Lars Bluma und Karsten Uhl (Hg.) 2012: Kontrollierte Arbeit – Disziplinierte Körper? Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Industriearbeit im 19. und 20. Jahrhundert. Bielefeld: transcript, brosch., 431 S., 35,80 €, ISBN-13: 978-3-8376-1834-1.

Katja Patzel-Mattern 2010: Ökonomische Effizienz und gesellschaftlicher Ausgleich. Die industrielle Psychotechnik in der Weimarer Republik. [= Studien zur Geschichte des Alltags, 27] Stuttgart: Franz Steiner, geb., 312 S., 60,00 €, ISBN-13: 978-3-515-09324-8.

In der Einleitung ihres Sammelbandes zur Geschichte der Industriearbeit bemerken die Herausgeber Lars Bluma und Karsten Uhl, es sei einiges über Sozialstruktur und Alltag der Arbeiterschaft bekannt – die Geschichte des Arbeitens habe aber ihre Lücken. Sowohl der genannte Sammelband als auch die Monographie von Katja Patzel-Mattern widmen sich mit unterschiedlichem Zugriff dieser Geschichte. Ich möchte im Folgenden die beiden Bücher in Beziehung zueinander setzen und einige Ergebnisse zur Arbeitsgeschichte thematisieren. Dieses Gebiet ist von ungebrochener Bedeutung, zumal die immer wiederkehrende Rede von der Ablösung der Arbeits- durch die Konsumgesellschaft zu schlicht ist (worauf Peter-Paul Bänziger in seinem instruktiven Aufsatz über „Arbeit und Freizeit als Identitätsangebote um die Mitte des 20. Jahrhunderts“ im Band von Bluma und Uhl hinweist). Arbeit war und ist zentral für menschliche Identität und Selbstverständnis. Bluma und Uhl geht es im Anschluss an Foucaults Konzept der gouvernementalité in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband um „Raumordnung“, Subjektivierung, Körper-Arbeit und Rationalisierung. So soll der industrielle Arbeitsplatz „als komplexes Ensemble von Körpern, Maschinen und Arbeitsprozessen“ (S. 18) analysiert werden. Dabei ist das Phänomen Rationalisierung zentral (dem Humanisierung nicht entgegengesetzt sein muss).

An dieser Stelle lässt sich Patzel-Matterns Monographie ins Spiel bringen, gehörte doch die industrielle Psychotechnik in der Weimarer Republik (deren kurze Blüte von 1919 bis 1925/6 reichte) in eine Geschichte der Rationalisierung. Die Psychotechnik ist nicht nur historisch interessant. Denn erstens spielen psychologische Tests heute eine stille und subtile Rolle und zweitens ist die Psychotechnik eng mit der Professionalisierung der Psychologie verbunden, die nach Daseinsberechtigung in einem schon durch Medizin, Psychiatrie und Pädagogik abgesteckten Feld suchte. Falls das 20. Jahrhundert ein psychologisches Jahrhundert war, so meint das nicht nur Therapeutisierung des Selbst, sondern auch dessen permanente Evaluation. Mithin war die Definition der Psychotechnik durch einen ihrer Vertreter, Hugo Münsterberg, als „,Wissenschaft der praktischen Anwendung der Psychologie im Dienste der Kulturaufgaben‘“ schon 1914 recht weit gefasst, auch wenn sie sich in der Weimarer Zeit auf „,Auslese und Anwendung von Arbeitskraft‘“ (zitiert nach Patzel-Mattern: 12) konzentrierte. Daher erstaunt die zu neutral-eingeengte Auffassung der Autorin: Die Psychotechnik habe sich „als entscheidende Kraft zur Gestaltung des Schnittpunktes Beruf – Mensch“ (S. 17) verstanden. Nach Auffassung von Patzel-Mattern war ihr Erfolg zwar durch äußere Umstände bestimmt, da beispielsweise der Weltkrieg in der Behandlung von Kopfschussverletzten „neue Erfordernisse sichtbar“ machte. Doch schätzt sie deren Anliegen als zutiefst human ein, denn sie bemühte sich, so die Autorin, um demokratischen Ausgleich, um Versöhnung von Kapital und Arbeit. Das verzerrt aber arg. Weder Psychotechnik noch Rationalisierungsbestrebungen zielten auf gesellschaftliche Versöhnung per se. Wenn die Kampfstellung zwischen Arbeit und Kapital beseitigt werden sollte, um Deutschland wiederaufzubauen, dann zielte das meines Erachtens auf die Fortsetzung des Burgfriedens und die Wiedererlangung deutscher Weltmachtstellung.

Bin ich zu einseitig? Helfen Blumas Ausführungen über den „Körper des Bergmanns in der Industrialisierung. Biopolitik im Ruhrkohlenbergbau 1890-1980“ zur Differenzierung? Er konzeptualisiert ihn als „Schnittstelle“ von Ökonomie, Politik, Medizin, die ein „biopolitisches“ Geflecht „zwischen Machtprozessen, Wissenspraktiken und Subjektivierungsformen sichtbar“ (S. 37) machten. Dabei entwirft er in der Tat ein Phasenmodell, das Ausgleichsbemühungen zu spiegeln scheint. Zwischen 1880 und 1920 wurde der Bergbau „hygienisiert“, die Bismarcksche Gesetzgebung führte den Arbeiterkörper „aus der Sphäre individueller“ in „kollektive“ staatliche Verantwortung (S. 55). Rationalisierung kennzeichnete die Jahre 1920 bis 1937; zwischen 1937 und 1945 sei die (nationalsozialistische) Leistungsideologie biopolitisch leitend gewesen. Die Zeit von 1945 bis 1970 galt der Vor- und Fürsorge, der Vollmechanisierung und Humanisierung. Die Verwendung Foucaultschen Begriffsgewölks scheint mir hier die klare klassenpolitische Intention zu verschleiern. So lässt sich die Analyse eines Textes des Ingenieurs Carl Arnhold von 1926 zur „Bewirtschaftung der Arbeitskraft“ (S. 75) durch Dagmar Kift in ihrem Beitrag „Zur Schulung und Erziehung von Arbeiter- und Werkskörpern“ ergänzen. Arnhold forderte nicht nur Effizienz und Mechanisierung im Bergbau, sondern auch Charaktererziehung zu Treue, Gemeinschaft, Gefolgschaft: „Im Krieg hatten wir unter guter Führung die besten Soldaten der Welt, wir werden unter guter Menschenführung bald auch wieder die besten Arbeiter haben.“ (zit. nach Kift: 97). Ist das Biopolitik oder der Führungsanspruch alter wilhelminischer Eliten?

Patzel-Matterns Zugriff kontrastiert erkennbar mit dieser Darstellung. Erstens wird deutlich, dass das, was sie zum Verhältnis von Psychotechnik und Nationalsozialismus sagt, irreführend ist. Dieser habe sich gegen Personalauswahl nach Leistung und Fähigkeit gewandt, Rassenideologie ersetzte Wissenschaftlichkeit und Objektivität (der psychotechnischen Auswahlkriterien). Tatsächlich galten aber als Einstellungsvoraussetzungen nicht nur der Ariernachweis, sondern ebenso fachliche, körperliche, charakterliche und geistige Eignung. Rassenideologie und Menschenökonomie waren keine Gegensätze. Zweitens meint Patzel-Mattern, man dürfe Rationalisierung nicht nur negativ als Normierung verstehen, sondern ebenso als „Katalysator von Individualisierungsprozessen“ (S. 27), was ein wenig der Konvergenz von Rationalisierung und Humanisierung ähnelt. Sie interessiert sich für die „modernisierenden, ausgleichenden und damit stabilisierenden Funktionen“ (S. 29) der Psychotechnik, die historische Übergänge zwischen „Konfrontation und Kommunikation“, Arbeit und Kapital, „Subjektivität und Erfahrungswissen“ einerseits und „Objektivität und Wissenschaftlichkeit“ der Psychotechnik andererseits (S. 31) vermittelte. Das erscheint wieder zu unkritisch. Drittens lässt sich Patzel-Matterns Ansatz im Zusammenhang mit Körpermodellierungen ergänzen. Für die Psychotechnik wurde der Körper zur „Norm des Maschinendesigns“, so der Titel ihres zweiten Kapitels. Aufgrund der vielen Kriegsversehrten wurde der „dysfunktionale Körper des Krüppels […] zum Prüfstein einer Wiederherstellung von Funktionalität und Ordnung“ (S. 59). Optisch wie ökonomisch sollte eine neue Ordnung zur seelischen Stabilisierung von Individuum und Gesellschaft errichtet werden, die durch „Verschwinden“ und „Umdeutung der Wunden gekennzeichnet“ war (S. 64). Medizin, Technik und Arbeitswissenschaft agierten konkret zusammen etwa beim Ersatz verlorener Gliedmaßen. Die Psychotechnik hatte ein technisches Körperverständnis, das in einem Machtdiskurs dekretiert wurde, der „nicht mit, sondern über die Kriegsversehrten“ (S. 86) geführt wurde. Das ist alles richtig, auch, dass die Anatomie des Körpers die Anatomie der Maschine vorgab, und ebenso, dass Individualität und subjektives Erleben zweitrangig waren. Gleichwohl hat Patzel-Mattern in ihrem Buch daraus keine Konsequenz gezogen. Ihre Aussage, es sei das „Verdienst“ der Psychotechnik gewesen, den Körper als „beachtenswerte Größe in die industrielle Diskussion eingebracht zu haben“ (S. 91), ist wenig aussagekräftig.

Die von Patzel-Mattern untersuchte Psychotechnik ist die embryonale Vorstufe späterer Rationalisierungsbemühungen. Komplexitäten der reflexiven Moderne lagen zwar jenseits ihres Horizonts. Doch kann man Fragen von der Gegenwart rückwärts stellen. Einige instruktive Aufsätze des Sammelbandes von Bluma und Uhl (so der von Nina Kleinöder zur Risikoregulierung am Arbeitsplatz Ende des 20. Jahrhunderts oder Beat Bächis Darstellung der Festlegungen von Grenzwerten toxischer Stoffe) verdeutlichen, dass allzu einfache Antworten nach Sinn und Funktion bestimmter Politiken nicht erhältlich sind. So sind Rationalisierung und Humanisierung vielschichtig miteinander verflochtene und im Einzelfall nicht eindeutig gegeneinander abzugrenzende Größen. Könnte es sein, dass schon in der Weimarer Zeit und in der Psychotechnik differenziertere Gemengelagen vorlagen? Patzel-Mattern diskutiert das nur in Ansätzen. Die Erfassung komplexer Mensch-Maschine-Interaktionen wurde der Psychotechnik zum Problem. Wie sollte sie ihren Nutzen nachweisen? Schon die bei der Auslese von Lehrlingen angewandten Tests waren oft unterkomplex. Das Problem verstärkte sich, als man sich gegen Ende der 1920er Jahre stärker auf Angestellte kaprizierte. Das Evaluieren von Soft Skills war erst recht zu komplex. Scheiterte die Psychotechnik also? So sieht es Patzel-Mattern, doch habe sie „zumindest ideengeschichtlich“ zur „Demokratisierung industrieller Strukturen“ (S. 254) in Weimar beigetragen – was mir wieder zu wenig aussagekräftig erscheint.

Die Fülle der Themen und Aspekte des Bluma/Uhl'schen Sammelbandes wie der Monographie Patzel-Matterns sind damit nur angerissen. Trotz meiner kritischen Anmerkungen zu Patzel-Matterns Monographie liegt ihr Verdienst darin, dass die Autorin auf einen bis jetzt zu wenig beachteten Ausschnitt der Arbeitsgeschichte aufmerksam gemacht hat. Der Sammelband von Bluma und Uhl dagegen umfasst weitere Bereiche. Hier werden insbesondere der neuere Risiko- und Gefährdungsdiskurs wie auch Erkenntnisse der Körpergeschichte aufgenommen. Unbestritten liegt der besondere Wert der beiden besprochenen Werke darin, das Arbeiten selbst zu betrachten. Allerdings scheint mir, dass in Zukunft wieder ein konservativer sozialhistorischer Zugriff, der Machtverhältnisse weder harmonisiert noch allzu leichtfertig in Foucault'sche Begriffe auflöst, hilfreich sein könnte.

Kai Sammet, Hamburg

Elisabeth Vaupel und Stefan L. Wolff (Hg.) 2010: Das Deutsche Museum in der Zeit des Nationalsozialismus. Eine Bestandsaufnahme [= Deutsches Museum. Abhandlungen und Berichte, Neue Folge 27]. Göttingen: Wallstein Verlag, geb., 710 S., 39,90 €, ISBN-13: 978-3-8353-0596-0.

Lange hat sich das Bild von Museen als von politischen Ereignissen unberührte Horte eines überzeitlichen kulturellen Erbes erhalten. Jubiläen haben den Museen tendenziell dazu gedient, diese Sichtweise zu befestigen und nicht zu hinterfragen. Das verwundert nicht, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Museen gegründet wurden und werden, um gerade jene Dinge aus ihrem Gebrauchskontext herauszunehmen und auf Dauer zu stellen, von denen angenommen wird, dass sie auch zu einem späteren Zeitpunkt noch von Bedeutung sein werden. Nachdem der Anstoß zur Historisierung und Kontextualisierung ihrer Sammlungskonzeptionen und Präsentationsweisen zunächst von außen kam, hat jetzt auch die kritische Reflexion von innen eingesetzt und sich ins Jahrhundert der Extreme voran gearbeitet. Die Richard-Schöne-Gesellschaft für Museumsgeschichte e. V. lud im Juni 2013 zu einem ersten Austausch über die Rolle von Museen im Nationalsozialismus nach Berlin ein. Im Deutschen Museum hat man sich diese Frage schon längst gestellt. Dort ist man aber auch in der beneidenswerten Lage, über ein eigenes wissenschafts- und technikhistorisches Forschungsinstitut zu verfügen. Anlässlich des hundertjährigen Jubiläums wurden bereits 2003 mehrere Studien (zum Museumsgründer Oskar von Miller, sowie zu einzelnen Sammlungsobjekten in ihren Bezügen zum Forschungsstand der Zeit) vorgelegt. Sie bezeugen, dass die historisch-kritische Aufarbeitung der Hausgeschichte nicht nur von außen möglich ist. Mit der hier vorzustellenden Bestandsaufnahme zum Nationalsozialismus zählt die Münchener Einrichtung nun zu den bestbeforschten Museen im 20. Jahrhundert und nimmt damit eine Vorreiterrolle ein, an der sich die anderen Wissenschaftsmuseen messen lassen müssen.

Am neuesten Forschungsstand zur Nazifizierung von Wissensbeständen und Disziplinen im breiteren Kontext von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland zwischen 1933 und 1945 ausgerichtet, gelingt es den Herausgebern und ihren Autoren, dabei auch die strukturelle Besonderheit von Museen im Blick zu behalten. Das Deutsche Museum wurde – wie auch andere zentrale Einrichtungen seiner Art – von einem Verein getragen, in dem Stadt, Staat und Reich privilegierte Mitgliedschaften innehatten, die sie zu gleichhohen Beiträgen verpflichteten. Das Museum war zwar eine nichtstaatliche Institution, doch mitnichten unabhängig von öffentlicher Zuwendung, sondern zu jeder Zeit auf das Wohlwollen von Politik und Wirtschaft angewiesen. Aus dieser Konstellation wird verständlich, warum auch hier im vorauseilenden Gehorsam die Arisierung von Personal und Beständen vollzogen wurde und der Museumsvorstand darauf bedacht war, nach dem Machtwechsel seine gute Vernetzung in Politik und Wirtschaft jetzt mit dem NS-System zu aktualisieren. Zusätzliche Finanzen für den Erwerb von Objekten, die Aktualisierung der Dauerausstellung und die Durchführung von Sonderausstellungen waren nur aus diesen Geldquellen zu bekommen, was Auswirkungen auf die Auswahl von Themen, Personal und Exponaten sowie deren Anordnung und Inszenierung im Ausstellungsraum hatte. Alle 17 Kapitel des Buches zeigen, dass sich gerade wegen dieser existenzsichernden Einbindung in die autarkischen und expansiven Ziele des NS-Staats die Frage nach Autonomie für Museen nicht gestellt hat. Die Autoren und Autorinnen analysieren konkrete Veränderungsprozesse auf der Ebene des Personals (Vorstand, Mitglieder, Mitarbeiter, darunter politische Funktionsträger wie Todt), der Museumsgremien, des Gebäudes (Kongressbau, Bibliotheksbestand), der Ausstellungen (Reichsautobahn, Kraftfahrzeuge, Fotografie, Physik und Werkstoffe) und Exponate (Flugzeuge, Autos und Atommodelle). Darüber hinaus werden zwei Gastausstellungen („Großdeutschland und die See” und „Der ewige Jude”) ausführlich und detailreich besprochen. Die Argumentation erfolgt eng am historischen Material. Als besonders ertragreich erweist sich dabei der Bestand des hauseigenen Archivs. Die Verantwortungsfrage kommt nicht zu kurz und die Urteile sind ausgewogen.

Die dichten Kapitel zur institutionellen Entwicklung mit den biographischen Porträts von Zenneck, Bruckmann, Matschoß und Todt sind sehr informativ und werden auch Leser und Leserinnen ansprechen, die sich eigentlich nicht für Museen interessieren. Die Fallstudien zur Aktualisierung der Ausstellungen und Sammlungen geben einen nachhaltigen Eindruck von der bildungspolitischen Aufgabe des Deutschen Museums und regen zur Verbindung mit entsprechenden Untersuchungen zur materialen Kultur der Wissenschaft an. Teilweise wird bis auf einzelne Gestaltungselemente in verschiedenen Ausstellungen nachvollzogen, wie Schaustücke neu gerahmt, in Szene gesetzt und mit neuen Bedeutungen ausgestattet wurden. Dies gelingt besonders gut dort, wo über die Aktenbefunde zur Vorbereitung von Ausstellungen hinaus auch mittels Fotodokumentationen und Presseberichterstattung Informationen zu Raumsituationen und Wahrnehmungen vor Ort ausgewertet werden konnten. Das Bild von der Zeitlosigkeit der Objekte und dem unpolitischen Charakter des Deutschen Museums ist mit diesem dicken Band gründlich dekonstruiert worden. Die von der Lektüre angeregte Frage, wie Exponate und Ausstellungen zur Vermittlung von apolitischen Technik- und Wissenschaftsbildern herhalten konnten und an vielen Orten noch heute können, ist jetzt auch für andere Perioden und Museen zu stellen.

Sybilla Nikolow (Bielefeld)

Felix Hausdorff 2012: Gesammelte Werke, Band IX: Korrespondenz. Hg. von Walter Purkert. Berlin u.a.: Springer, geb., xx+729 S., 99,95 €, ISBN-13: 978-3-64201-116-0.

Mit dem vorliegenden Band ist jetzt der seit 2001 siebente von neun Bänden der Werkedition des bedeutenden deutschen Mathematikers Felix Hausdorff (1868-1942) erschienen, über die an dieser Stelle schon mehrfach berichtet wurde (NTM 11(2003), 198/99; 12(2004), 124; 14(2006), 60/61; 15(2007), 307-309; NTM 16 (2008), 511-513); NTM 19 (2011), 225-226).

Der vorliegende, inhaltlich als abschließend zu betrachtende Band lässt durch seine Gründlichkeit erkennen, dass mit allen Vorbereitungen die vorbildliche Edition schon seit weit über einem Jahrzehnt im Gang ist. Dies ermöglichte eine systematische Sammlung der in aller Welt verstreuten persönlichen Korrespondenz, die zum großen Teil von Hausdorffs Hand stammt. Die ehemals in seinem Nachlass befindlichen Gegenstücke sind fast alle durch Kriegseinwirkungen verloren gegangen; zu den wenigen Ausnahmen gehören die Briefe des russischen Topologen Pavel (Paul) Alexandroff. Der Briefwechsel zwischen Alexandroff und Hausdorff, dessen Grundzüge der Mengenlehre (1914) die sowjetische Schule stark beeinflusst haben, ist dann auch mit etwa 130 Seiten die bei weitem umfangreichste Korrespondenz des Bandes und mathematisch und historisch besonders aussagekräftig. An mathematischer Korrespondenz kommen ihr im Umfang Hausdorffs Briefe an Friedrich Engel, den Herausgeber der Werke des einflussreichen norwegischen Mathematikers Sophus Lie, und an David Hilbert am nächsten, von dessen Grundlagen der Geometrie (1899) Hausdorff stark beeindruckt und in einem allgemeinen Sinne beeinflusst war. Der Herausgeber Purkert hat die meisten der mathematischen Briefe selbst ausführlich kommentiert; die Kommentare lesen sich oft wie selbständige und wertvolle historische Beiträge. Während Hausdorff – ohnehin meist der Schreibende – oft der Belehrende und Erklärende ist, lassen die Briefe beispielsweise an Lie, Leopold Fejér, Helmut Hasse, Heinz Hopf, Karl Menger, George Pólya, William Threlfall und Leopold Vietoris erkennen, dass auch Hausdorff selbst wichtige Anregungen empfing. 1994 gelang es Egbert Brieskorn, dem Initiator der Gesammelten Werke, auf dessen bald als Band I B der Edition erscheinende Hausdorff-Biographie mehrfach verwiesen wird, den damals bereits 103jährigen österreichischen Mathematiker Vietoris zur Rekonstruktion des Entwurfs eines langen und aussagekräftigen topologischen Briefes an Hausdorff aus dem Jahre 1918 zu bewegen.

Doch der Korrespondenzband dokumentiert nicht nur erneut Hausdorffs bemerkenswerte mathematische Vielseitigkeit. Umfangreicher als die meisten mathematischen Briefwechsel ist der Austausch mit Fritz Mauthner und Elisabeth Förster-Nietzsche, der von Hausdorffs starken philosophischen und sprachkritischen Interessen zeugt. Gegenüber Nichtmathematikern wie dem Neurologen und Philosophen Theodor Ziehen ist Hausdorff sich auch nicht zu schade, seine wegweisenden Neuerungen in der Mengenlehre teils möglichst populär zu erläutern, teils gegen philosophische Fehlinterpretation zu verteidigen. Der Herausgeber vermeidet eine einseitige Glorifizierung seiner Hauptperson, wenn er etwa darauf hinweist, dass Hausdorff die Rolle der Logik für die Untersuchung von Grundlagenfragen der Mathematik unterschätzte und beispielsweise die epochemachenden Resultate von Kurt Gödel nicht rezipiert zu haben scheint.

Alle auffindbaren Korrespondenten von Hausdorff, auch diejenigen von nur privater Bedeutung, sind erfasst und von Purkert mit ausführlichen, im Allgemeinen eine Seite umfassenden Biographien gewürdigt worden. Dies erforderte den Rückgriff auf sehr ungleichartige Quellen. Es ist bemerkenswert, dass dem Herausgeber dabei und bei der Kommentierung nur sehr wenige Ungenauigkeiten und Druckfehler unterlaufen sind. Es sei hier lediglich auf das irrtümliche Vertrauen in die Tagungsberichte des Internationalen Mathematikerkongresses von Oslo 1936 hingewiesen, die eine in Wirklichkeit nicht erfolgte Teilnahme einer sowjetischen Delegation zu dokumentieren scheinen (S. 133).

Der Band ist, wie in der Edition üblich, mit ausführlichen Registern und dem Wiederabdruck des Werkverzeichnisses versehen und enthält auch einige Gutachten Hausdorffs und dienstliche Schriftstücke. Der Stil der Kommentierung ist außerordentlich großzügig. Nicht nur werden einige bereits gedruckte Dokumente erneut publiziert und zum Teil erneut kommentiert, soweit dies von anderer, insbesondere historischer Perspektive neue Sichtweisen ermöglichte. Es werden auch Zeitdokumente eingeschoben, die nur marginal mit Hausdorffs Leben im Zusammenhang stehen, aber die Umstände, in denen er, der antisemitischen Verfolgungen Ausgesetzte, leben musste, genauer beleuchten. Gegen Ende des Bandes ist dann der ergreifende Abschiedsbrief zu lesen, den Hausdorff vor dem gemeinsamen Selbstmord mit seiner Frau und seiner Schwägerin am 25. Januar 1942 an einen Freund der Familie schrieb.

Reinhard Siegmund-Schultze (Kristiansand)

Moritz Epple und Claus Zittel (Hg.) 2010: Science as Cultural Practice. Volume I: Cultures and Politics of Research from the Early Modern Period to the Age of Extremes. Berlin: Akademie Verlag, geb., 283 S., 69,80 €, ISBN-13: 978-3-05004-407-1.

Der Titel dieses Bandes stellt zwei Großbegriffe der jüngeren Wissenschaftsforschung zusammen: Kultur und Praxis. Für den Begriff Kultur wird, kaum überraschend, in der Einleitung Clifford Geertz genannt und mit dem web of meanings auch zitiert. Der Begriff der Praxis bleibt als solcher ohne Erörterung. Das ist insofern kein Problem, als das Alltagsverständnis die Praxisbegriffe der Beiträge problemlos abdeckt. Der Band ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil heißt „Before 1900“, der zweite Teil ist etwas reißerisch „Science in the Age of Extremes“ überschrieben. Ich werde die Beiträge kurz in ihrer Reihenfolge vorstellen.

Catherine Wilsons Beitrag ist bescheiden mit „Some Motives and Incentives to the Study of Natural Philosophy“ überschrieben. Hier geht es in einer überzeugend geschriebenen Studie um Robert Boyle und den Konflikt zwischen Religiosität und dem experimental life des virtuoso, den Boyle im „Christian Virtuoso“ aufzulösen versucht. Darauf folgt Friedrich Steinle mit „Scientific Facts and Empirical Concepts: The Case of Electricity“, der mit den Konzepten Ludwik Flecks Charles Dufay, den Naturforscher und Direktor des Pariser Botanischen Gartens im frühen 18. Jahrhundert, und dessen Konzeptformation von Elektrizität (ein oder zwei Arten) zu interpretieren sucht. Dabei geht es mehr um das historiographische Verhältnis von Konzept und Theorie als um den historischen Fall, ein für die Geschichte der Physik wie für die historische Epistemologie interessanter Aufsatz. Es folgt der sehr spannende Beitrag von Lorraine Daston („The Humboldtian Gaze“, das heißt „at once morphological and aesthetic and scientific, local and global“), der als Vortragstext geschrieben ist und ganz ohne Fußnoten auskommt. Es wird darin ohne Abbildungshinweis auf zwei Karten verwiesen, von denen eine zehn Seiten später abgedruckt ist und die andere fehlt. Während Dastons Text 16 Seiten umfasst, ist der folgende von Norton Wise („What’s in a Line?“) 42 Seiten lang und reich illustriert. Es geht um Arabesken, Architekturzeichnungen und mathematische Kurven. Da ist viel interessantes Material, bis auf die Aussage aber, dass neben der Gewerbeförderung (Beuth) die Berliner Kunstakademie für die Physikgeschichte eine wichtige Rolle spielt, ist mir die Botschaft nicht ganz klar geworden. Sven Dierig nimmt in „Apollo’s Tragedy: Laboratory Science between Classicism and Industrial Modernism“ auf Wise Bezug und stellt dar, dass und wie die idealistischen und romantischen Träume des frühen 19. Jahrhundert sich im Realismus des Labors der 1880er Jahre auflösen. Hier fehlen anfangs die Verweise auf bei Wise abgedruckte Abbildungen, tauchen dann aber in einer Fußnote auf. Den ersten Teil des Bandes beschließt dann Simon Schaffers Untersuchung britischer Astronomen (und anderer Akteure) im kolonialen Einsatz in Indien. Wobei die „messy troubles of lowly life“ gegen die etwa von Lewis Pyenson so dargestellten hehren, nicht imperialistischen Wissenschaftler gerade als Zeichen der Einbettung in die Bedingungen des Imperialismus gewertet werden.

Der zweite Teil umfasst noch einmal sechs Beiträge. Hans Jörg Rheinbergers „The Art of Exploring the Unknown; Views on Contemporary Research in the Life Sciences“ ist eine klare und konzise Zusammenfassung seines Konzepts des Experimentalsystems anhand eines Beispiels, das er schon in einer früheren Veröffentlichung behandelt hat. Auch er bezieht sich dabei übrigens auf Fleck. Der Text ist als Einführung in die Begriffe und Methoden Rheinbergers sehr gut geeignet. Ebenso knapp und klar ist Evelyn Fox Keller mit „Contenders of Life: Approaches from Physics, Biology and Engineering“, in dem sie sich mit Konzept und Phänomen der Selbstorganisation in Biologie, Physik und Technik beschäftigt. Bei Dominique Pestre wird unter dem Titel “What about Participation, Governance, and Politics? Remarks on Contemporary Techno-science and the Field of STS“ nicht mehr nach der Vergangenheit gefragt, sondern nach Gegenwart und Zukunft. Dies ist ein eminent politischer Aufsatz. Der Autor formuliert bei weitem nicht nur „Anmerkungen“ sondern sechs scharf zugespitzte, herausfordernde Thesen, die sich gegen die von ihm diagnostizierte Privatisierung des wissenschaftlich erzeugten Wissens durch „financial and economic actors“ richten und gegen die Techniken der Manipulation von öffentlicher, demokratischer Diskussion.

Am Schluss stehen die Beiträge der beiden Herausgeber und dazwischen noch ein kurzer Beitrag von Mary Jo Nye über „Science and Politics in the Philosophy of Science: Popper, Kuhn, and Polanyi“. Sie stellt die Lebensgeschichten der drei Autoren, vor allem aber ihre politischen Positionen und Engagements und die entsprechenden Veröffentlichungen, vor und bietet so einen kurzen aber wichtigen historischen Kursus in politischer Kultur der Wissenschaftsphilosophie. Claus Zittel ist ein intimer Kenner der Arbeiten Ludwik Flecks, auch jener in polnischer Sprache. Sein Aufsatz „The Politics of Cognition: Genesis and Development of Ludwik Fleck’s ‚Comparative Epistemology‘“ geht sehr kritisch mit Fleck um, und endet mit der Aufforderung mit, gegen und über Fleck hinaus zu denken. Abschließend kommt der Hauptherausgeber des Bandes, Moritz Epple, mit „Links and Their Traces: Cultural Strategies, Resources, and Conjunctures of Experimental and Mathematical Practices“ zu Wort. Er wendet sich gegen die Isolierung der Mathematikgeschichte aus ihrem kulturellen Kontext. Leitmotiv sind die traces der links, die die Historiker suchen und verarbeiten sollten. Dieses Plädoyer für eine bessere Verlinkung der Mathematikhistoriographie mit den Nachbarfeldern ist zwar in einigen Bereichen wie Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik schon halbwegs selbstverständlich, keineswegs aber für die Geschichte der reinen Mathematik.

Der Band ist aus einer Vortragsreihe entstanden und zeigt eine gewisse Heterogenität der Beiträge. Sie liegt vor allem in der Form, denn der kürzeste ist neun Seiten lang (Keller), der längste hat 42 Seiten (Wise) und ist reich illustriert, während es im Rest des Bandes kaum Illustrationen gibt. Der Versuch, den Band homogen erscheinen zu lassen, indem die zitierte Literatur in einer Bibliographie am Ende zusammengefasst wird, wirkt sich eher störend auf die Lektüre aus. Insgesamt handelt es sich aber um einen sehr guten Sammelband, der in jeder einschlägigen Bibliothek stehen sollte.

Herbert Mehrtens, Berlin

Paul Weindling 2010: John W. Thompson. Psychiatrist in the Shadow of the Holocaust. Rochester: University of Rochester Press, geb., 440 S., 79,99 €, ISBN-13: 978-158046-2891.

Paul Weindlings Biographie des Neurophysiologen und Psychotherapeuten John W. Thompson (1906-1965) erzählt eine außergewöhnliche Lebensgeschichte. Eng verbunden mit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts portraitiert Weindling das unstete Leben seines Protagonisten als „Paradox und Mysterium“ (S. 6) zugleich. Thompson erscheint dabei als eine höchst widersprüchliche Figur, der sein Leben gleichwohl dezidiert einer praktischen Philosophie der Sorge für die Verzweifelten verschrieb. Alles in allem, so der Biograph, ein vielschichtiges Erbe, das in seiner ethischen Grundhaltung nach wie vor inspiriere (S. 332).

Thompsons Lebensweg verlief zunächst in wohl geordneten Bahnen zwischen Mexiko und Kalifornien. 1924 begann er in Stanford Physiologie und Biologie zu studieren, 1928 nahm er ein Medizinstudium an der renommierten Edinburgh Medical School auf. 1936 kehrte er in die USA zurück, um seine Studien in Harvard fortzusetzen, wo er im fatigue laboratory sowohl physiologische Versuche an Studenten und Schizophreniepatienten als auch erste Selbstversuche durchführte. Als Mitglied der kanadischen Streitkräfte kam Thompson im Herbst 1944 nach Europa und kurz vor Kriegsende im April 1945 schließlich in das nur wenige Tage zuvor von britischen Truppen befreite Konzentrationslager Bergen-Belsen. Das Elend, der Hunger und die Verzweiflung der ehemals Inhaftierten sowie die im Lager grassierende Typhusepidemie, die anfangs pro Tag etwa 700 Menschen das Leben kostete, brachten Thompson, der als ausgebildeter Arzt zu helfen versuchte, wo er konnte, an die Grenzen seiner Kräfte. Diese traumatische Erfahrung war die Wende im Leben des vormals durchaus karrierebewussten Wissenschaftlers.

Ausgesandt als Verbindungsoffizier der alliierten Streitkräfte, oblag Thompson ab Sommer 1945 in geheimer Mission die Aufgabe, die medizinischen Experimente der Nationalsozialisten zu erkunden, was ihn dazu brachte, eine großangelegte Dokumentation dessen anzulegen, was für ihn alsbald als medizinische Kriegsverbrechen gelten sollte. Zielstrebig verfolgte er sein Anliegen, über den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vom Herbst 1945 hinaus einen weiteren Prozess gegen die Verantwortlichen für die in den Konzentrationslagern durchgeführten Menschenversuche anzustrengen. Zugleich engagierte er sich für einen neuen ethischen Rahmen experimenteller Versuche, die nur noch mit informed consent, das heißt, mit informierter Einwilligung der Probanden durchgeführt werden sollten. Seine Arbeit als Neurophysiologe sollte Thompson, der im Übrigen auch als Beobachter des 1946/47 stattfindenden Nürnberger Ärzteprozess fungierte, indes nicht wieder beginnen. Stattdessen übernahm er nach Beendigung seiner Offizierstätigkeit die Aufgabe, im Auftrag der neu gegründeten UN Sonderorganisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur im besetzten Deutschland zu arbeiten. Zwischen 1947 und 1955 trugen die von der UNESCO lancierten Deutschland-Initiativen seine Handschrift, denn er verhandelte nicht nur den diplomatisch heiklen Beitritt des westdeutschen Teilstaats zur UNESCO im Jahre 1951, sondern initiierte ebenso die Gründung dreier sozial- und erziehungswissenschaftlich ausgerichteter Forschungsinstitute, um mit Hilfe breiter empirischer Forschung eine gesellschaftliche Neuausrichtung im ehemals nationalsozialistischen Deutschland zu unterstützen. 1955 kehrte er der UNESCO jedoch den Rücken und zog sich – inzwischen streng gläubig geworden – in die von Franziskanern geleitete Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Eau Vive nahe Paris zurück. Als diese 1956 geschlossen wurde, ging Thompson als Direktor der Child Guidance Clinic nach Oxford, um von dort als Assistant Professor für Psychiatrie an das Albert Einstein College nach New York zu wechseln. Sein Engagement galt nun auch der wachsenden Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten, deren Belange er sich uneingeschränkt zu eigen machte.

Weindling widmet sich Thompsons Lebensgeschichte mit großer Akribie. Seine Studie beruht auf weit verstreuten Archivquellen, einer Fülle von gedrucktem Material und zahlreichen Interviews mit Zeitzeugen. Die ausgeprägte Liebe zum Detail dürfte für viele Leser eher verwirrend sein, denn sie führt oft in großer Ausführlichkeit sowohl in die Labore als auch in die wissenschaftlichen Kontroversen der Zwischenkriegszeit. Auch über die Vorgeschichte und die Hintergründe der Nürnberger Ärzteprozesse ist vieles zu erfahren, einiges davon dürfte informierten Lesern allerdings bereits aus früheren Arbeiten Weindlings bekannt sein. Systematisch werden die vielschichtigen Nachwirkungen der medizinischen Kriegsverbrechen im Rahmen des Buches indes nicht weiter verfolgt, und so geht es auch nur in Ansätzen um die übergreifende Frage, wie über die unmittelbare Nachkriegszeit hinaus eine neue von allen geteilte Ethik in den experimentellen Wissenschaften zu entwickeln sein könnte. Obschon Thompson klar als ein Vordenker einer solchen Richtung apostrophiert wird, folgt das Buch weiter seinem verschlungenen Lebensweg. Insgesamt bietet die Studie somit zahlreiche Einsichten in die zeitgenössischen wissenschaftlichen Institutionen, Netzwerke und Praxen und erhellt anhand der Biographie ihres radikal agierenden Protagonisten vor allem die Herausforderung, angesichts des unfassbaren menschenverachtenden Terrors der Konzentrationslager verloren geglaubte moralische Maßstäbe (wieder) zu gewinnen. Eine solche Konzentration auf die Biographie einer Einzelperson mag zwar vielleicht manchen Leser enttäuschen, stellt aber auch eine Stärke dieser insgesamt sehr lesenswerten Studie dar, die die Untiefen und Kontingenzen eines ungewöhnlichen Lebenslaufs nicht zu verschweigen sucht.

Iris Schröder, Erfurt

Martina R. Schneider 2011: Zwischen zwei Disziplinen. B.L. van der Waerden und die Entwicklung der Quantenmechanik [= Mathematik im Kontext]. Springer, brosch., 428 S., 39,95 €, ISBN-13: 978-3-64221-824-8.

„Der niederländische Mathematiker van der Waerden (1903-1996) ist vor allem für seine ‚Moderne Algebra’ bekannt. Im vorliegenden Buch steht jedoch ein bisher weitgehend unerforscht gebliebenes Interessensgebiet dieses vielseitigen Wissenschaftlers im Mittelpunkt: seine Beiträge zur gruppentheoretischen Methode in der Quantenmechanik“ – so der Umschlagtext zutreffend über die Originalität des Buches. Neben die Erforschung des Verhältnisses van der Waerdens zur Physik und die Analyse seiner quantenmechanischen Arbeiten tritt als übergeordneter Forschungskomplex, der sich auch im Titel des Buches niederschlägt, die Frage nach den Wechselbeziehungen zwischen den Disziplinen Mathematik und Physik.

Im ersten Teil wird zunächst die Sekundärliteratur zur Vorgeschichte zusammengefasst: Darstellungstheorie von Gruppen, Quantentheorie und Quantenmechanik und die Verbindungen von Gruppentheorie und Quantenmechanik bis 1928.

In beeindruckender Weise gelingt der Verfasserin die Verbindung von Biographie und Begriffsgeschichte. Die Kapitel 4, 5, 8, 17 und 18 können eigenständig als kurze Biographie zu van der Waerden gelesen werden, wobei auch dort der Schwerpunkt auf Bezügen zur Quantenmechanik liegt und andere Arbeitsgebiete nur kurz behandelt werden. Die Verfasserin hat zahlreiche unveröffentlichte Quellen erschlossen, unter denen die Funde zu van der Waerdens Verbleib in Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus und den Folgen dieser Entscheidung für seine Nachkriegskarriere besonders erwähnt seien. Diese erlauben es, ein differenzierteres Bild zu zeichnen als dies bisher in der Sekundärliteratur geschehen ist (Abschnitt 8.3).

Der zweite Teil behandelt van der Waerdens Einstieg in die Quantenmechanik in Groningen. Nach dem biographischen Kapitel 5 wird in Kapitel 6 und 7 die Einführung des Spinorkalküls behandelt. Die Verfasserin belegt, dass es sich um eine Auftragsarbeit für den Leidener Physiker Paul Ehrenfest handelt, und kann die Entwicklung des Kalküls, die in van der Waerdens Publikation selbst nicht erläutert wird, aus anderen Quellen rekonstruieren.

Der dritte Teil bildet mit neun Kapiteln den Hauptteil des Buches und ist van der Waerdens Leipziger Arbeiten zur Quantenmechanik, hauptsächlich seiner Monographie zur gruppentheoretischen Methode in der Quantenmechanik von 1932, gewidmet. Diese wird unter mehreren Gesichtspunkten mit den kurz zuvor erschienenen Monographien von Hermann Weyl und Eugene Wigner verglichen und nicht zuletzt unter der Fragestellung diskutiert, warum „noch ein drittes Buch zu einer nicht unumstrittenen Methode erschien“ (S.179). Als ein Unterschied wird herausgearbeitet, dass Weyl sowohl Physiker als auch Mathematiker als Adressaten gehabt habe, während van der Waerden sich vor allem an die Physiker richtete. Man könnte hier ergänzen, dass van der Waerdens Buch letztlich ebenfalls von beiden Gruppen gelesen wurde – so jedenfalls das Vorwort zur englischen Ausgabe von 1974.

Bei dem Vergleich, der sich über die Kapitel 9 bis 14 erstreckt, fördert die Autorin interessante Unterschiede bei den technischen Details zutage. Außerdem bereichert Schneider die Diskussion über die Rezeption der gruppentheoretischen Methode um die Erkenntnis, dass es neben Befürwortern und Gegnern auch ein Lager von daran Interessierten, aber Unentschiedenen gegeben hat. Die Diskussion der „Modernität“ des Zugangs zeigt hauptsächlich, wie unklar der Begriff der mathematischen Moderne nach wie vor ist. Auffallenderweise wird hier der zugegebenermaßen kontroverse, gleichwohl mittlerweile klassische Beitrag von Herbert Mehrtens nicht erwähnt.

In Kapitel 16 wird ein weiterer mathematikhistorisch interessanter Schauplatz betreten, indem wichtige Quellen zum Zustandekommen von van der Waerdens rein algebraischem Beweis der vollen Reduzibilität halbeinfacher Lie-Gruppen präsentiert werden. Die Autorin nimmt den Faden der Geschichte der Theorie der Lie-Gruppen dort auf, wo Thomas Hawkins ihn 2000 am Ende seines Standardwerks Emergence of the Theory of Lie Groups verlassen hatte. Teil IV bietet mit den schon erwähnten Kapiteln 17 und 18 zur Nachkriegsbiographie einen Ausblick auf van der Waerden und die Physik nach 1945.

Was die Wechselbeziehungen zwischen den Disziplinen Mathematik und Physik insgesamt angeht, so zeigt die Verfasserin, dass van der Waerden häufig für Physiker schreibt, ja seine Betätigungsfelder wiederholt an von außen an ihn herangetragenen Wünschen ausrichtet und dabei sparsam und gezielt auf für diese Leser ungewohnte Mathematik, insbesondere die von ihm mitgeprägte „moderne“ strukturelle Algebra, zurückgreift. Weil diese Projekte Rückwirkungen auf die Mathematik haben, spricht van der Waerden selbst in der Rückschau von „Wechselwirkung“ und „Symbiose“ anstelle der von David Hilbert und anderen hier gesehenen prästabilierten Harmonie. Es wird deutlich, dass dieser Unterschied für das Verständnis seiner Arbeiten bedeutsam ist. Was man allerdings genau unter der „Verschiebung von einer metaphysischen Charakterisierung des Verhältnisses der beiden Disziplinen […] hin zu einer biologischen“ (S. 374) zu verstehen hat, bleibt unklar. Die Verwendung biologischer Metaphorik ist ja nicht frei von Metaphysik, im Gegenteil; man denke etwa an die Philosophie der êtres mathématiques von Albert Lautman.

Die Darstellung der jeweils relevanten Mathematik ist häufig sehr anspruchsvoll. Dies liegt zunächst in der Natur der Sache; man hätte aber sicher durch etwas mehr Propädeutik (beispielsweise ein Glossar) den Kreis der potentiellen Leser und Leserinnen erweitern können. Häufig werden die Inhalte der untersuchten Arbeiten in heutiger Terminologie dargestellt, was gelegentlich die tatsächliche historische Durchsetzung der Terminologie verschleiert (so auf S. 50, wo von einer zweiblättrigen Überlagerung die Rede ist, während die Autoren der Originalarbeit von einer „endlichvieldeutigen“ Darstellung sprechen). Anachronistisch sind auch die kommutativen Diagramme; allerdings erlauben sie der Verfasserin, das Verhältnis der verschiedenen Fassungen des Spinorkalküls zueinander (das in den Quellen selbst nicht thematisiert wird) übersichtlich darzustellen (S. 241).

Unzureichend Belegtes gibt es kaum (vielleicht die Angaben zu Harish-Chandra auf S. 337); dafür schlägt die große Sorgfalt, mit der die Verfasserin (in sage und schreibe 1254 Fußnoten) Zitate nachweist und wiedergibt, zuweilen in eine gewisse Pedanterie um. Gelegentlich könnten Angaben etwas weniger kryptisch sein (welches Gerücht, das van Dalen erwähnt, ist auf S. 113 gemeint?).

Solche Kritik betrifft jedoch nur Kleinigkeiten, grundsätzliche Schwächen hat der Rezensent nicht gefunden. Das Buch kann wärmstens empfohlen werden. Die Ausstattung ist dank vieler Abbildungen und eines Namensverzeichnisses recht gut, auch wenn das Fehlen eines Sachverzeichnisses die Lektüre erschwert.

Ralf Krömer, Siegen