Der Aufsatz von Alexander Mette zeigt in vielleicht exemplarischer Weise aus heutiger Sicht interessante und anregende ebenso wie problematische Seiten der Medizin-, Naturwissenschafts- und Technikgeschichte zur Zeit der DDR.

Mette beschreibt nach einem kurzen Rekurs auf die russische „Neuropathologie“Footnote 1 und Psychiatrie des 19. Jahrhunderts zunächst ausführlich die Auswirkungen der physiologischen Lehren von Pawlow auf die sowjetische Psychiatrie und Neurologie unter Einbeziehung von Pawlows Arbeiten etwa zur Hypnose oder seinen Beobachtungen in psychiatrischen Anstalten. Es folgt eine Übersicht zu den wichtigsten Entwicklungen der Psychiatrie in Deutschland in den Jahrzehnten bis 1933 und darüber hinaus. Diese Rekonstruktion erfolgt einerseits aus einer marxistischen Perspektive, andererseits unter der Fragestellung der Aufnahmebereitschaft für die Pawlow’sche Reflexlehre und ihrer potentiellen Implikationen in deutschen Kontexten. Diese Fragestellung wurde in der westdeutschen und anglo-amerikanischen Historiographie zur deutschen Psychiatrie im 20. Jahrhundert bisher nicht systematisch verfolgt. Der potentiell interessante Ertrag wird beispielsweise in den eher skizzenhaften Ausführungen von Mette zur selektiven Rezeption der Anfang der 1920er Jahre in der Schweiz von Jakob Klaesi proklamierten Dauerschlaf-Behandlung sichtbar: So macht Mette plausibel, dass aufgrund „idealistischer“ Prämissen in den beiden von ihm identifizierten Hauptsträngen der deutschen Psychiatrie der Weimarer Zeit (in psychologisierender Form bei Bumke, Jaspers, Gruhle; in biologistischer bei Kraepelin, Rüdin, Kretschmer) das Pawlow’sche Konzept der „Schutzhemmung“ wenig Resonanz gefunden habe, dass aber mit der Zuwendung zu Pawlow in der frühen DDR die Kompatibilität mit diesem Konzept zu einer bevorzugten Aufnahme der Dauerschlaf-Therapie geführt habe, während im Gegensatz dazu in den „westlichen Ländern“ nach wie vor die in den 1930er Jahren eingeführte Konvulsions-Therapie die Methode der Wahl bei anderweitig Therapie-refraktären psychotischen Zuständen war (S. 109, 113). Demgegenüber war die Pawlow’sche Lehre kaum kompatibel mit der „phänomenologischen Denkweise“ in der Psychiatrie, die wiederum in der frühen Bundesrepublik (im Gegensatz zur DDR) eine erhebliche Konjunktur erlebte (S. 115).

In einem weiteren Schritt thematisiert Mette die Psychiatrie zur Zeit des Nationalsozialismus und erwähnt dabei neben der Zensur und Verbrennung psychoanalytischer Schriften das rassenhygienisch begründete Gesetz zur Zwangssterilisation ebenso wie das Programm zur Tötung psychisch kranker und behinderter Menschen („Euthanasie“, S. 107-108, 110). Im Gegensatz zu den Bezugnahmen auf die Psychiatrie im Nationalsozialismus in der Bundesrepublik der 1960er Jahre, welche im Kontext eines „Isolations-Paradigmas“ eine klare Trennung zwischen Medizin und Politik postulierten und die Menschenrechtsverletzungen als Resultat von äußerem Zwang auf die vermeintlich „unpolitische“ Medizin, und als Resultat des Handelns einzelner, im Fach isolierter und „fanatisierter“ Nationalsozialisten interpretierten, vertrat Mette eine Deutung, wonach das Geschehene auf grundsätzlich der modernen Medizin (zumindest in kapitalistischen Gesellschaften) inhärente Probleme verweise. Diese Form der Interpretation wurde in der Bundesrepublik erst seit Anfang der 1980er Jahre vertreten, auch durch Rezeption von und im Austausch mit Autoren aus der DDR (etwa Karl Friedrich Kaul oder Achim Thom). Damit lässt sich Mette mit seinen Kommentaren zu dieser Thematik den Anfängen einer Deutungstradition zuordnen, die für heutige Debatten zur Medizin im Nationalsozialismus entscheidende Impulse gegeben hat.Footnote 2

Das letzte Drittel des Aufsatzes ist im engeren Sinne dem im Titel genannten Thema (Rezeption sowjetischer Neurologie und Psychiatrie in der DDR) gewidmet. Diese Proportionierung der einzelnen Textteile mit der (bei einem erfahrenen Autor sicher nicht zufälligen) Inkongruenz zwischen Titel und Inhalt legt nahe, dass die Titelformulierung neben der konventionellen Ankündigung des Aufsatzinhalts für den Leser noch eine andere Funktion haben könnte, wie beispielsweise nach außen hin (etwa gegenüber politischen Instanzen) zu dokumentieren, dass bestimmte Themenfelder (hier der Gesundheitsschutz in der DDR) durch den Autor beziehungsweise die Zeitschrift repräsentiert sind. Bei genauerer Betrachtung finden sich weitere Indizien für eine solche Vermutung: Während der erste, längere Teil des Titels ein Kapitel aus der Geschichte internationaler Wissenschaftsbeziehungen ankündigt, verweist der zweite Teil auf eine zeitliche und institutionelle Verortung, die bei schon flüchtigem Blick auf den Text sowie die Position und Herkunft des Autors deutliche Fragen aufwirft: Der Aufbau des „Gesundheitsschutzes in der DDR“ wird lediglich in den einleitenden Sätzen thematisiert (S. 101), ansonsten nur flüchtig gestreift (etwa auf S. 112), während der übrige Aufsatz sich ganz auf die Rezeption der Arbeiten von russischen beziehungsweise sowjetischen Physiologen, Psychiatern und Neurologen bei deutschen Fachkollegen seit etwa dem Ende des Ersten Weltkriegs konzentriert. Fragen der organisatorischen beziehungsweise institutionellen Einbindung von Psychiatrie und Neurologie in der SBZ und DDR werden dabei – entgegen der Ankündigung im Titel – nicht ausführlich analysiert oder auch nur thematisiert, sondern allenfalls als „Hintergrund“ sichtbar, wenn an einigen Stellen von den Pawlow-Kongressen Anfang der 1950er Jahre, den ersten psychiatrisch-neurologischen Fachtagungen in der DDR sowie der Ende der 1940er Jahre neu gegründeten Zeitschrift Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie die Rede ist und Mette in jedem dieser Fälle sich selbst mit der Bezeichnung „der Verfasser“ als historischen Akteur benennt. Diese Doppelrolle von Mette als historiographischem Autor und historischem Akteur wird auch im Literaturverzeichnis beziehungsweise Anmerkungsapparat sichtbar, wo er unter anderem als Beispiel für einen von der nationalsozialistischen Bücherverbrennung betroffenen Psychoanalytiker, als Mitorganisator der Pawlow-Veranstaltungen (und Herausgeber der entsprechenden Publikationen) sowie als Gründer der neuro-psychiatrischen DDR-Fachzeitschrift auftaucht, mithin wiederholt als historischer Akteur, ebenfalls jedoch als Autor historiographischer Publikationen.

Die beim Blick auf den Text selbst sichtbare Doppelrolle von Mette lässt sich durch seine Biographie und seine Funktion in der DDR-(Gesundheits-) Politik erklären:Footnote 3 Er war von 1928 bis 1946 als niedergelassener Psychiater, Neurologe und Psychoanalytiker in eigener Praxis in Berlin tätig und hatte bis 1933 unter anderem zu Fragen der psychoanalytischen Gesellschaftskritik publiziert; 1935 war eines seiner Bücher den öffentlichen Verbrennungsaktionen zum Opfer gefallen. 1945 trat er in die KPD ein, ab 1946 engagierte er sich im öffentlichen Gesundheitswesen der SBZ und wurde zunächst stellvertretender Direktor im Landesgesundheitsamt Thüringen, ab 1949 dann Leiter der Hauptabteilung des Gesundheitswesens im Ministerium für Arbeit und Sozialfürsorge in Thüringen. Von 1950 bis 1963 war er Mitglied des Parlaments der DDR (der Volkskammer), ab 1952 Cheflektor im Verlag Volk und Gesundheit, ab 1953 Mitglied der „Staatlichen Pawlow-Kommission“, ab 1956 Leiter der Hauptabteilung Wissenschaft im Ministerium für Gesundheitswesen der DDR, von 1958 bis 1963 Mitglied im Zentralkomitee (ZK) der SED, ab 1959 Ordinarius und Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin an der Humboldt-Universität Berlin und ab 1960 zusammen mit Gerhard Harig Gründungsherausgeber von NTM.

In den anderthalb Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs war Mette also einerseits ein wichtiger Akteur beim Aufbau des öffentlichen Gesundheitswesens der SBZ und der DDR gewesen, zusätzlich jedoch auch ein Protagonist bei der Implementierung der spät-stalinistischen Pawlow-Doktrin in die Gesellschaftspolitik und Medizin der DDR. Dabei ging es unter anderem um eine wissenschaftliche Rechtfertigung des totalitären Gesellschaftsmodells Stalins ebenso wie eines Menschenbildes im Sinne des Marxismus-Leninismus durch eine vereinfachte Version von Pawlows Reflexlehre. Die uneingeschränkte Herrschaft des Großhirns (des Politbüros) über den (Gesellschafts-) Körper entsprach demnach den Gesetzen der Natur selbst.Footnote 4 Mit dieser Lehre konnten auch die Wechselwirkungen sowohl zwischen Umwelt und menschlichen Körpern als auch zwischen Körper und Seele erklärt werden. In der Medizin der frühen DDR diente der Rekurs auf Pawlow unter anderem zur Abwehr und Entwertung psychoanalytischer und anderer „idealistischer“ Ansätze in der Psychiatrie und der sich in Westdeutschland gerade in der Nachkriegszeit universitär etablierenden Psychosomatik und Psychotherapie. In diesen Kontext gehört etwa die Gründung des Instituts für kortiko-viszerale Pathologie und Therapie Mitte der 1950er Jahre in Berlin-Buch, einer Vorläufer-Institution des heutigen Max-Delbrück-Centrums. Ab 1950 wurden in der vom DDR-Gesundheitsministerium herausgegebenen Zeitschrift Das deutsche Gesundheitswesen eine wachsende Anzahl von Beiträgen zur Lehre Pawlows und ihren Anwendungsmöglichkeiten publiziert. 1953 wurde neben der bereits erwähnten Staatlichen Pawlow-Kommission auch die „Fachkommission für Fragen der medizinischen Wissenschaft“ beim ZK der SED gegründet, mit dem expliziten Ziel, Pawlows Lehren in der Medizin der DDR durchzusetzen und damit auch eine stärkere Zuwendung zu Medizin und Biowissenschaften in der Sowjetunion herbeizuführen. Im Frühjahr desselben Jahres wurde mit großem Aufwand eine Pawlow-Tagung in Leipzig organisiert, an der 1.800 Besucher auch aus dem „kapitalistischen“ Ausland teilnahmen. 1954 fand die erste öffentliche Tagung der Staatlichen Pawlow-Kommission statt, wiederum unter starker Beteiligung auch westdeutscher Mediziner. Mette war an all diesen Aktivitäten maßgeblich beteiligt, unter anderem als Mitorganisator der letztgenannten Tagung und Mitherausgeber des Protokollbands sowie durch die ausführliche Thematisierung von Pawlow in der neurologisch-psychiatrischen Fachzeitschrift. Gleichzeitig distanzierte er sich zunehmend von der Psychoanalyse, verleugnete jedoch seine Vergangenheit als Psychoanalytiker nicht und stellte sich beim Leipziger Pawlow-Kongress der Diffamierung von Freud als „wissenschaftsfeindlich und antihuman“ durch den marxistischen Philosophen und vormaligen Psychoanalytiker Walter Hollitscher öffentlich entgegen.Footnote 5

Hält man sich den Kontext der seit Anfang der 1950er Jahre in der DDR existierenden Entwertung und Marginalisierung der Psychoanalyse vor Augen, dann bekommt eine kurze Passage aus Mettes Text eine besondere Bedeutung: Er benennt eine Publikation des sowjetischen Psychologen Alexander R. Lurija in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse aus dem Jahr 1926, wo dieser die Kompatibilität und gegenseitige Ergänzung der Lehren von Freud und Pawlow nachzuweisen versuchte, und erwähnt, dass dieser Aufsatz zeitgenössisch große Beachtung erfuhr (S. 106). Neben der unmittelbaren Aussage über einen historischen Sachverhalt aus den 1920er Jahren stellt diese Passage möglicherweise als Subtext einen Kommentar von Mette zur oben genannten Kontroverse mit Hollitscher und anderen beim Leipziger Pawlow-Kongress dar. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Mette zum 100. Geburtsjahr von Sigmund Freud 1956 die einzige je in der DDR publizierte Biographie zu Freud vorlegte (parallel zu den von Alexander Mitscherlich im gleichen Jahr organisierten und viel beachteten Freud-Aktivitäten in Heidelberg und Frankfurt a. M.).

Insgesamt enthält der Aufsatz von Mette also sehr interessante Bausteine und Anregungen für eine auch in der späteren Historiographie noch keineswegs angemessen analysierte Rezeptionsgeschichte von Pawlow und Freud in der Psychiatrie und Neurologie in den verschiedenen politischen Kontexten Deutschlands im 20. Jahrhundert. Auf einer allgemeineren Ebene illustriert der Text einen weiteren bemerkenswerten Zusammenhang: Wenn davon ausgegangen wird, dass es politisch erwünscht war, die Bedeutung der Sowjetunion für die Medizin und Gesundheitsversorgung der SBZ und DDR zu thematisieren,Footnote 6 so haben diese politischen „Rahmenbedingungen“ zwar bei Mette (und anderen Autoren) möglicherweise zu einer besonderen Akzentuierung dieser Bedeutung geführt, auf der anderen Seite aber auch eine im Vergleich zur westdeutschen und wohl auch internationalen Medizinhistoriographie frühe und fruchtbare Beschäftigung mit der breiteren Thematik der Geschichte internationaler Wissenschaftsbeziehungen stimuliert.Footnote 7