Robert Kochs Labor wird mobilisiert
Wie brachte man das als armer Medizinstudent zustande? Welche Transportmittel setzte Bujwid ein, um diesen Transfer zu ermöglichen? Um Robert Kochs Labornetzwerk nach Warschau auszudehnen, musste Odo Bujwid zunächst nach Berlin und dann auch wieder zurück nach Hause gelangen. Die finanzielle Unterstützung der Mianowski-Stiftung und die Eisenbahn machten dies möglich. Doch das zentrale Transportmedium für Bujwid war das Papier: Drei vollgeschriebene Notizhefte brachte er mit zurück nach Warschau (Abb. 1).
Auf Grundlage seiner Mitschriften und sonstiger Notizen in diesen Heften stellte Bujwid zurück in Warschau seinen Bericht über die Forschungsreise in der Gazeta Lekarska zusammen. Für einen Nachwuchswissenschaftler wie Bujwid war die Gazeta eine gute Anlaufstelle. Von den nur vier polnischsprachigen medizinischen Fachzeitschriften, die in den 1880er Jahren im russischen Teilungsgebiet herausgegeben wurden, war die Gazeta die älteste und renommierteste und garantierte Bujwid eine breite Leserschaft unter polnischen Ärzten.Footnote 9
Sein hier veröffentlichter Bericht, die 1887 herausgegebenen Fünf Vorträge über Bakterien oder Der Grundriss der Bakteriologie von 1890 übersetzten die Instrumente, Labortiere und Handgriffe des bakteriologischen Labors in Schriftform und bannten sie als Text auf die zweidimensionale Fläche des Papiers. Karten, Graphiken oder Statistiken – die klassischen Inskriptionen Latours – finden sich hier nicht. Denn Bujwid ging es nicht allein um die Stabilisierung des pathogenen Mikroorganismus als wissenschaftliche Tatsache. Dann wären Mikrofotografien, die Thomas Schlich als machtvolle und unumstößliche Inskriptionen bakteriologischer Labortechnik beschrieben hat, vermutlich am wirkmächtigsten gewesen (Schlich 1997). Vielmehr sollte die bakteriologische Praxis, das heißt die Fähigkeit, Bakterien und ihre krankheitserregende Wirkung selbständig sichtbar zu machen, transferiert werden. Ziel von Bujwids minutiösen Schilderungen der Laborausstattungen und -praktiken war es, interessierten Lesern zu ermöglichen, das Labor nachzuahmen oder nachzubauen. Bei Bujwids Texten handelte es sich deshalb vielmehr um literarische Inskriptionen, deren Zielsetzung jedoch ebenso wie die von Diagrammen oder Mikrofotografien darin lag, das Labor von Robert Koch unveränderlich mobil zu machen.
Wie sahen Bujwids literarische Inskriptionsversuche aus? Um die Gestalt der für das bakteriologische Labor notwendigen Gerätschaften in Textform verständlich zu machen, vergleicht Bujwid sie in seinen Fünf Vorträgen mit Alltagsgegenständen: Ein Kolben sei ein gläsernes Gefäß, das aus einer Kugel und einem Hals bestehe und an eine Wasserkaraffe erinnere; ein Reagenzglas sei ein gläsernes Rohr mit Boden (Bujwid 1887b: 7 f.). Um spezifische Handgriffe, wie zum Beispiel das Verbringen einer Bakterienkultur von einem Reagenzglas in ein anderes mit Gelatine-Nährboden zu beschreiben, waren ausführlichere Textpassagen notwendig. Ein wesentliches Problem der Bakteriologen bei der Züchtung von Reinkulturen war, dass sich häufig andere Bakterien, Schimmel oder ähnliches in die angelegte Kultur verirrten, was die Beweisführung über die Verbindung „ein Bakterium – eine Krankheit“ erschwerte.Footnote 10 Spezielle Handfertigkeiten sollten das Eindringen von „Fremdkörpern“ in eine Kultur verhindern – beispielsweise, wenn sie versetzt wurde und dabei in Kontakt mit der Umwelt zu geraten drohte:
Um eine Kultur von einem Reagenzglas in ein anderes mit Gelatine zu geben, verfahren wir auf folgende Art und Weise: Wir entkorken das Reagenzglas mit der Kultur, die umgefüllt werden soll, indem wir den Wattekorken so lange drehen, bis wir fühlen, dass die an den Glaswänden klebende Watte losgelöst ist. Dieses Reagenzglas halten wir dann zwischen Zeigefinger und Mittelfinger der linken Hand schräg, so dass nichts aus der Luft hineinfällt. Auf die gleiche Art und Weise entkorken wir das Reagenzglas mit der Gelatine und halten beide [Watte-] Korken zwischen den Fingern der rechten Hand wie wir das Reagenzglas in der linken halten. All das zielt darauf, dass die Korken nicht abgelegt werden müssen oder aber ihre Innenseite die Fingerflächen berühren. Dieses Verfahren muss man unbedingt verinnerlichen. Jetzt entnehmen wir mit einem in der Flamme sterilisierten und wieder abgekühlten Platindraht […] ein kleines Stückchen der Kultur und verbringen sie in die Gelatine, indem wir den Draht in die oberen Zweidrittel der Gelatine stecken. Dabei bemühen wir uns, mit dem Draht nicht die Wände des ersten und des zweiten Reagenzglases zu berühren. (Bujwid 1885: 719)
Auch spezifische Handgriffe und -bewegungen wurden hier also inskribiert; Bujwid versuchte, auch eigentlich implizites Wissen schriftlich zu artikulieren. In seinem Bericht aus Berlin setzte er ausschließlich auf seine Beschreibungskünste und verzichtete gänzlich auf Zeichnungen. Auch seine Fünf Vorträge enthalten keine Abbildungen. Über die Gründe dafür lässt sich nur spekulieren: Den Bericht aus Berlin veröffentlichte Bujwid als Student und er war in der Gazeta Lekarska unterhalb eines Originalbeitrags auf nur einem Seitendrittel platziert. Es ist unwahrscheinlich, dass die Zeitschrift bereit war, für solch einen Beitrag aufwändige und kostspielige Abbildungstafeln drucken zu lassen. Finanzielle Erwägungen mögen auch bei den Fünf Vorträgen eine Rolle gespielt haben. In der Gazeta Lekarska jedoch konnte Bujwid auf anderweitig erschienene Zeichnungen verweisen (ebd.: 653). So hatte Marian Jakowski (1857–1921) in der gleichen Ausgabe der Zeitschrift, in der auch Bujwids Bericht aus Berlin erschien, einen umfangreichen Literaturbericht über die bakteriologische Forschung der Zeit vorgelegt, um eigene Erfahrungen im histologischen Labor der Warschauer Universität erweitert und mit zahlreichen Abbildungen von Bakterien unter dem Mikroskop versehen, die er zum großen Teil aus Kochs Publikationen kopiert hatte (Jakowski 1885–1886: 350).
Insbesondere bei der Beschreibung der morphologischen Formen von Erregertypen griff Bujwid auf diese Abbildungstafeln von Jakowski zurück. Denn gerade hier waren Bilder von herausragender Bedeutung. Blickte ein bakteriologisch ungeschulter Arzt durch ein Mikroskop, so garantierte dies keineswegs, dass er darunter auch Bakterien erkannte, selbst wenn das Präparat nach allen Regeln der Kunst hergestellt worden war. Zunächst einmal sah das unerfahrene und ungeschulte Auge vermutlich ein einziges Durcheinander. Auf was sollte man das Mikroskop scharf stellen, wenn man nicht wusste, worauf es ankam? Wie konnte man einen Erreger identifizieren, wenn nicht bereits ein eindeutiges Referenzbild existierte? „Um zu sehen, muß man wissen, was wesentlich und was unwesentlich ist, muß man den Hintergrund vom Bild unterschieden können, muß man darüber orientiert sein, zu was für einer Kategorie der Gegenstand gehört“ – schreibt Ludwik Fleck ([1947] 2006: 148). Die Abbildung von spezifischen Mikroorganismen war neben der Beschreibung ihrer visuellen Eigenschaften zentral, um die Warschauer Ärzte ein solches „gerichtetes Sehen“ (ebd.: 154) zu lehren und sie pathogene Mikroorganismen erkennen zu lassen.
Die Grenzen der literarischen Beschreibung hatte Bujwid in seinem Bericht aus Berlin auch an anderen Stellen erkennen müssen. Nach umständlichen Ausführungen über einen Brutschrank, den Koch in Anlehnung an einen Apparat von Cohn entwickelt hatte, schloss er resigniert: „Eine Beschreibung reicht nicht aus. Man muss ihn sich ansehen.“ (Bujwid 1885: 781) In seinem Grundriss der Bakteriologie von 1890 fügte Bujwid dann zwei eigene Abbildungstafeln mit Legende bei (Abb. 2).
Tafel I zeigte die Gerätschaften des bakteriologischen Labors. Den so schwer in Worte zu fassenden Brutschrank von Koch hatte Bujwid zu diesem Zeitpunkt offensichtlich durch ein Modell von Berent ersetzt, der auf der Seite unten links abgebildet war. In der oberen linken Ecke der Tafel präsentierte Bujwid den Platindraht, der für das Verbringen von Bakterienkulturen von einem Reagenzglas in ein anderes vorgesehen war. Die ,,Art des Haltens des Reagenzglases bei der Impfung von Kulturen" wurde ganz unten auf Tafel 1 in der Mitte dargestellt. Wie von Bujwid ausführlich beschrieben (siehe oben), handelte es sich hier um ein schräg liegendes Reagenzglas, in das der Platindraht geführt wurde. Die dazugehörige Hand, die das Glas hielt, wurde zwar nicht abgebildet, in den Erläuterungen zur Tafel jedoch noch einmal beschrieben. Nun sollte das schräge Reagenzglas aber nicht mehr zwischen Zeige- und Mittelfinger gehalten werden, sondern zwischen Daumen und Mittelfinger der linken Hand, der Wattekorken zwischen Ring- und kleinem Finger der rechten Hand, so dass der Platindraht zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand Platz finden konnte.Footnote 12
Neben den Gerätschaften für die Übertragung von Bakterienkulturen waren unter anderem verschiedene Spritzen (als drittes Objekt in der oberen Reihe auch eine auch eine von Koch entwickelte zum subkutanen Injizieren von Erregern), Aufbewahrungsgefäße für Farbstoffe oder Nährböden – hier waren spezifische Systeme aus dem Labor Pasteurs aufgeführt –, eine Glasplatte für Präparate auf feuchter Oberfläche, ein Drahtkorb für zu desinfizierende Reagenzgläser, ein Dampfsterilisator, Gefäße zum Anlegen von Kulturen und ein Wattekorken, mit dem Reagenzgläser zu verschließen waren, abgebildet. Tafel II zeigte einerseits mit bloßem Auge sichtbare Strukturen, die Bakterien auf einem Kartoffelnährboden oder in Gelatine ausbildeten. Außerdem waren Zeichnungen von verschiedenen stark vergrößerten Bakterientypen abgedruckt, die der angehende Bakteriologe unter dem Mikroskop zu erkennen hatte. Um Bakterien sehen zu lernen, musste ein Student der Mikrobiologie in Warschau nun also nicht mehr auf Jakowskis Zeichnungen zurückgreifen.
Einige Elemente des bakteriologischen Labors ließen sich jedoch weder in Worte fassen, noch aufzeichnen. Das Papier als Medium für bakteriologischen Wissenstransfer erreichte hier die Grenzen seiner Möglichkeiten.Footnote 13 Das galt insbesondere für hochkomplexe Instrumente wie beispielsweise das Mikroskop oder die Apparatur für die Mikrofotografie. Beide waren für das Funktionieren des bakteriologischen Labors aber zentral. Wie konnten auch diese „nicht-inskribierten Objekte“ (Espahangizi 2011) des Labors nach Warschau gebracht werden? Hier spielte die Industrie eine entscheidende Rolle, die optische und andere medizinische Instrumente als standardisierte „technische Dinge“ (Rheinberger 2006: 27–34) auf den Markt brachte – auch in Warschau. Für angehende Bakteriologen handelte es sich bei derartigen Instrumenten um black boxes, die mit einer entsprechenden Anleitung versehen relativ einfach zu bedienen sein sollten.
Bujwid referierte in seinem Bericht aus Berlin Kochs Einschätzungen und Empfehlungen über geeignete Mikroskope. Ans Herz legte Koch seinen Schülern ein Mikroskop von Leitz – die Form des Stativs, die Größe des Objektträgers und die Einstellungsmöglichkeiten seien hier am besten. Zudem sei es kostengünstiger als ein entsprechendes Modell von Zeiss oder Hartnack. Zusätzlich zu dem Mikroskop von Zeiss benötige man den von Abbe entwickelten Beleuchtungsapparat in einer Form, die dem Original so ähnlich wie möglich sein sollte. Da es Mikroskope auch in Warschau zu kaufen gab, musste Bujwid keines aus Berlin mitbringen. Allerdings boten die Warschauer Händler nicht das von Koch empfohlene Modell von Leitz an. Auf Grundlage der relativ standardisierten Einzelteile eines Mikroskops, die von der optischen Industrie hergestellt wurden, und der genauen Angaben von Koch konnte Bujwid jedoch ein entsprechendes Gerät auf dem Warschauer Markt ausfindig machen: Er empfahl seinen polnischen Kollegen das Modell Hartnack Nr. VIII A aus dem Katalog von 1885 zu erwerben, das den Möglichkeiten des Leitz-Mikroskops in nichts nachstehe (Bujwid 1885: 631 f.).
Ein Mikroskop musste also in seiner dreidimensionalen Form transferiert werden. Sein Status als technisches Ding, das standardisiert und industriell hergestellt wurde, war für den Erfolg seines Transfers zentral. Ganz ohne Papier an seiner Seite reiste ein solches Objekt jedoch nicht. Notwendig war, wie erwähnt, eine Anleitung, um das Mikroskop in Betrieb zu nehmen.Footnote 14 So referierte Bujwid denn auch ausführlich Kochs Anweisungen zu Belichtung, Linseneinstellung und zu verwendenden Immersionen.Footnote 15 Entscheidend war zudem, dass das Hartnack-Mikroskop nur dann den Möglichkeiten des Leitz-Modells entsprach, wenn, so Bujwid, die Immersion auf „II“ angepasst würde (ebd.: 632). Ohne eine derartige Anleitung hätte es sich bei dem Hartnack-Mikroskop nicht mehr um ein technisches Ding gehandelt. Denn funktionierte es nicht, müssten es seine Nutzer hinterfragen – es gegebenenfalls auseinanderbauen, neu zusammensetzen und umgestalten.
Robert Kochs bakteriologisches Labor umfasste weitere Instrumente, die gemeinsam mit papiernen Anleitungen als dreidimensionale Objekte nach Warschau reisen mussten. So zum Beispiel das Mikrotom, ein Gerät zum Schneiden sehr dünner Gewebestücke. Diejenigen, die heute am meisten in Gebrauch seien, könne man bei „Schanz“ in Leipzig oder bei „Katsch“ in München erwerben, informierte Bujwid seine Leser (ebd.: 693). Den von Koch entwickelten Brutschrank vertreibe die Firma „Rohrbeck“ für 20 Mark (ebd.: 781 f.).
Nach seiner Rückkehr aus Berlin im Herbst 1885 richtete sich Odo Bujwid mit den erworbenen Gerätschaften in seiner Wohnung in der Ulica Wilcza 12 ein bakteriologisches Labor ein. Dieses nutzte er nicht nur, um sich selbst weiter in bakteriologischen Techniken zu üben, sondern auch als Unterrichtsraum. Um auch anderen Warschauer Medizinstudenten und Ärzten die Möglichkeit zu geben, nicht nur vom bakteriologischen Labor zu lesen, sondern es selbst zu erleben, anzuschauen und anzufassen, lud Bujwid in seiner Wohnung zu privaten Vorträgen zur Bakteriologie ein. Ob Bujwids Schüler sich wie in Robert Kochs Bakteriologiekurs auch selbst in den bakteriologischen Arbeitsweisen versuchen durften, unter seiner Aufsicht Kulturen anlegen lernten und ihr Blick durch das Mikroskop geschult wurde, ist auf Grundlage der vorhandenen Quellen leider nicht zu rekonstruieren. Übungen im großen Stil wird Bujwid in seinem Einraumlabor in der Privatwohnung nicht durchgeführt haben können. Die hier gehaltenen Vorträge bildeten jedoch die Grundlage für seine bereits erwähnten Fünf Vorträge über Bakterien (Bujwid 1990: 7), die das bakteriologische Labor und seine Arbeitsweisen so ausführlich und detailliert beschrieben. Während seiner Vorlesungen im Labor konnte Bujwid seine Ausführungen vermutlich mit dem Zeigen von Instrumenten und Bakterienkulturen sowie eventuell dem Vorführen von Techniken unterstützen und so die Wirksamkeit seiner Aussagen verstärken.
Neben seiner Unterrichtstätigkeit fand Bujwid noch die Zeit, im Januar 1886 sein medizinisches Staatsexamen abzulegen. Danach gelang es ihm, Tytus Chałubiński zu überzeugen, ihm eine weitere Forschungsreise mit einem Stipendium der Mianowski-Stiftung zu finanzieren – dieses Mal nach Paris in das Labor Louis Pasteurs, wo er die Techniken der Tollwutimpfung erlernen wollte.
Die Mobilisierung der Pasteur’schen Tollwutimpfung
Bei der Mobilmachung der Tollwutimpfung benötigte Odo Bujwid mehr als ein Notizheft und technische Dinge als Transportmedien. Das soll im Folgenden genauer ausgeführt werden. Die Geschichte des Transfers dieser Impftechnologie aus Paris zeigt außerdem, wie umstritten und fragil das Wissen um Mikroben gegen Ende der 1880er Jahre in Europa war. Zunächst aber war der Pariser Forschungsaufenthalt für Bujwid – zumindest in der Rückschau – eine Begegnung mit dem schwelenden Konflikt zwischen Koch und Pasteur. Er geriet direkt in die Gefechtslinien.
Bujwid hatte bei Pasteur wegen eines Forschungsaufenthalts angefragt und die Antwort erhalten, er könne kommen, wann immer er wolle. Bujwid brach kurz nach Erhalt der Zusage auf und traf am 1. April 1886 in Paris ein. Nachdem er seinen alten Hut auf Anraten seines in Paris lebenden Cousins gegen einen echten französischen Zylinder eingetauscht hatte, wurde er bei Pasteurs Labor in der Rue d’Ulm Nr. 45 vorstellig (Bujwid 1937: 274). Anders als in Berlin erwartete ihn hier jedoch kein durchorganisierter Lehrgang in peinlich geordneten Räumlichkeiten, in denen jeder Schüler einen Laborarbeitsplatz zugewiesen bekam. Die Cours de microbiologie sollten erst nach der Eröffnung des Institut
Pasteur im Jahr 1888 eingeführt werden. Als Bujwid in der Rue d’Ulm ankam, sah er einen etwas untersetzten, mittelgroßen älteren Mann, der im Hof des Gebäudes Namen ausrief. Die slawischen konnte er nur mit großer Mühe aussprechen. Um ihn herum warteten zahlreiche Menschen unterschiedlicher Nationalität, die von einem tollwütigen Tier gebissen worden waren, auf die Verabreichung von Pasteurs Impfstoff. Im Gebäude selbst erblickte Bujwid drei kleine Zimmerchen, in denen die Assistenten des Instituts arbeiteten und das zehn Quadratmeter große Arbeitszimmer von Pasteur selbst. Der ältere Herr, der im Hof die Namen aufrief, entpuppte sich als der leibhaftige Louis Pasteur (ebd.: 257). Pasteur begegnete Bujwid trotz der ausgesprochenen Einladung zunächst mit großer Reserviertheit. Es gebe keinen Platz in der kleinen Einrichtung und er solle warten, bis es ein neues Institut gebe und offizielle Kurse angeboten würden (Bujwid 1886b: 484).
In seinen Erinnerungen an den Beginn seiner Karriere schrieb Bujwid 1937, Pasteur habe ihn als einen „von Koch“ eingestuft und sei deshalb misstrauisch gewesen: Als Bujwid der Entnahme von Hirnhaut eines tollwütigen Kaninchens beiwohnen durfte und ein Messer in einer Gasflamme „d’après Koch“ sterilisierte, habe sich Pasteur empört: „Vous, vous allemands, vous venez ici pour nous critiquer, pour nous corriger nos méthodes.“ Bujwids Versicherung, dass er nun wirklich kein Deutscher sei, hätten erst ihre Wirkung gezeigt, als er sich bereit erklärte, sich selbst der Tollwutimpfung zu unterziehen (Bujwid 1937: 257). Erst danach wies Pasteur einen Assistenten an, Bujwid mit dem notwendigen Material für seine Forschungen auszustatten. Dr. Jacques-Joseph Grancher (1843–1907), Professor für Kinderheilkunde an der Pariser Faculté de médecine und Pasteurs Mitarbeiter der ersten Stunde bei der Verabreichung des Tollwutimpfstoffes, stellte Bujwid einen Arbeitsplatz zur Verfügung (Bujwid 1886b: 484).
Bujwid konnte nun die Verfahren zur Herstellung von Tollwutimpfstoff und den Betrieb bei der Impfung über zwei Monate lang kennenlernen. An seinem eigenen Laborarbeitsplatz hoffte er, den Tollwuterreger in Reinkultur züchten zu können. Woran Pasteur und seine Mitarbeiter bisher gescheitert waren, glaubte er – vergeblich wie sich später herausstellen sollte – mit Hilfe der bei Koch erlernten Methode des festen Nährbodens schaffen zu können. Denn genau das war der Punkt, an dem Bakteriologen in Europa entweder tüftelten oder den sie als Grundlage für Zweifel und Kritik an Pasteurs Tollwutimpfung äußerten. Das eigentliche Programm der Bakteriologen, das die Verbindung zwischen Bakterium und Krankheit eindeutig herstellen sollte, konnte hier nicht vollzogen werden: Der Tollwuterreger war bisher nirgendwo in Reinkultur gezüchtet und visualisiert worden. So gab es Stimmen aus Deutschland und Österreich, die die Impfung als gefährlich einschätzten, und es zirkulierten Daten, die eine Todesrate von bis zu 15 Prozent bei den in Paris geimpften Patienten postulierten. Auch Koch äußerte gegenüber Bujwid große Bedenken sowohl an der Ungefährlichkeit des Mittels als auch an der Tatsache, ob es überhaupt Tollwuterreger waren, die Pasteur da zu einem Impfstoff verarbeitete. Um genau dies zu verifizieren, statteten zeitgleich mit Bujwid auch Wissenschaftler aus vielen anderen Ländern Pasteurs Labor einen Besuch ab (Bujwid 1886a: 600 f.).
Wie funktionierte Pasteurs bakteriologisches Labor in Konfrontation mit einer Krankheit, die sich eigentlich einer bakteriologischen Definition entzog? Bujwid referierte die „Metoda Pasteur’a“ in der Gazeta Lekarska von 1887: Es waren standardisierte klinische Symptome und eine eindeutig definierte Inkubationszeit, die an Stelle eines identifizierten und visualisierten Bakteriums die Tollwutkrankheit im Labor repräsentierten. Pasteur hatte zahlreichen Kaninchen die Hirnhaut eines tollwütigen Hundes injiziert und dabei eine durchschnittliche Inkubationszeit von 15 bis 18 Tagen festgestellt. In einem nächsten Schritt hatte er infiziertes Material (ein Stück Hirnrinde eines der tollwutkranken Kaninchen) über drei Jahre mittels Trepanation jeweils einem anderen Kaninchen zugeführt – im Jahr 1886 war er bei Generation 150 angekommen. Bereits nach einigen zehn Umimpfungen hatte sich die Inkubationszeit auf zehn Tage eingependelt, was auch in den Folgegenerationen nicht wesentlich unterschritten wurde. Infiziertes Material eines Kaninchens, das bei Verimpfung Tollwutsymptome nach zehn Tagen auslöste, nannte Pasteur den virus fixe. So konnte die Krankheit zwar nicht auf eine immer wieder zu findende Mikrobe im tollwutkranken Organismus reduziert werden, aber immerhin auf ein Stück Kaninchenhirnhaut. Auf dem virus
fixe-Kaninchen beruhte dann auch die Pasteur‘sche Methode der Impfstoffherstellung. Einem solchen Kaninchen wurde Rückenmark entnommen, das 14 Tage lang getrocknet wurde und dabei seine tödliche Wirkung verlor. Das abgeschwächte Material wurde dann einer von einem tollwütigen Tier gebissenen Person geimpft. Über einen bestimmten Zeitraum wurde das Kaninchenmaterial in immer frischerem Zustand als Impfstoff verabreicht, wodurch der Körper immunisiert wurde (Bujwid 1887a: 716).
In Wien hatte Professor Frisch die von Pasteur postulierte stabile Inkubationszeit des virus fixe geprüft und war zu abweichenden Ergebnissen gekommen, die in der Gazeta
Lekarska ebenfalls referiert wurden (Arnstein 1886, Mayzel 1887). In seinen Versuchen variierte die Zeit bis zur Erkrankung und schließlich zum Todesfall der Versuchstiere zwischen zwei und zwölf Tagen! Pasteurs Labortechniken und seine standardisierte Tollwut wiesen also außerhalb des Pariser Labors eine recht große Fragilität auf. Es war offensichtlich nicht leicht, es „unveränderlich mobil“ zu machen. Bujwid ließen Frischs Ergebnisse und auch andere kritische Stimmen jedoch keinesfalls an der Methode Pasteurs zweifeln. Entweder habe Frisch die Laborarbeiten nicht korrekt ausgeführt oder aber das von ihm verimpfte Material sei nicht wirklich tollwütig gewesen – so nahm er an (Bujwid 1887a: 718). Wie konnte er vermeiden, dass ihn nach seiner Rückkehr in seinem Warschauer Labor das gleiche Schicksal ereilte? Wie sollte er einen standardisierten Tollwutstamm erhalten, auf dessen Grundlage er den Impfstoff produzieren konnte? Musste er zunächst das gesamte Pasteur’sche Procedere wiederholen und ausgehend von einer „rage des rues“ Hunderte von Kaninchen impfen? Und wer garantierte, dass das Tollwutmaterial eines Warschauer Straßenhundes schließlich auch zu der gleichen stabilen Inkubationszeit von zehn Tagen führte wie das eines Pariser Hundes? Die Lösung war eine andere. Bujwid schildert sie in einem weiteren Bericht über seinen Pariser Aufenthalt folgendermaßen:
Am 6. Juni dieses Jahres nach zweimonatigem Aufenthalt in Paris und Studien über die Tollwut und nachdem ich ein Kaninchen erhalten hatte, das mit der 115. Generation des Tollwutstammes frisch geimpft worden war, verabschiedete ich mich von Pasteur. Ebenso geimpfte Kaninchen erhielten einige andere Ärzte, um damit weitere Forschungen durchführen und Impfstoff herstellen zu können, und zwar die ‚englische Kommission‘ aus London, Dr. Valentine Mott aus New York, Emmerich Ullmann aus Wien, Unkowskij aus Moskau, Gamaleja aus Odessa, Parszenskij und Iwanow aus Samara. (Bujwid 1886a: 600)
All diese Herren reisten also mit einem frisch mit Tollwut geimpften Kaninchen im Gepäck von Paris aus in ihre Heimatstädte in aller Welt zurück. Wie bei dem Mikroskop von Leitz handelte es sich beim Pasteur‘schen virus fixe um ein nicht-inskribiertes Objekt. Nur gemeinsam mit seinem Wirtstier konnte er reisen, um an einem anderen Ort in der Pasteur‘schen Methode eingesetzt zu werden. Allerdings war dieses Objekt keines, das die Industrie in standardisierter Form herstellte, so dass Bujwid es einfach in Warschau hätte kaufen können. Das Kaninchen musste deshalb gemeinsam mit dem polnischen Bakteriologen die Eisenbahn von Paris nach Warschau nehmen. Das Zitat weist außerdem darauf hin, dass die Entsendung von Kaninchen in alle Welt von Pasteur und seinen Mitarbeitern durchaus befördert wurde. Die Funktionsfähigkeit und Ungefährlichkeit des Tollwutimpfstoffes sollte durch seine erfolgreiche Reproduktion an möglichst vielen Orten bewiesen werden (Moulin 1992: 309). Ohne reisende Kaninchen war dies nicht möglich.
Neben den zirkulierenden infizierten Kaninchen, die dem Pasteur’schen Labornetzwerk der Tollwutimpfung zu seiner Stabilisierung außerhalb der Pariser Labormauern verhelfen sollten, griffen Pasteur und ebenso in Warschau Bujwid auch auf eine klassische Form der Inskription zurück – die Statistik. Auch hier spielten nicht-inskribierte und inskribierte immutable mobiles also zusammen. Um die kursierenden Informationen über eine erschreckend hohe Anzahl von Todesfällen nach Tollwutimpfungen zu widerlegen, hängte Bujwid seinen Ausführungen über die Methode Pasteurs in der Gazeta Lekarska umfangreiches Tabellenmaterial an. Hier präsentierte er zunächst zusammenfassende Darstellungen, die die geringen Todesraten bei der Tollwutbehandlung in Paris, St. Petersburg, Moskau, Odessa, Samara, Wien und Neapel rechnerisch nachvollziehbar machten. Für Warschau konnte Bujwid auf nur fünf Todesfälle bei 280 Behandlungen innerhalb eines halben Jahres verweisen. Darüber hinaus enthielten seine Ausführungen aber auch eine detaillierte Tabelle, die jede einzelne behandelte Person aufführte. Die zentrale Kategorie, die hier offengelegt werden sollte, war der Krankheitsstatus des Tiers, das den Patienten gebissen hatte. Auch hier zeigte sich, dass die Krankheit Tollwut für die Bakteriologen eine fragile Kategorie war. Obwohl Tollwut nicht bakteriologisch diagnostiziert werden konnte, musste die Krankheit bei einem Tier möglichst eindeutig festgestellt werden können, um die Wirkkraft des Impfstoffs zu beweisen. Sonst hätte die Genesung mit der Heilung von einer gänzlich anderen Krankheit verwechselt werden können. So war Bujwid stolz darauf, bei seinen Patienten davon ausgehen zu können, dass in 80 Prozent der Fälle tatsächlich der Biss eines tollwütigen Tieres vorlag. In diesen Fällen war die Krankheit entweder durch das Verimpfen von infiziertem Material des Tieres in ein Kaninchen festgestellt worden, durch eine Sektion oder auf Grund von eindeutigen Symptomen. Bujwids Berichte ließen also keine Zweifel aufkommen: Die Pasteur‘sche Methode der Tollwutimpfung funktionierte.
Auch der Warschauer Stadtrat ließ sich davon überzeugen und stellte Bujwid Betten im Krankenhaus Wola zur Verfügung. Dort konnte er seine von außerhalb anreisenden Patienten unterbringen. Außerdem war der Rat bereit, die Behandlungskosten von 15 Rubeln pro Patient zu übernehmen (Bujwid 1887a: 827). Bujwid konnte davon profitieren, dass die Gesundheitspflege in Warschau im Aufgabengebiet der städtischen Verwaltung angesiedelt war und Ausgaben in diesem Bereich von ihr erwartet wurden. Der Warschauer Stadtrat war seit Ende der 1870er Jahre angesichts einer stark wachsenden Bevölkerungszahl in Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege ausgesprochen aktiv gewesen. 1886 wurde beispielsweise ein Kanalisationssystem in Warschau fertiggestellt und die Trinkwasserzufuhr war modernisiert worden. Dies war insbesondere der Warschauer Hygienebewegung zu verdanken, die dafür gesorgt hatte, dass Hygiene in der Stadt ein politisch relevantes Thema wurde und blieb. Die Aktivitäten der Hygienebewegung waren dabei auch national motiviert. Die polnische Nation sollte durch gesunde polnische Bürgerinnen und Bürger gestärkt werden (Caumanns 2000: 49–51).
Bujwids Labor konnte in diesem Umfeld florieren. Er gab ihm den Namen Zakład Pasteurowski (Pasteur-Institut) und konnte es bald aus seiner Privatwohnung in eigene Räumlichkeiten verlegen. Einen wesentlichen Beitrag zum Erfolg des Labors leistete auch Bujwids Ehefrau Kazimiera, die als umsonst arbeitende Kraft zentrale Laborarbeiten übernahm. Neben seiner Labor- und Impftätigkeit wurde Bujwid zu Vorträgen eingeladen und inszenierte sich in Warschau ausgesprochen erfolgreich als Missionar der neuen Lehre von den Bakterien (Bujwid 1990).Footnote 16
Voraussetzung für seinen Erfolg war, dass er es geschafft hatte, die zentralen Elemente der Labornetzwerke von Robert Koch und Louis Pasteur „unveränderlich mobil“ zu machen. Die dafür notwendigen Transportmedien umfassten neben Papier als Träger von (literarischen) Inskriptionen auch dreidimensionale Objekte wie technische Dinge oder Labortiere für solche Elemente, die sich als nicht-inskribierbar herausstellten.
Bereits die Geschichte des Mikroskops von Leitz, das es in Warschau nicht zu kaufen gab, deutet jedoch an, dass der Transport nicht spurlos an den Labornetzwerken vorüberging. Damit es unbeschadet in Warschau ankam, musste es sich als relativ strapazierfähig erweisen und zum Beispiel auch mit einem Hartnack-Mikroskop und modifizierter Immersion funktionieren. Noch sehr viel größere Resistenz war nötig, wenn bakteriologische Praktiken nicht von einem für die Forschung glühenden Mediziner wie Bujwid adaptiert wurden, der in der Metropole Warschau zudem Mikroskope und weiteres Labormaterial einfach im nächsten Fachhandel erstehen konnte. In Settings, in denen praktisch arbeitende Ärzte, die eventuell sogar auf dem Land tätig waren, sich der Bakteriologie bedienen wollten, wurde das bakteriologische Labornetzwerk destabilisiert und musste eine noch größere Flexibilität aufweisen, um nicht zu zerbrechen.