibhaftiger’ (das heißt als Konsequenz der Transplantation von Spenderorganen in der Selbstwahrnehmung der Beteiligten imaginierter) Verwandtschaftsmodelle. Im Kapitel „Pflanzstätten“ widmet sie sich eingehend einer Poetologie des Verpflanzens. In allen Kapiteln gelingt ihr die Verbindung des close reading exemplarischer Werke und Filme mit diskursanalytisch weitergehenden Einordnungen, etwa in die Geschichte der Organtransplantation, in den Kontext sich wandelnder biowissenschaftlicher Körperkonzepte oder ethnographischer Untersuchungen von Verwandtschaftsverhältnissen. Vor allem die Ausführungen zu „Fremd/Körper“ stellen einen auch medizinhistorisch wichtigen Beitrag dar, werden hier doch eine Reihe von literarischen Schauplätzen der Organtransplantation zu Beginn des 20. Jahrhunderts behandelt, als die gegenwärtigen technischen Möglichkeiten der Transplantationsmedizin noch als reine Science Fiction erschien. Die Autorin widmet sich heutzutage nahezu unbekannten, in ihrer Zeit gleichwohl populären Texten und Filmen, etwa Hanns Heinz Ewers Roman Fundvogel (1928), der von einer Geschlechtstransplantation handelt, oder dem auf der französischen Romanvorlage Les Mains d’Orlac von Maurice Renard basierenden Stummfilm Orlacs Hände (1924), an dessen Beispiel dem Topos des Körpergedächtnisses nachgegangen wird. Die hier aufgegriffene Vorstellung, dass mit der Transplantation fremder Körperteile und -organe Erfahrungen und Erlebnisse des Spenders – quasi in den Körperteilen eingraviert – mitübertragen werden, ist ein auch im gegenwärtigen Transplantationsdiskurs verbreiteter Topos. Das Kapitel verdeutlicht darüber hinaus, dass schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts Phantasmen einer Hirntransplantation literarischen Niederschlag fanden, so zum Beispiel in Renards Roman Le Docteur Lerne, sous-dieu (1908). Die Verfasserin widmet sich zudem ausführlich der Kommodifizierung und Fragmentierung von Körpern in Romanen und Filmen, die seit den 1970er Jahren das Klonen von Menschen – als Ersatzteillager – aufgegriffen haben.

Ein Bildfeld, das kulturhistorisch im engen Austausch mit dem des Transplantierens oder Verpflanzens steht, ist das des „Pfropfens“, worauf Krüger-Fürhoff auch in einigen Unterkapiteln eingeht. Der von Uwe Wirth im Kadmos Verlag herausgegebene Sammelband Impfen, Pfropfen, Transplantieren geht, so der Herausgeber, der Frage nach, „inwieweit sich Kultur als Pfropfung und Pfropfung als Kulturmodell“ (S. 9) verstehen lässt. Als ökonomisches Dispositiv zunächst in der Agrikultur entstanden, wird das Pfropfen als Metapher für verschiedenste Kulturtechniken untersucht, die in einem weiteren Sinne als Verfahren der Kultivierung, der Ertragssteigerung, Beschleunigung und Kontrolle verstanden werden können. Angesichts der im Band versammelten Fülle an Fallbeispielen ist es erstaunlich, dass die Metaphorik des Pfropfens nicht schon früher die Aufmerksamkeit der Kulturwissenschaft erfahren hat, zumal das Thema der Hybride in den letzten Jahren geradezu inflationär die Wissenschafts- und Technikforschung begeistert hat. Während jedoch die hybriden Natur-Kultur-Technik-Schnittstellen in der Wissenschaftsforschung der letzten Jahre oft aus einer technizistischen Perspektive verhandelt wurden (wurde doch die Denkfigur der Schnittstelle nicht selten aus einem medientechnischen oder kybernetischen Paradigma abgeleitet), deutet der vorliegende Band, und dies macht ihn gerade so interessant, die Figur des Hybriden konsequent als organizistische Metapher.

Das „Pfropfen“ als kulturhistorisch wirkmächtiges Bildfeld, darauf verweist Michael Blies in seinem Artikel, kann als Metapher im Blumenberg‘schen Sinne verstanden werden: Aus der Verlegenheit um den Begriff entstanden (das heißt hier konkret: aus der Verlegenheit heraus, die Vereinigung zweier unterschiedlicher Dinge zu bezeichnen, die sich zwar vereinigen, aber dennoch getrennt bleiben), gewinnt die Metapher des Pfropfens kulturhistorisch dort ihre Relevanz, wo Sprache, Technik und Natur in enge Austauschbeziehungen treten. So überzeugt der Band insbesondere mit den Beiträgen, die eine Metaphern- und Begriffsgeschichte des Pfropfens vorlegen. Cornelia Vismann geht dem Pfropfen als einer dem Pflügen nicht nachstehende Kulturtechnik nach, die im Vergleich zu letzterem jedoch nicht eine topologische, sondern eine temporale Wissensordnung konnotiere. Falko Schmieder umreißt eine höchst informative „Problemgeschichte der Pfropfmetapher“ von der römischen Spätantike bis in das frühe 20. Jahrhundert. Sein Beitrag schlägt einen Bogen von den Schriften Vergils und Ovids bis zu Carl Gustav Jung, mit Stationen über den biblischen Römerbrief, Erasmus von Rotterdam, Martin Luther, Johann Amos Comenius, Immanuel Kant und Friedrich Schiller sowie die Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts. Erst im letzten Drittel des 18. Jahrhundert erfährt die Metaphorik des Pfropfens eine negative Umdeutung. Im aufklärerischen Licht erscheint das Pfropfen als eine im Widerspruch zur natürlich-organischen Naturganzheit stehende, daher negativ belegte Kulturtechnik. Dieser Wandel vollzog sich parallel zur Entstehung eines weiteren neuen Bildfeldes, das durch die in Europa zu Beginn des 18. Jahrhunderts bekannt werdenden Praktiken der Variolation beziehungsweise Inoculierung befördert wurde. Unter Übernahme des Vokabulars aus der Gartenbautechnik wurden diese frühen medizinischen Praktiken des Impfens zunächst als engrafting oder „Einpfropfen“ bezeichnet. Dem metaphorischen Spannungsfeld aus Impfen und Pfropfen seit dem 18. Jahrhundert gehen weitere Autoren des Bandes in sehr lesenswerten Details nach: Emmanuel Alloa skizziert thesenartig „Fragmente einer Theorie des Eindringlings“ von frühen Darstellungen der Inokulation bis zur gegenwärtigen Transplantation. Cornelia Zumbusch analysiert die figurative Bedeutung des Pfropfens und Impfens zwischen Innovation und Kontamination in Schriften von Kant, Schiller und Friedrich Nietzsche. Während Kant noch 1764 in den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und des Erhabenen“ die Pfropfmetapher im Kontext moralischer Kultivierungsleistungen verwendet, findet sich bei Schiller rund 30 Jahre später ein von der Impfmetaphorik geprägter Subtext, der den individuellen moralischen Kultivierungsprozess als einen mit Schmerzen verbundenen Prozess der Immunisierung beschreibt. Warum Johann Wolfgang von Goethe, obgleich er an vielen Stellen vom Pfropfen spricht, dennoch den von Kant in der Kritik der Urteilskraft eröffneten Weg, „aus der Aufpfropfung jene Logik des Lebendigen zu erklären, derzufolge ein Ganzes auch in seinen Teilen ganz bleiben kann“ (S. 108) nicht weiter verfolgt hat – und dies, obwohl Goethes Metamorphosenlehre deutliche Nähen dazu aufweise –, ist die Ausgangsfrage von Michael Bies. David Guariato und Sylvia Sasse verschieben den Fokus vom Pfropfen auf die verwandten Metaphern des Verpflanzens und der (botanischen) Hybridisierung. Guariato verfolgt die Metapher des „Blendlings“ in Übersetzungstheorien von Herder bis Schleiermacher und interpretiert sie im Kontext des organologischen Sprachverständnisses der Romantik, während Sasse die Analyse der Beziehung von Sprach- und Biowissenschaften im 20. Jahrhundert fortsetzt, indem sie höchst informativ die Kontroverse zwischen Michail Bachtin und formalistisch-strukturalistischen Ansätzen in der sowjetischen Sprachtheorie der 1920er Jahre als organisches versus mechanisches Paradigma analysiert und mit der zeitgleichen Debatte zwischen Neo-Lamarckisten und Mendelgenetikern parallelisiert. Die weiteren Beiträge präsentieren ein Kaleidoskop verschiedener Pfropftechniken und -perspektiven von der Popmusik (Eckhard Schumacher) über die Gegenwartsliteratur (Krüger-Fürhoff) bis zur Mode (Heide Volkening). Die Grenzen einer „Geffrologie“ diskutieren Juliane Vogel am Beispiel der Montagetechnik und Bettina Menke am Beispiel von Theaterinszenierungen. In Anbetracht der Fülle metaphorischer Verschiebungen, die im Band verhandelt werden, ist der Beitrag von Hans-Jörg Rheinberger zum „Pfropfen in Experimentalsystemen“ höchst instruktiv. Rheinberger legt nicht nur überzeugend dar, welche Rolle die von Jacques Derrida entlehnte Figur des Pfropfens und die biologische Metapher des Hybridisierens für das Verständnis der epistemischen Dynamiken in den Experimentalsystemen der modernen Biowissenschaften haben, sondern er schärft auch den Blick für die Unterschiede, die zwischen dem Pfropfen, Hybridisieren, Impfen und Transplantieren im Feld der Biologie bestehen.

Von den drei hier vorgestellten Büchern geht Tanja Nussers Studie zur literarischen Darstellung von Reproduktionstechnologien historisch am weitesten zurück. In ihrem Buch „Wie sonst das Zeugen Mode war“ Reproduktionstechnologien in Literatur und Film schlägt sie einen Bogen vom Motiv alchemistischer Zeugungen bis zu den postmodernen und posthumanen Zeugungsszenarien unserer Zeit. Auch in dieser Studie ist das Anliegen kein primär wissenschafts- oder wissenshistorisches, vielmehr gilt es der Aufarbeitung des „biomedizinisch Imaginären“ (S. 25) in ausgewählten literarischen Werken und Filmen. Literatur wird, in Anlehnung an Jürgen Link und Ursula Link-Heer, als „Interdiskurs“, als Ort des Zusammentreffens und der Verarbeitung verschiedener Diskurse verstanden, dem zugleich als Ort der Fiktion immer auch das Moment des Experimentellen eigen ist. Die Autorin geht der literarischen und filmischen Verarbeitung des biomedizinisch Imaginären auf diesen zwei Ebenen, der narrativen und der fiktiven, nach, und trägt ebenfalls eine beachtliche Zahl an Literatur- und Filmmaterial der letzten Jahrhunderte zusammen. Dabei sucht die Autorin ihr Material in einem nicht nur historisch, sondern auch thematisch sehr weiten Feld, da sie sich nicht auf Imaginationen menschlicher Fortpflanzung und Zeugung beschränkt, sondern die Lesbarkeitsmetaphorik der modernen Biologie (am Beispiel von Harry Mulischs Die Prozedur) oder die künstliche Reproduktion und Cyborgisierung in Filmen wie Matrix, Alien Resurrection oder TeknoLust mit einbezieht. Trotz dieser Weiten bleibt der interpretative Rahmen insofern eng, als die Autorin sich in der Wahl ihrer historischen Schnitte an den wissenschaftshistorischen Standardnarrationen orientiert: Schwerpunkte ihrer Darstellung bilden der Zeitraum um 1800 (am Beispiel von Goethe), das erste Drittel des 20. Jahrhunderts (als Phase der intensiven Erforschung der menschlichen Reproduktion, verbunden mit einsetzenden literarischen Reproduktionsutopien) sowie dessen letztes Drittel mit der Entwicklung der modernen Reproduktionsmedizin. Gleichwohl gelingt es der Autorin, diese bekannten Narrative teilweise auch zu dekonstruieren, so etwa in ihrer erneuten Lektüre von Aldous Huxley und dem Vergleich mit dem bislang nahezu unbekannten Roman von Konrad Loeles Züllinger und seine Zucht (1920), in dem künstliche Reproduktion gerade nicht im Kontext von Massenreplikation, Industrialisierung und Ökonomisierung verortet wird, sondern in einem organizistischen Gesellschaftsmodell. Nussers Studie stellt selbst ein überaus dichtes Geflecht intertextueller Bezüge dar, wodurch die wissenschaftshistorische Einordnung und Interpretation der Befunde an manchen Stellen zu kurz kommt. Dafür ermöglicht aber eine geschlechteranalytische Perspektive interessante Befunde, denen wissenschaftshistorisch bislang nur wenig nachgegangen wurde, etwa die sich durchziehende Linie der biblisch konnotierten Jungfrauengeburt und ihre – oft nur subtil erkennbare – Wirkungsmacht im biomedizinischen Feld der Reproduktionsforschungen im 20. Jahrhundert.

Bei aller inhaltlichen und methodischen Dynamik, die sich zwischen den drei hier diskutierten Büchern bemerkbar macht, ist die Ausrichtung, mit der sich die Autorinnen und Autoren der Beziehung zwischen Literatur und Wissenschaft beziehungsweise Medizin annehmen, eine ganz unterschiedliche. Damit verdeutlichen sie auch, wie sehr sich das Feld der literaturwissenschaftlichen Wissensforschung in den letzten Jahrzehnten ausdifferenziert hat. Von dem kulturhistorischen Interesse an Metaphern, dem Interesse an den metaphorischen Wechselbeziehungen in Kultur- und Naturdeutungen, über die fokussierte empirische Arbeit an und mit einzelnen literarischen Werken bis zu eigenen experimentellen Zugängen findet sich eine mittlerweile kritische Masse an Studien, die auch das Feld selbst grundlegend verändert hat und mit ihrer Erarbeitung kultureller Erfahrungsräume unterschiedliche Anschlussstellen an die Wissenschaftsgeschichte ermöglicht. Die Ansätze erschließen dabei nicht unbedingt neue historische Quellen, ebenso wenig wie sie – vordergründig – Antworten auf ethisch drängende Fragen der modernen Biomedizin liefern. Aber gerade aufgrund der Beschäftigung mit Literatur und Film findet sich hier ein Gespür für die im wissenschaftlichen Diskurs virulenten, aber nicht expliziten ethischen und gesellschaftlichen Probleme und damit auch für die Ambivalenzen kultureller Selbstdeutungen im biowissenschaftlichen Zeitalter. Das aber kann auch für die Wissenschaftsgeschichte nur bereichernd sein.

Christina Brandt, Bochum

Uwe Fraunholz und Thomas Hänseroth (Hg.) 2012: Ungleiche Pfade? Innovationskulturen im deutsch-deutschen Vergleich. [= Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt, 41] Münster u. a.: Waxmann, brosch., 168 S., 24,90 €, ISBN-13: 978-3-830-92808-9.

Uwe Fraunholz und Thomas Hänseroth versammeln in diesem Band, der auf eine Sektion des Historikertags in Dresden 2008 zurückgeht, insgesamt sieben Beiträge zur deutsch-deutschen Innovationsgeschichte. In ihrer Einleitung machen die beiden Herausgeber deutlich, worum es ihnen dabei geht. Im Sinne einer kulturwissenschaftlich geleiteten Innovationsforschung soll die Innovationskultur in beiden deutschen Staaten vergleichend in den Blick genommen werden. Im Hintergrund steht dabei die These, dass sich zwar aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Brüche unterschiedliche Innovationssysteme in West und Ost entwickelt haben, dass diesen jedoch eine mindestens in Teilen gemeinsame Innovationskultur gegenüber stand, die durch ähnliche Werte- und Handlungshorizonte sowie durch langfristig wirksame Pfadabhängigkeiten geprägt wurde. Das Denkmodell der Innovationskultur zielt darauf ab, die Analyse harter, systemischer mit der Untersuchung weicher, kultureller Einflussfaktoren zu verweben. Der Band knüpft damit explizit an frühere Arbeiten zur historischen Innovationsforschung an, insbesondere an den 2001 von Johannes Abele u.a. herausgegebenen Sammelband Innovationskulturen und Fortschrittserwartungen im geteilten Deutschland.

In der ersten der hier versammelten Branchenstudien geht es Mirko Buschmann darum, systemübergreifende Gemeinsamkeiten im Maschinenbau deutlich zu machen, die er in der anhaltenden starken Konstruktionsdominanz verortet. Hier manifestiere sich – zumindest bis in die 1970er Jahre – eine nicht zuletzt personengebundene Kontinuitätslinie beziehungsweise ein dominanter Entwicklungspfad. Dieser konnte weder durch die kriegswirtschaftlich bedingten Versuche der Umorientierung in Richtung Fertigungskultur vor 1945, noch durch die in West wie Ost nach 1945 anlaufenden Forschungs- und Entwicklungsvorhaben, die eher an Zielen der flexiblen Großserien- und Massenproduktion orientiert waren, grundsätzlich gebrochen werden. Gerade die Hochschulforschung führte ganz im Gegenteil sogar dazu, so Buschmann, dass sich der Pfad der Konstruktionsorientierung wieder stabilisierte. Kritisch anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass Buschmann schon quellenbedingt die pfadstabilisierende Hochschulforschung weit genauer in den Blick nimmt als die Industrieforschung in Ost und West.

Andere Akzente setzt Christine Piepers Aufsatz über die Informatik. Die Autorin geht von der These aus, dass der Import von Technologien mit einem Wertetransfer verbunden sei, der die partielle Übernahme von kulturellen Traditionen und Mentalitäten umfasse. Sie exemplifiziert dies einerseits am Aufbau leistungsfähiger Hochschul-Rechenzentren auf der Basis US-amerikanischer Großrechner in der BRD beziehungsweise ähnlicher Rechner-Nachbauten in der DDR sowie andererseits an der Einführung von Informatik-Studiengängen an west- und ostdeutschen Hochschulen seit Mitte der 1960er Jahre. In beiden deutschen Staaten habe die Rechnertechnik letztlich zu einer „Amerikanisierung“ der Informatik geführt, wobei es sich in der DDR um eine technische beziehungsweise „informelle Amerikanisierung“ (S. 70) gehandelt habe. In beiden Ländern sei es nicht gelungen, sich auf Basis der eigenen Innovativität von der (technischen) Dominanz der USA zu lösen. Die Frage, welche spezifischen Werte, Normen und Verhaltensmuster in der Amerikanisierung gleichsam mitimportiert wurden, bleibt jedoch unbeantwortet. Piepers Diagnose, dass die Informatikstudiengänge in beiden deutschen Staaten am Leitbild des „Rechenmaschinenmathematikers“ orientiert waren und insofern in der Tradition deutscher technischer Studiengänge standen, entspricht zwar der Ausgangsthese des Sammelbandes, nicht aber unbedingt ihrer eigenen Wertetransferthese.

Die folgenden Beiträge von Thomas Wieland und Uwe Fraunholz fallen insofern aus dem Rahmen, als hier jeweils kein expliziter deutsch-deutscher Vergleich vorgenommen wird. Sie ergänzen sich allerdings partiell, da Wieland die Entwicklung der westdeutschen Biotechnologie in den Blick nimmt, während Fraunholz sich einem speziellen Kapitel der ostdeutschen Biotechnologie widmet. Wieland geht es um die komplexen Einflussfaktoren auf die Entwicklung der Biotechnologie in der Bundesrepublik, die dazu führten, dass diese sich sowohl in der Hochschulforschung als auch in der industriellen Anwendung nur langsam und relativ spät habe etablieren können. Er ergänzt die auf Luitgard Marschall zurückgehende These von der hemmenden Wirkung der frühen Pfadentscheidung der deutschen chemischen Industrie für organisch-chemische Synthesen insbesondere durch den Verweis auf die bis in die 1980er Jahre hinein unzureichende Wissenschaftsbasis der bundesdeutschen Biotechnologie. So betont er, dass die biotechnologischen Grundlagenfächer in Westdeutschland lange Zeit nur schwach institutionalisiert und kaum für industrielle Anwendungskontexte aufgeschlossen waren, die Hochschulchemie hingegen stark auf theoriegeleitete Grundlagenforschung konzentriert war. Erst als die bundesdeutsche Großchemie den Anschluss an den vor allem US-amerikanischen Biotechnologie-Boom zu verpassen drohte, kam es, so Wieland, zu einer Erschütterung der bis dato ungebrochenen deutschen Innovationskultur.

Fraunholz verdeutlicht am Beispiel der Einzellereiweißforschung und -produktion in Ostdeutschland die anhaltende Autarkieorientierung in der DDR, womit diese in innovationskultureller Hinsicht an ältere „deutsche Traditionen“ anknüpfte. Biotechnologie ist in diesem Zusammenhang als eine Ersatzstofftechnologie zu verstehen, bei der es darum ging, Einzellereiweiß auf Erdölbasis als Futtermittel für die Viehzucht zu erzeugen. Ähnliche Projekte wurden seit den 1960er Jahren auch im Westen verfolgt, scheiterten aber an der unzureichenden Wirtschaftlichkeit der Verfahren. Die ostdeutsche Planwirtschaft mit ihrer eingeschränkten Reaktionsfähigkeit, ihrer Scheu vor Pfadwechselaufwendungen und ihrer Orientierung eher an Verfügbarkeit als an Kosten verhinderte einen rechtzeitigen Pfadwechsel und konservierte damit entsprechende innovationskulturelle Prägungen.

Sylvia Wölfel untersucht als einzige die Innovationskultur im Bereich der Konsumgüterindustrie, wobei es ihr um die Integration des Umweltschutzgedankens in die Innovationsprozesse und -kultur von Haushaltsgeräteherstellern in West- und Ostdeutschland geht. Recht ausführlich zeichnet sie die sich in den 1970er Jahren formierenden Innovationsbemühungen um verbrauchsärmere Haushaltsgeräte bei westdeutschen Anbietern nach. Vor dem Hintergrund veränderter Käuferpräferenzen und strengerer staatlicher Auflagen eröffneten die neuen Produkte Absatzchancen auf dem zu diesem Zeitpunkt in Westdeutschland bereits weitgehend gesättigten Hausgerätemarkt. Dabei, so Wölfel, veränderte das neue Thema Umweltschutz auch die Werthaltungen und Leitbilder in den innovierenden Unternehmen. In Ostdeutschland hingegen blockierten gesamtwirtschaftliche Probleme und systemimmanente Innovationsbarrieren eine analoge Entwicklung. Lediglich die Anforderungen des Westexports zwangen zu einer partiellen Sortimentserweiterung. Wölfel bietet in ihrem Aufsatz einen überzeugenden Vergleich der Innovationsbemühungen in der west- und ostdeutschen Haushaltsgeräteindustrie der 1970er und 1980er Jahre. Gewisse Zweifel bleiben allerdings, ob die von ihr ausgewerteten Quellen, überwiegend Artikel in der Fach- und Publikumspresse sowie Imagebroschüren der Unternehmen, tatsächlich ausreichen, um weitergehende Rückschlüsse auf die Entwicklung der branchenspezifischen Innovationskultur in West und Ost zu erlauben.

Manuel Schramm fragt in seinem abschließenden Aufsatz nach den Bedingungen sowohl für das Entstehen als auch den Verlust von Vertrauen in den Beziehungen zwischen Betrieben und wissenschaftlichen Einrichtungen. Seine zentralen Thesen, nämlich dass Vertrauen an Personen gebunden sei, dass Vertrauen nicht in hierarchischen Strukturen gedeihe, dass Vertrauen sich nicht verordnen lasse und dass Vertrauen von räumlicher Nähe profitiere, exemplifiziert er an einigen ost- wie westdeutschen Beispielen, deren Auswahlkriterien allerdings unklar bleiben. Schon die Formulierung seiner Thesen macht im Grunde deutlich, dass die Bedingungen der ostdeutschen Zentralverwaltungswirtschaft den Aufbau vertrauensbasierter Kooperation eher erschwerten als begünstigten. Bei westdeutschen Großunternehmen hingegen führte die Tendenz zur Internationalisierung von Forschungs- und Entwicklungskooperationen seit den 1970er Jahren tendenziell zu Vertrauensverlust. Bedauerlich ist, dass es Schramm bei einer reinen Zusammenstellung von Beispielen belässt und sich nicht über seine Thesen hinaus um mögliche Verallgemeinerungen bemüht.

Der vorliegende Band verbindet eine überzeugende Einführung in das Konzept der kulturwissenschaftlich geleiteten Innovationsforschung mit einer Reihe ausgesprochen lesenswerter Beiträge zur Innovations- respektive Forschungskultur in unterschiedlichen ost- und westdeutschen Branchen und wissenschaftlichen Disziplinen. Es bleibt den Leserinnen und Lesern überlassen, sich ein abschließendes Urteil darüber zu bilden, wie gleich oder ungleich die ost- und westdeutschen Entwicklungspfade und Innovationskulturen tatsächlich waren. Der Band legt das Fazit nahe, dass sehr deutlich nach den jeweiligen Entwicklungsphasen zu fragen wäre und dass es einmal mehr die 1970er Jahre sind, die hier als Epochenschwelle in den Blick zu nehmen wären.

Reinhold Bauer, Stuttgart

Christine Wolters, Christof Beyer und Brigitte Lohff (Hg.) 2013: Abweichung und Normalität. Psychiatrie in Deutschland vom Kaiserreich bis zu Deutschen Einheit. Bielefeld: Transcript, brosch., 410 S., 34,80 €, ISBN-13: 978-3-8376-2140-2.

Grundlage des Sammelbandes sind Beiträge einer vom Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizinischen Hochschule Hannover veranstalteten Ringvorlesung, die im Jahr 2011 unter dem Titel „Psychiatrie im 20. Jahrhundert, Kontinuitäten und Brüche“ stattfand. Ziel der Veranstaltungsreihe war es, die mit der Definition von psychischer Krankheit und Gesundheit verbundenen Aushandlungsprozesse herauszuarbeiten und die verschiedenen Ausdeutungen von Abweichung und Normalität zu skizzieren, „wie sie sich aus der Entwicklung der psychiatrischen Profession, öffentlichen Debatten, institutionellen Dynamiken und nicht zuletzt aus der Perspektive der Patienten und ihrer Angehörigen“ darstellen (S. 14).

Der erste Teil des Buches widmet sich dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Zunächst wird die Debatte um „Volksnervenheilstätten“ (Heiner Fangerau) thematisiert und anschließend der Psychotherapiediskurs (Brigitte Lohff, Claudia Kintrup), die Psychiatriekritik von ehemaligen Psychiatriepatienten (Rebecca Schwoch) sowie die Diskussion um Nervenschwäche im deutschen Kaiserreich (Doris Kaufmann) nachgezeichnet. Den Beiträgen ist gemein, dass sie alle das Thema Neurasthenie zumindest streifen. Die Debatte um Abweichung und Normalität, die am Beispiel der nervösen Störungen hätte aufgezeigt werden können, wird hier aber nicht explizit gemacht, so dass diese Häufung eher zufällig scheint. Es fehlen in diesem Teil des Buches Beiträge, die normalisierende biologische und somatische Praktiken beschreiben. Der biologische und genetische Zweig psychiatrischer Diskurse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird von Volker Roelcke gewinnbringend dargestellt.

Die Psychiatrie im Nationalsozialismus und ihre Aufarbeitung in den Nachkriegsjahren stehen im Mittelpunkt des zweiten Teiles des Bandes. Dabei wird die zunehmende Bedeutung des Erbgesundheitsdiskurses in der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater (Hans-Walter Schmuhl) ebenso thematisiert wie gesundheitspolitische Zwangsmaßnahmen, etwa die Psychiatrisierung von Tuberkulosekranken (Christine Wolters). Maike Rotzoll und Thomas Röske widmen sich anhand der Darstellung erhaltener Ego-Dokumente den Opfern der Aktion T4 und Alfred Fleßner den Erinnerungen der Familien der Opfer. Die Zeit nach dem Krankenmord und deren Aufarbeitung behandelt Georg Lilienthal am Beispiel einzelner Anstalten.

Im dritten Teil des Werks werden einige Linien der Psychiatrie nach 1945 skizziert. Die Geschichte der Psychotherapie und Psychosomatik (Sigrid Stöckel und Brigitte Lohff) wird ebenso wie ethnopsychiatrische Diskurse (Wielant Machleidt) nur für die BRD behandelt. Lediglich der Beitrag von Svenja Goltermann untersucht die Debatte über Gewalt und Trauma als Ursache psychischer Störungen in beiden deutschen Staaten. Kathrin Franke gibt zwar anhand von Zeitzeugeninterviews interessante Einblicke in die Transformation der ostdeutschen Psychiatrie nach 1989, ihr Beitrag kann eine Auseinandersetzung mit der DDR-Psychiatrie jedoch nicht ersetzen. Damit wird die Chance vertan, die eigenen fachlichen Entwicklungen der DDR-Psychiatrie zu untersuchen. Implizit entsteht an dieser Stelle der Eindruck, die DDR-Psychiatrie habe letztlich nur die westdeutschen Fortschritte nachvollzogen. Diese Sichtweise lässt sich bei näherer Betrachtung der DDR-Psychiatrie jedoch nicht aufrechterhalten.

Insgesamt vereint der Band eine Reihe von interessanten Einzelartikeln, sein Konzept bleibt jedoch etwas unbestimmt. Die theoretische Klammer des Normalitätsdiskurses wird von den Herausgebern nur in Ansätzen herausgearbeitet und in den Beiträgen nicht systematisch aufgegriffen. Dem ehrgeizigen und schwierig einzulösenden Anspruch, einen Überblick über die deutsche Psychiatriegeschichte des gesamten 20. Jahrhunderts zu geben, wird die Publikation nur in Teilen gerecht, da wesentliche Aspekte wie beispielweise die Geschichte der Sozialpsychiatrie oder die Rolle biologischer und psychopharmakologischer Verfahren in der Psychiatrie gänzlich fehlen. Dies fällt insbesondere für die Zeit nach 1945 auf und widerspricht dem von den Herausgebern in ihrer Einleitung formulierten Anspruch, einen besonderen Schwerpunkt auf die Nachkriegsgeschichte gelegt zu haben. Hier wäre es lohnend gewesen, Artikel weiterer Autorinnen und Autoren, die zum Themenfeld arbeiten, in den Sammelband aufzunehmen.

Viola Balz, Dresden