Abstract
My article explores how Heinrich von Kleist’s famous novella »Das Erdbeben in Chili« can be understood as a philosophical treatise about the dynamics of history. I argue, based on Manuel DeLanda’s historical reflections from his book A Thousand Years of Nonlinear History that Kleist demonstrates in his narrative how historical change manifests itself through complex interactions that create turbulences. These turbulences withdraw from a teleological model of history and implement a chaotic understanding that underlines the unpredictability of history. In my concluding remarks, I highlight that such a ›chaotic‹ perspective is not necessarily a heuristic projection of contemporary theoretical models onto Kleist’s text, but can also be found in several of his own philosophical writings and in the nearly contemporaneous work of Carl von Clausewitz.
Similar content being viewed by others
Literatur
Kottler, Philip/ Casoline, John A.: Chaotics. Management und Marketing für turbulente Zeiten. München 2009.
Björn Hof bietet in seinem Artikel »Turbulenz bändigen« eine gut fassliche Eingangsbeschreibung der Turbulenz an: »Bei niedrigen Geschwindigkeiten gleiten Fluidschichten gleichmäßig und wohlgeordnet (laminar) übereinander hinweg. Sind die Geschwindigkeiten allerdings höher, so treten Verwirbelungen auf, und die Strömung wird turbulent.« Hof, Björn: »Turbulenz bändigen«. In: Physik in unserer Zeit 41.4 (2010), S. 163–164.
DeLanda, Manuel: A Thousand Years of Nonlinear History. New York 1997. Zitate und Stellen aus diesem Buch werden fortan in runden Klammern im Text angegeben.
Heinz von Foerster formuliert in den 1960er Jahren die Vorstellung, dass auch Systeme, die in sich keine eigentlichen Ordnungsstrukturen haben, bzw. durch ungerichtete Energie verwirbelt werden, durchaus selber eigene Ordnungsstrukturen ausbilden. Einen guten ersten Einblick in dieses Prinzip gibt Heinz von Foersters Artikel »On Self-Organizing Systems and Their Environments« (in: M.C. Yovits/ S. Cameron [Hg.]: Self-Organizing Systems. London 1960, S. 31–50).
Während Alan J. Beyerchen durchaus eine Tradition etabliert hat, Clausewitz als einen frühen Komplexitäts- wenn nicht Chaostheoretiker zu lesen (vgl. Beyerchen, Alan: »Clausewitz, Nonlinearity, and the Unpredictability of War«. In: International Security 17:3 [1992/3], S. 59–90), gibt es für Hegel nur vereinzelt Ansätze, die zudem mit dem Umweg über die Dekonstruktion, eine chaostheoretische Lektüre Hegels versuchen
(vgl. z. B. McRobert, Laurie: »On Fractal Thought: Derrida, Hegel, and Chaos Sciene«. In: History of European Ideas 20/2–6 [1995], S. 815–821). Sicherlich haben solche Zugänge auch immer die Schwierigkeit ihr Untersuchungsobjekt in eine anachronistische Spannung zu bringen, aber gerade das berühmte Herr und Knecht Kapitel scheint mir durchaus einen solchen Zugang nahe zu legen. Hier stellt Hegel nämlich keinen klar strukturierten dialektischen Prozess dar, sondern eine durchaus turbulente Entwicklung des Herr Knecht Verhältnisses. Hegel benutzt dabei auch häufig Flüssigkeitsmetaphern, was die Produktivität einer solchen Interpretation unterstreicht
(vgl. besonders Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a.M. 1986. S. 137–145).
Kleists Texte werden nach der folgenden Ausgabe zitiert: Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Zweibändige Ausgabe. Hg. v. Helmut Sembdner. München 2008. Zitate und Stellen aus dieser Ausgabe werden fortan in runden Klammern im Text nachgewiesen.
Clausewitz, Carl von: Vom Kriege. Vollständige letzte Fassung von 1832. Neuenkirchen 2010. Für meine Diskussion ist von besonderer Bedeutung das Kapitel 7: »Friktion im Kriege« (S. 76–78).
Norbert Wiener gibt in seinem Buch Cybernetics einen sehr anschaulichen Vergleich von mechanischen und probabilistischen Systemen anhand der Gegenüberstellung von astronomischen und meteorologischen Vorhersagbarkeiten. Wiener hebt dabei hervor, dass meteorologische Phänomene ungleich schwerer hervorzusagen sind, weil hier nicht von einer einzigen physikalischen Situation ausgegangen werden kann, sondern von einer Wahrscheinlichkeitsverteilung möglicher Ereignisse (Wiener, Norbert: Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine. New York 1961, S. 30–44).
Für einen Überblick über DeLandas Position und weitere Modelle des »New Materialism« siehe: Dolphijn, Rick/ van der Tuin, Iris (Hg.): New Materialism. Interviews & Cartographies. Ann Arbor 2012.
DeLanda, Manuel: War in the Age of Intelligent Machines. New York 1991.
Vgl. hierzu z. B.: Jung, Sung A u. a.: »Dynamical Behaviors in Earthquake Structures«. In: Journal of the Korean Physical Society 56.6 (Juni 2010), S. 1877–1879.
Vgl. hier zum Beispiel: Weber, Christoph: »Santiagos Untergang–Lissabons Schrecken. Heinrich von Kleists Erdbeben in Chili im Kontext des Katastrophendiskurses im 18. Jahrhundert«. In: Monatshefte 104.3 (Herbst 2012), S. 317–336.
In ihrem Aufsatz »Das Erdbeben in Chili and the Romantic Reframing of ›Natural Disaster‹« weist Kate Rigby darauf hin, dass es besonders viele Opfer in zusammenstürzenden Kirchen gab (Rigby, Kate: »Das Erdbeben in Chili and the Romantic Reframing of ›Natural Diaster‹«. In: Yixu Lü u. a. [Hg.]: Wissensfiguren im Werk Heinrich von Kleists. Freiburg i.Br. 2012, S. 137–150).
Foucault hebt in Überwachen und Strafen hervor, dass es um 1800 zu einem Verschwinden der Marter als öffentliches Spektakel kommt (Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. 1976, S. 14).
Hier wären bspw. Talib M. Ibrahims Monographie Die Darstellung von Naturkatastrophen in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, die zwar auch den Theodizee-Diskurs mitaufnimmt, die Erdbeben-Erzählung aber auch klar als einen Reflex auf die historischen Umstürze bei und nach der Französischen Revolution liest, (Ibrahim, Talib M.: Die Darstellung von Naturkatastrophen in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Marburg 2011, S. 149–159) oder auch Helmut J. Schneiders sozialgeschichtliche Interpretation »Der Zusammenbruch des Allgemeinen« zu nennen
(Schneider, Helmut J.: »Der Zusammenbruch des Allgemeinen«. In: David E. Wellbery [Hg.]: Positionen der Literaturwissenschaft: acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists »Das Erdbeben in Chili«. München 1985, S. 110–129).
Friedrich Kittler weist auch auf die Titeländerung hin und erkennt darin die Akzentverschiebung von einer Liebeserzählung hin zu explizit novellistischem Erzählen (Kittler, Friedrich: »Ein Erdbeben in Chili und Preußen«. In: David E. Wellbery [Hg.]: Positionen der Literaturwissenschaft: acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists »Das Erdbeben in Chili«. München 1985, S. 24–38).
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Niebisch, A. Kleists Turbulenzen oder »lernen von der Natur«. Z Literaturwiss Linguistik 44, 37–51 (2014). https://doi.org/10.1007/BF03379704
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/BF03379704