Axel C. Hüntelmann 2011: Paul Ehrlich. Leben, Forschung, Ökonomien, Netzwerke. Göttingen: Wallstein Verlag, 360 S., geb. 29,90 €, ISBN-13: 978-3-8353-0867-1.

Paul Ehrlich (1854–1915) wurde schon zu Lebzeiten als Fürst der Wissenschaft gefeiert und mit Ehrungen überhäuft. Seine experimentellen und theoretischen Studien bewegten sich an der Schnittstelle von Medizin, Chemie und Biologie und umspannten neben der Immunologie, Serologie und Hämatologie so disparate Wissensfelder wie die Farbenchemie, Histologie, Krebsforschung und Chemotherapie. Mit der Markteinführung des Salvarsans, dem ersten wirksamen Chemotherapeutikum, gelang Ehrlich 1910 ein veritabler Coup. 1908 erhielt er in Anerkennung seiner immunologischen Arbeiten, namentlich zur Wertbestimmung von Heilseren, den Nobelpreis für Medizin.

Wie hat Ehrlich dies alles geschafft und wurde so erfolgreich? Ältere Biographien verweisen auf Ehrlichs Genialität und projizieren das Bild eines selbstlosen Wohltäters, dessen Leben geradlinig auf die Schöpfung der Chemotherapie hinauslief. Axel Hüntelmann hinterfragt mit seiner neuen Biographie diese Narrative und Deutungen.

Der erste Teil des Buches widmet sich den biographischen Stationen Ehrlichs, wobei Privatleben, institutioneller Parcours und wissenschaftliches Werk miteinander verwoben werden. Hüntelmann räumt gekonnt mit zwei Deutungen älterer Biographen auf. Zum einen deckt er das angeblich seit Kindesbeinen augenfällige Talent Ehrlichs für die Chemie als retrospektive Legendenbildung auf. Zum anderen weist er den vermeintlich von Anbeginn an verfolgten Masterplan Ehrlichs für eine Chemotherapie der Syphilis als Fiktion zurück. Seine Ideen und Forschungsfelder erschlossen sich Ehrlich sukzessive über die Bearbeitung spezieller Probleme, sie veränderten sich immer wieder aufgrund spezifischer Lebenskonstellationen und institutioneller Einbettungen, lagen manchmal brach und wurden erst Jahre später weiterentwickelt. Auch seine Karriere verlief nicht ohne Hürden und Umwege. Tatsächlich stellte sich der wissenschaftliche Erfolg Ehrlichs, der als jüdischer Mediziner mit transdisziplinären Interessen kaum Aussicht auf eine universitäre Laufbahn hatte, erst 1896 nach seiner Ernennung zum Leiter des Instituts für Serumforschung und Serumprüfung in Steglitz und später zum Direktor des Instituts für experimentelle Therapie in Frankfurt am Main ein.

Im zweiten Teil geht es um Ehrlichs Forschungspraxis, Arbeitsorganisation und Netzwerke. Überzeugend legt Hüntelmann dar, wie Ehrlich mit Hilfe von Kopierbüchern, Blöcken und Laborbüchern eine rationelle, arbeitsteilige Organisation und Verwaltung seiner Mitarbeiter installierte. Ebenso produktiv war seine Korrespondenz mit Wissenschaftlern, Behörden und Industrie, die einer Tauschbörse für Separatdrucke, Farbstoffe, Versuchstiere und Bakterienkulturen gleichkam. Hier wird deutlich, dass Ehrlich ab Mitte der 1890er Jahre kaum mehr selbst im Labor forschte, sondern Wissenschaft „orchestrierte“ (S. 318). Indem er seine Netzwerke zu Behörden, Industrie, Mäzenen und Wissenschaftlern mit viel Geschick und sozialer Kompetenz verdichtete und überlagerte, schuf er ein starkes Geflecht, das ihn stützte und schützte.

Klärungsbedarf besteht im Hinblick auf zwei Punkte. Erstens will Hüntelmann nicht in die Falle älterer Biographien tappen, die Ehrlichs Leben begradigen und umdeuten – Leben und Alltag sollen lediglich „gespiegelt“ werden (S. 13). Dass Hüntelmann indes mit Untersuchungskategorien operiert, die sich an aktuelle Konjunkturen der Wissenschaftsgeschichte anlehnen und keineswegs „Spiegelungen“, sondern kontingente, kategorial geprägte Lesarten von Ehrlichs Leben produzieren, thematisiert er nicht. So fällt es nicht schwer, Parallelen zwischen seinen analytischen Foci und neueren Arbeiten zur Arbeitsorganisation und den Netzwerken in der frühen Biomedizin zu ziehen (wie zu Helga Satzingers Buch Differenz und Vererbung und Heiner Fangeraus Spinning the Scientific Web). Dies bleibt jedoch implizit.

Zweitens stellt sich die grundlegende Frage, an wen sich die Biographie richtet. Für ein breites Publikum wird Ehrlichs Werk mitunter zu voraussetzungsreich dargestellt. Für die scientific community wiederum bedürfte es einer expliziten Diskussion und Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur ebenso wie mit den zugrundeliegenden Ansätzen der Wissenschaftsgeschichte. Dass Hüntelmann dies unterlässt, ist bedauerlich, vergibt er damit doch die Chance, seine zweifellos großen Verdienste zu akzentuieren. Womöglich rührt die Unschärfe bezüglich der anvisierten Leserschaft auch daher, dass das Buch in einem spezifischen Setting entstanden ist. Wie der Autor im abschließenden Dank erwähnt, wurde die Biographie von der Paul-Ehrlich-Stiftung finanziert. Gut möglich, dass die Stiftung ein größeres Publikum ansprechen wollte und daher gewisse Konzessionen an die fachwissenschaftliche Auseinandersetzung gemacht werden mussten. Mehr Transparenz bezüglich Adressatenkreis und Entstehungskontext in der Einleitung hätten solche Spekulationen hinfällig gemacht und dem Buch ein klareres Profil verliehen.

Trotz dieser Kritikpunkte: Axel Hüntelmann hat eine kluge, sorgfältig recherchierte und gut lesbare Biographie vorgelegt. Das Bild, das er vom Menschen und Forscher Paul Ehrlich zeichnet, ist dicht und nuanciert. Sein besonderes Verdienst ist es, Ehrlichs Erfolg mit dem Knüpfen, Ausbauen und Überlagern von Netzwerken in Verbindung zu setzen. Zentral war dabei seine vollendete Orchestrierung multipler Netzwerke, die auf einer effizienten Organisation und Verwaltung von Mitarbeitern, Versuchstieren, Literatur, Materialien und Substanzen fußte. Paul Ehrlich, der Wissenschaftsorganisator – auch so hätte Hüntelmanns Biographie betitelt werden können.

Silvia Berger, Zürich

Janina Wellmann 2010: Die Form des Werdens. Eine Kulturgeschichte der Embryologie, 1760–1830. Göttingen: Wallstein [= Wissenschaftsgeschichte], brosch., 429 S., 39,90 €, ISBN-13: 978-3-83530-594-6.

In der jüngeren Wissenschaftsgeschichte lässt sich ein wachsendes Interesse an disziplinübergreifenden, historisch spezifischen Organisationsprinzipien des Wissens beobachten. Als besonders ergiebig erweist sich dabei die Arbeit mit Figuren, an denen sich die Herausbildung neuer Konstellationen des Denkens parallel in verschiedenen Wissensbereichen rekonstruieren lässt. Als Denkfiguren, als Figuren des Wissens oder als epistemische Figuren bezeichnet, sind sie durch die Funktion charakterisiert, auf einer der Begriffsbildung vorgängigen Ebene abstrakte Relationen in unterschiedlichen Wissensbereichen auf eine neue Weise denk- und vorstellbar zu machen.

Mit der Rekonstruktion des Rhythmus als einer um 1800 wirkmächtigen epistemischen Figur zur Strukturierung von Zeit zeigt Janina Wellmanns differenziert argumentierende und kulturgeschichtlich versierte Monographie auf exemplarische Weise die Bedeutung eines solchen Ansatzes für die Wissenschaftsgeschichte. Auf der Basis dieser Figur gelingt ihr in diesem für die Wissenschaftshistoriographie der Embryologie und der Biologie wichtigen Buch eine Neuperspektivierung des Entwicklungsgedankens und, darüber hinausgehend, eine grundlegende Kritik an der weithin akzeptierten Theorie einer Verzeitlichung und Dynamisierung der Natur um 1800, wie sie unter anderen von Michel Foucault und Wolf Lepenies entwickelt wurde.

Ein Verdienst dieser Arbeit besteht in der überzeugenden Herausstellung der vielfältigen Manifestationsformen der rhythmischen Episteme sowohl in zentralen Texten zur Theorie der schönen Künste – etwa zur Poetik und Autonomieästhetik (Moritz, Hölderlin, Novalis), zur Musikästhetik (Forkel, Kirnberger, Sulzer) und zur Natur- und Kunstphilosophie (Schelling) – als auch in den Texten der biologischen Wissenschaften, die sich mit der Frage nach der Entwicklung und der Organisation des Lebendigen unter den Bedingungen ihres ständigen Wandels auseinandersetzen (Wolffs Theorie der Epigenesis, Goethes Metamorphosenlehre und die Physiologie um 1800). Anhand dieses reichhaltigen Quellenmaterials kann Wellmann überzeugend darlegen, dass sich mit der Episteme des Rhythmus als „Form des Werdens“ eine neue Figur zur Ordnung von Zeit herausbildete, mit der die Entstehung von Kunstwerken und Organismen als ein durch innere, rhythmische Gesetzmäßigkeiten geregelter Bildungsprozess gedacht werden konnte. Entscheidend für die neue Denkweise war, dass zeitliche Abläufe – in lebenden Organismen und einer sich am Organischen orientierenden Ästhetik – nicht als chronologischer, teleologisch ausgerichteter Fluss entlang einer Zeitachse, sondern rhythmisch, als regelgeleiteter Wechsel von Wiederholung und Variation, Bewegung und Ruhe, Bildung und Umbildung vorgestellt wurden. Auf der abstraktesten Ebene wurde mit der rhythmischen Episteme eine „Relation von Zeit, die gleichwohl nicht in Zeiteinheiten gemessen wurde“ (S. 374) denkbar.

Im Hinblick auf ihr zentrales Anliegen, den epistemologischen Beitrag der rhythmischen Episteme zur Entstehung der auch in der heutigen Embryologie noch gültigen Theorie der Epigenese aufzuzeigen, beschränkt sich Wellmann nicht auf eine Diskursanlyse von Texten. Eine weitere Stärke dieser Studie liegt in der akribischen Analyse der Zeichnungen zur Darstellung embryonaler Entwicklung, die historische Bildtraditionen unterschiedlicher Wissensbereiche einbezieht. So wird in einer spannend zu lesenden und anhand der reichhaltigen Abbildungen gut nachvollziehbaren Bildanalyse plausibel nachgewiesen, dass der „Übergang von einer bildlichen Tradition“, die Wellmann als eine chronologische bezeichnet, hin zur Bilderserie der „epigenetischen Ikonographie“ „durch die Verwendung rhythmischer Entwicklungssequenzen gekennzeichnet ist“ (S. 36).

Bereits für die Haller-Wolff-Debatte im 18. Jahrhundert zeigt sie, dass Bilder in der Entwicklungstheorie der Präformation und der Epigenese einen fundamental anderen Stellenwert hatten: Albrecht von Haller verwendete sie fast ausschließlich in seinen Notizbüchern, wo sie ihm als Sehhilfe dienten, als mimetische Wiedergabe des im Mikroskop zu einem bestimmten Zeitpunkt der Embryonalentwicklung Gesehenen. Mit Caspar Friedrich Wolff wurden die Bilder hingegen zum theoretischen Argument und damit zum wesentlichen Bestandteil der Veröffentlichung. Entscheidend für den Funktionswandel der Bilder war Wolffs neue ikonographische Darstellungsweise, die es ermöglichte, die allmähliche Herausbildung von Strukturen aus der flüssigen Masse des Keims im Bild sichtbar zu machen, „die Formwerdung der beobachteten Strukturen in die Darstellung der beobachteten Formen hineinzuholen“ (S. 293). Detailliert verfolgt Wellmann anhand der Arbeiten von Ignaz Döllinger und seinen Schülern, den Gründungsvätern der modernen Embryologie Christian Heinrich Pander und Karl Ernst von Baer, die Weiterentwicklung dieser epigenetischen Ikonographie bis zur heute noch üblichen Entwicklungsserie. Deutlich wird dabei nicht nur der Beitrag der rhythmischen Episteme zur Wahrnehmung der mannigfaltigen Veränderungen des Embryos als geregelte Ordnung dreidimensionaler Umbildungen, sondern auch die enorme Konstruktionsleistung der Bilder selbst: im Hinblick auf ihre Relationen untereinander ebenso wie auf ihre zunehmend schematisierte Darstellungsform.

Caroline Welsh, Berlin/Erlangen