Andrew Pickering 2010: The Cybernetic Brain. Sketches of Another Future, Chicago: Chicago University Press, geb., 526 S., 42,99 €, ISBN-13: 978-0-22666-789-8.

Schon die Aufsatzsammlung Kybernetik und Neue Ontologien, die 2007 im Berliner Merve Verlag herauskam (Rezension in NTM 16 (2008), 515-518), hat Andrew Pickering als Kenner der britischen Kybernetiker und ihrer merkwürdigen Maschinenmodelle ausgewiesen. Jetzt ist aus diesem Projekt eine Monographie hervorgegangen, mit der der Autor seine in Mangle of Practice 1995 begonnene epistemologische Debatte fortsetzt, indem er die Kybernetikgeschichte mit seinem in den Neuen Ontologien skizzierten theoretischen Programm einer Auseinandersetzung über die Wirklichkeitskonstruktion durch Wissenschaft und Technik verschränkt. Aber trotz Pickerings sicherem Gespür für die oft skurrilen Exzentrizitäten seiner Helden, einer wunderbaren Materialfülle mit geradezu überbordenden Details und einem über alle Umwege klar durchgehaltenen Erzählstrang kann das Ergebnis nur bedingt als eine Einlösung dieses anspruchsvollen programmatischen Versprechens bezeichnet werden.

Ohne Zweifel handelt es sich um ein ausgesprochen lesenswertes Buch, das anhand der vier zentralen Figuren Grey Walter, Ross Ashby, Stafford Beer und Gordon Pask eine in der Diskussion der Kybernetik bisher viel zu wenig reflektierte (britische) Linie utopisch-explorierenden Bastelns umfassend rekonstruiert und damit einen wichtigen Beitrag zur Zeit- und Geistesgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg leistet: Vom Automatenbau über die psychiatrische Therapie, Kunst und Architektur bis zur chilenischen Revolution nutzt Pickering die disparaten Spielorte britischer Kybernetik versiert als Relaisstationen seiner politisch-epistemologischen Agenda in der aktuellen Wissenschafts- und Technikforschung. Denn hier findet Pickering ein Projekt neuer Ontologien vorformuliert, dessen Zeit und Potential er noch kommen sieht. Es handelt sich also um ein engagiertes Buch – und deshalb ist es geradezu schmerzlich, wie Pickering zwar nicht an seinen Ansprüchen scheitert, aber das Programm in der Durcharbeitung unterläuft.

Auf Pickerings Agenda steht eine theoretische Neujustierung von Wissenschaftsphilosophie und Erkenntnistheorie: weg von Wissen und Repräsentation, hin zu Anpassung, Prozess und Performanz. Schon in Mangle of Practice hatte er auf einer Mitautorschaft der Dinge in einer Welt im Werden insistiert, wonach gerade wissenschaftliche Entwicklungen sich in nicht antizipierbaren „dances of agency“ entfalteten. Damals habe er seine Einsicht noch als eine „theory of everything“ (S. 406) aufgefasst und sei damit gewissermaßen auf halben Wege steckengeblieben, urteilt Pickering nun selbstkritisch. Denn wie ihn inzwischen die britischen Kybernetiker überzeugt hätten, sei diese Theorie selbst noch dem alten epistemologischen Schema verhaftet geblieben und könne erst durch neue Ontologien (genauer: durch ein „ontological theatre“) überwunden werden (S. 21). Bei aller Nähe seines Ansatzes etwa zum Widerstandsaviso eines offenbar nur im deutschen Sprachraum vertrauten Ludwik Fleck (den Pickering nicht nennt) oder zur performance-Debatte und den material culture studies oder auch zur neuen Kulturgeschichte des Wissens (obwohl „knowledge“ bei Pickerung regelrecht als Abstoßungswort einer verfehlten Epistemologie fungiert), wird man den Eindruck nicht los, dass Pickering mit dem „theatre“ erneut eine heikle Metapher gewählt hat: Konnte schon das zwar theoretisch unterkomplexe, aber immerhin im Englischen als Metapher starke Bild der Mangel sich im Deutschen der Lautgleichheit mit dem Mangel kaum entziehen, so wird sich jetzt der Verdacht aufdrängen, für Pickering sei alles bloß Theater. Aber ganz im Gegenteil will Pickering von fixierten Repräsentationen, starren Theorien oder bloßen Bildern zurück zu den Dingen in ihrer variablen, komplexen Vielfalt. Deshalb sucht er nach dynamischen Formen des Wissens, die sich im Handeln dadurch bewähren, dass sie Anpassung an Veränderlichkeit, Komplexität und Nichtwissen erlauben.

Geistesgeschichtlich knüpft Pickering dabei an William James, Gilles Deleuze, Isabelle Stengers und vor allem Martin Heidegger an, dessen Unterscheidung von Stellen und Entbergen ihm das Modell für den Übergang von Repräsentation zu Performanz beziehungsweise von einer Epistemologie zur Ontologie liefert. Im Unterschied zu Heideggers Rückkehr zu den Griechen erträumt er sich jedoch eine Wiederaneignung der counterculture der 1960er Jahre; nicht die Unverborgenheit des Seins, sondern das offene Ausprobieren. Dass es hier um mehr als Selbstversuche oder intellektuelle Glasperlenspiele geht, hatte Pickering bereits vor den Verwüstungen durch den Wirbelsturm Katrina in einem anderen Text am Beispiel des Mississippi verdeutlicht: Die Kanalisierung des Flusses war unter dem Imperativ einer wissenschaftlich-technischen Beherrschbarkeit von Natur den von ihr produzierten Folgezuständen nicht gewachsen, so argumentierte Pickering dort, weil diese epistemologische Ordnung für ihre eigenen Effekte blind blieb. Angesichts der nun eingetretenen Katastrophe zitiert er (S. 32) seinen früheren Aufsatz als Beleg für die Notwendigkeit einer neuen, dynamischen Ontologie.

Die große Stärke von Pickerings Buch liegt in der Art und Weise, wie er die Ansätze zu neuen Ontologien in den verschiedenen Projekten der britischen Kybernetiker freilegt. Im Leitmotiv der Konstruktion von Automaten, das alle vier Hauptfiguren eint, sieht Pickering nämlich nicht einfach verschiedene Exemplifikationen einer Maschinentheorie. Vielmehr begreift er sie als konkretes Denken und Basteln mithilfe solcher Apparate, wofür Grey Walter mit seinen berühmten Schildkröten die Urszene liefert: Sie sind Rückkopplungsmaschinen wie Norbert Wieners Anti-Aircraft Predictor, aber sie dienten Walter gerade nicht – und dies ist der entscheidende Punkt für die gesamte folgende Analyse – der Vorhersage komplexen Verhaltens und damit der Beherrschbarkeit der Welt durch ihre Einteilung in Freund und Feind, sondern sie demonstrierten komplexes Verhalten trotz ihrer vergleichweise einfach programmierten Steuerung. Mit ihren gleichwohl unvorhersehbaren Bewegungsbahnen führen sie die konkrete Mannigfaltigkeit der Welt vor Augen und bieten somit ein Modell für komplexes Handeln durch Reaktion und Anpassung. In ähnlicher Weise stellt Pickering auch die Deutung von Ashbys Homeostat vom Kopf auf die Füße und liefert mit dieser ebenso rasanten wie überzeugenden Neubewertung auf der Basis einer sorgfältigen Analyse gerade auch der unveröffentlichten Aufzeichnungen Ashbys das Glanzstück seiner Studie zum britischen Sonderweg der Kybernetik. Ashbys Apparate realisierten „Ultrastabilität“, aber nicht als exzessiv gesteigerte Kontrolle, sondern als Resultat einer autonomen Suche nach neuen Gleichgewichten jenseits prästabilisierter Harmonien und inmitten radikal unbekannter Umwelten. In Design for a Brain beziehungsweise mit dem Dispersive And Multistable System (DAMS)-Projekt eines synthetischen Gehirns entwarf Ashby anstelle eines logisch kalkulierenden problemsolver eine allgemeine Maschine, die ihr Funktionieren allein dadurch sicherte, dass sie die Welt radikal als ein Arrangement von black boxes konzipierte und zum bloßen Input eines automatischen Algorithmus der Antwortvariation machte. Das DAMS sollte eine Art Anti-Turingmaschine werden (wie man mit Deleuze und Guattari sagen könnte), die als selbst organisierender Prozessor ohne vorgefertigte Problemdefinitionen auskommt. Sie liefert Pickering damit ein gutes Beispiel für seine „performative epistemology“ inmitten einer „ontology of unknowability“ (S. 23 f., 151-155). Dabei verschweigt Pickering übrigens keineswegs, dass Ashby das DAMS nicht realisieren konnte und obendrein wie auch Walter zu den Exponenten einer typisch interventionistischen Moderne gehörte, die beispielsweise entschieden für die invasiven psychiatrischen Verfahren wie Elektroschock, Lobotomie und Brainwashing fochten (von Ashby gar als therapeutischer „Blitzkrieg“ zusammengefasst).

Umso strahlender heben sich bei Pickering deshalb Beer und Pask als Vertreter einer zweiten Generation britischer Kybernetiker ab. Beer stieg mit seinen kybernetischen Adaptationsmaschinen zum so erfolgreichen Unternehmensberater auf, dass er von Salvador Allende mit der Reform der Wirtschaft im revolutionären Chile als Anwendungsfall seiner Selbstorganisationstechnik beauftragt wurde, und startete dann – nach dem chilenischen Militärputsch – eine zweite Karriere als Yoga-Guru mit einer Einsiedelei in Wales (Pickering lässt sich von Beer vertrauensselig bis an die Pforten höherer östlicher Weisheiten leiten). Beers Freund Pask hingegen gelang es, sich als Erfinder von Lernmaschinen einen so klingenden Namen zu machen, dass seine Apparate gleich auch noch als Kunstobjekte und Architekturprogramme durchgingen. Pickering folgt in beiden Kapiteln vor allem publizierten Schriften, aber auch hier gelingen ihm faszinierende Porträts. Das verdankt er den schillernden Projekten, die er geschickt für seine andere Geschichte der Kybernetik nutzt. Jenseits der bekannten Fluchtlinie Informationstheorie – Kybernetik zweiter Ordnung – Systemtheorie stößt Pickering so in Landschaften unbekannter Dinge vor, findet einen Teich rechnender Algen, trifft wandernde rote oder gelbe Lampen in einer Kunstausstellung und sieht im Fun Palace von Cedric Price den nie gebauten Ort offener Debatten.

Auf diese Weise führt Pickering anhand seiner speziellen, sehr „eigene[n] Geschichte der Kybernetik in Großbritannien“ (S. 4) eindringlich vor Augen, dass Kybernetik vieles anderes als Kriegsforschung im militärisch-industriellen Komplex mit Kontrollvisionen à la Big Brother war. Beim Lesen verdichtet sich allerdings die anfängliche Skepsis, ob eine historische Analyse zugleich als Zukunftsmanifest taugt, als Kritik an der historischen Arbeit: Zu oft begnügt sich Pickering mit romantischen Holzschnitten, die um den Preis historischer Differenzierung ein nur wenig überzeugendes Schema von der Kybernetik als großer, aber marginalisierter und nie institutionell verankerter Alternative aufrufen soll. Ungeachtet dessen, dass Walter seine Schildkröten beim Festival of Britain der ganzen Nation vorstellte und mit The Living Brain einen Bestseller schrieb, der sogar in die Taschenbuchauflage ging, Ashby regelmäßiger Teilnehmer der Macy-Konferenzen war und wie Walter zur international ersten Garde der Kybernetiker gehörte, und obwohl Beers Erfolg sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer und später esoterischer Hinsicht immer im globalen Maßstab zu messen war, soll diese Kybernetik eine nomadische Wissenschaft noch ohne feste Wohnstatt sein? Zwar hat keiner von Pickerings Helden einen Nobelpreis bekommen, und trotz kaum zu überschätzender Breitenwirkung ist aus der Kybernetik auch nicht jene universale Grundlagenwissenschaft geworden, die Pickering sich heute als fächerübergreifendes Eingangscurriculum im Hochschulstudium wünscht, aber das beweist vor allem, dass die Kybernetik zwingt, eben jene Stereotype im Verständnis von Wissen, Wissenschaft und Wirkung zu überwinden, mit denen Pickering trotz aller Rhetorik für neue Ontologien allzu oft das von ihm untersuchte Terrain vermisst. Dazu passt, dass in den Materialstudien der ganz konkrete Schiffbruch hochfliegender Ideen in der Welt materieller Interaktionen meist ebenso zu kurz kommt, wie umgekehrt die Welt des Sozialen fast ausschließlich als Zone mangelnder Anerkennung oder fehlender institutioneller Etablierung thematisiert wird, aber nie beispielsweise als Ressource oder Interferenzzone.

Zum Teil beruht das Problem sicher auf falschen Erwartungen, die das Buch mit seinem irreführenden Titel weckt, denn weder das Gehirn, noch die Hirnforschung und, trotz eines eingeschobenen Kapitels zu Gregory Bateson und Ronald D. Laing, auch nicht die Psychiatriegeschichte stehen wirklich im Zentrum (und sollten es im Sinne von Pickerings Agenda ja auch gar nicht). Im Merve-Band war noch von Sketches of Another Future: Cybernetics in Britain als Projekttitel zu lesen gewesen, womit das Buch vermutlich deutlich besser gefahren wäre. So aber ist der Preis hoch, den Pickering für das Ausstanzen seiner großen Alternative als cybernetic brain zahlt. Sein Schematismus versperrt den Zugang zu triftigen zeithistorischen Analysen über die je konkreten Bedingungen des Gelingens oder die Umstände des Scheiterns der von ihm so liebevoll ans Licht gehobenen Projekte, die sich doch erst mit solchen Differenzierungen für anstehende Auseinandersetzungen über neue Formen politischer Partizipation oder Debatten über neue Ontologien in der Wissenschaftsforschung nutzen ließen. Während Pasks „Colloquy of Mobiles“ zusammen mit der Cybernetic Serendipity-Ausstellung in London schlicht in Vergessenheit geriet, zählen beispielsweise Robert Rauschenbergs ganz ähnliche Apparate bei den Experiments in Art and Technology in New York mittlerweile zum Kanon der performance art: Wann sind diese Geschichten auseinandergelaufen, und liefert performance ein heute noch aktuelles Beispiel für creative research? Wie sind Beers Schaltungen einer Rückkopplung zwischen Politik und Fernsehpublikum angesichts aktueller Erfahrungen mit medialisierter Politik zu bewerten und stellen möglicherweise Internetforen eine tragfähige Alternative dazu dar? Welche Visionen der counterculture bergen auch heute noch Potential als Antwort auf konkrete Probleme? Weil Pickering seine wunderbaren historischen Beispiele zu zeitlosen Alternativen stilisiert und es im übrigen beim Mantra bewenden lässt, die Welt sei eben „exceedingly complex“ (wie dies im übrigen schon seine Kybernetiker gesehen hätten), verfehlt er sein eigenes Anliegen einer offenen Epistemologie neuer Ontologien mit einer Missionsschrift zur Überwindung des Dualismus. Das zeigt schon die von Pickering so gern (und oft) gewählte Metapher „to take the symmetric fork in the road“, das Bild des Scheidewegs, an dem man besser in die andere Richtung abgebogen wäre. Angesichts des Krisenpotentials moderner Wissenschaften und neuer politischer Unübersichtlichkeiten mag man tatsächlich eine radikale Kehrtwende für geboten halten. Aber wer schlicht Umkehr predigt, verbleibt im Raster der Moderne. Wo wäre der Ort, von dem aus sich solche dualistischen Bifurkationen vielmehr als problematischer Sonderweg der Moderne erhellen ließen?