Zusammenfassung
Der Aufsatz behandelt die Darstellung des Häßlichen bei Wolfram von Eschenbach. Im Vergleich zu früheren Mustern häßlicher Menschen wird bei ihm mit Cundrie die Autonomie des Schönen erschüttert. Die Betonung der Erhabenheit verhilft gleichzeitig dem Individuellen zur Freisetzung.
Abstract
The article discusses Wolfram von Eschenbach’s treatment of the ugly. Differing from previous patterns of human ugliness, his presentation of Cundrie shatters the autonomy of the beautiful. His emphasis on the sublime has at the same time helped to throw individual trait into relief.
Literature
S. dazu die überblickartige Studie von Barbara Seitz, Die Darstellung häßlicher Menschensin mittelhochdeutscher erzählender Literatur von der Wiener Genesis bis zum Ausgang des 13. Jahr hunderts (1967). Auf Einzelstudien wird an gegebener Stelle verwiesen.
Andrée Kahn Blumstein, “The Structure and Function of the Cundrie Episodes in Wolfram’s Parzival,” German Quarterly, 51 (1978), 160–169.
Joachim Bumke, Die Wolfram von Eschenbach Forschung seit 1945: Bericht und Bibliographie (1970), S. 303f.
Wilhelm Deinert, Ritter und Kosmos im ‘Parzival’: Eine Untersuchung der Sternenkunde Wolframs von Eschenbach, MTU, 2 (1960), S. 109–111.
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Marion E. Gibbs, wîplîches wîbes reht: A Study of the Women Characters in the Works of Wolfram von Eschenbach, Duquesne Studies, Philological Series, 15 (1972), S. 130–137.
Hermann Güntert, Kundry (1928).
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Kurt Ruh, Höfische Epik des deutschen Mittelalters II, Grundlagen der Germanistik, 25 (1980), S. 86.
Franz Rolf Schröder, “Cundrîe,” Festschrift Ingeborg Schröbler zum 65. Geburtstag, hrsg. D. Schmidtke und Helga Schüppert, PBB (West), 95, Sonderheft (1973), 187–195. Roy A. Wisbey, “Wunder des Ostens in der ‘Wiener Genesis’ und in Wolframs ‘Parzival,’” Studien zur frühmittelhochdeutschen Literatur: Cambridger Colloquium 1971, hrsg. L. P. Johnson, H.-H. Steinhoff und R. A. Wisbey, S. 180–214. Zu einigen älteren Arbeiten siehe vor allem die Fußnoten bei Knapp.
Siehe vor allem Kolb, Wisbey und Schröder. Abwegig, im Sinne des Wortes, ist der Beitrag von Phyllis Ackerman, “Who ist Cundry — What is She?” The Literary Review, 2 (1958/59), 458–468, der “uns allen Ernstes glauben machen” will (Bumke, S. 303), Cundries Vorbild sei ein schwangeres Nilpferd.
Vgl. dazu Ingrid Hahn, “Parzivals Schönheit: Zum Problem des Erkennens und Verkennens im ‘Parzival,’” Verbum et signum, II, hrsg. Hans Fromm, Wolfgang Harms, Uwe Ruberg (1975), S. 203–232.
Roy A. Wisbey, “Die Darstellung des Häßlichen im Hoch- und Spätmittelalter,” Deutsche Literatur des späten Mittelalters: Hamburger Colloquium 1973, hrsg. Wolfgang Harms, L. P. Johnson, S. 9, um eine Formulierung zu gebrauchen, die allerdings hier auf einen anderen Bereich angewendet ist.
Wie etwa Knapp, S. 2. Die Stelle, sowie “ihre Stellung innerhalb des Handlungsablau fes” ist eben doch in den entscheidenden Punkten von Wolfram gegen Chrestiens geändert worden, wie zu zeigen sein wird, die es dahingestellt bleiben lassen, ob man für die Abweichungen “Kyot als Vermittler bemühen” muß, oder ob es sich erübrigt, wie Knapp meint. Ebenso wird man H. Kolb, S. 40, widersprechen müssen, der gegen Jean Fourquet, Wolfram d’Eschenbach et le Conte del Graal, Publ. de la Faculté des lettres de l’Université de Strasbourg, 87 (1938), das Bild Cundries “Zug um Zug als nach einer literarischen Schablone komponiert” ansieht. Wenn auch einzelne oder alle Teile der Figur in unterschiedlichen Kombinationen traditionell vorgeprägt sind, ist deren Zusammenstellung in Wolframs Cundrie aber neu. Denn sie, so wie wir sie dargestellt sehen, gibt es weder bei Chrestien noch sonstwo.
Ich zitiere nach der Ausgabe von William Roach: Chrétien de Troyes, Le Roman de Perceval ou Le conte du Graal, 2. Aufl. (1959).
Zur mittelalterlichen Auffassung von der Farbe Schwarz s. Klaus Ostheeren, “Topos-forschung und Bedeutungslehre: Die Glanzvorstellung im Schönheitskatalog und die mit telenglischen Farbadjektive blak und broun” Anglia, 89 (1971), 1–47, bes. 39ff.
Dagegen Walter Johannes Schröder, Die Soltane-Erzählung in Wolframs Parzival: Stu dien zur Darstellung und Bedeutung der Lebensstufen Parzivals (1963), S. 33. Vgl. auch Knapp, S. 8f.
Karl Bertau, Über Literaturgeschichte: Höfische Epik um 1200 (1983), S. 57.
Zu triuwe s. Hildegard Emmel, Das Verhältnis von ère und triuwe im Nibelungenlied und bei Hartmann und Wolfram (1936).
Gisela Spiess, Die Bedeutung des Wortes triuwe in den mhd. Epen ‘Parzival’, ‘Nibelungenlied’ und ‘Tristan’ (1957).
Julius Schwietering, “Parzivals Schuld,” ZfdA, 81 (1944), 44–68. Bes. zu Wolfram s. aber auch Bertau, Über Literaturge schichte, S. 49, und Knapp, S. 5. Vgl. auchPz. 462,19.
Zu diesem und den folgenden Versen vgl. Wolfgang Mohr, “Wandel des Menschen bildes in der mittelalterlichen Dichtung,” Wirkendes Wort, Sammelband II (1962), 127–138, und Knapp, S. 4.
Um mit einem Wort Schellings, Philosophie der Kunst (1859, Nachdruck der Ausgabe 1976), S. 106 und passim, dem Problem des Erhabenen vorzugreifen.
Hans Robert Jauß, “Die klassische und die christliche Rechtfertigung des Häßlichen in mittelalterlicher Literatur,” Die nicht mehr schönen Künste, hrsg. H. R. Jauß, Poetik und Hermeneutik, 3 (1968), S. 148.
Vgl. dazu die Typenkataloge bei Duncan M. Mennie, Die Personalbeschreibung im höfischen Epos der mhd. Epigonenzeit: Eine Stiluntersuchung (1933), und Seitz, Die Darstellung häßlicher Menschen.
Paul Michel, Formosa Deformitas: Bewältigungsformen des Häßlichen in mittelalterlicher Literatur (1976), S. 17. Allgemein zum Häßlichen in der christlichen Kunst des Mittelalters s. Rosario Assunto, Die Theorie des Schönen im Mittelalter (Neuausgabe 1982), bes. S. 84ff. und 105 ff.
Vgl. Erich Auerbach, “Sermo Humilis,” Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter (1958), S. 25–53.
Herbert Kolb, Der Begriff der Minne und das Entstehen der höfischen Lyrik, Hermaea, Germanistische Forschungen, N. F. 4 (1958), S. 378. Vgl. auch Ostheeren, S. 3.
Elisabeth Karg-Gasterstädt, Zur Entstehungsgeschichte des Parzival, Sächsische Forschungsinstitute in Leipzig: Forschungsinstitut für neuere Phil. I, Altgermanistische Abt., H. 2 (1925). Zur neueren Diskussion ihrer Analyse s. vor allem
Karl Bertau, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, II (1973), S. 780ff.
S. dazu neuerdings Horst Wenzel (Hrsg.), Typus und Individualität im Mittelalter, Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, 4 (1983), worin sich auch ein Beitrag des Hrsg. zum Problem des Häßlichen findet (zu Neidhart). Mit Recht wird immer wieder davor gewarnt, dem Mittelalter einen modernen Individualitätsbegriff zu unterstellen. So Hugo Kuhn in der Rezension von
H. Furstner, Studien zur Wesensbestimmung der höfischen Minne, PBB (West), 80 (1958), 325, auf den sich Volker Mertens, Laudine: Soziale Problematik im Iwein Hartmanns von Aue, Beihefte zur ZfdPh, 3 (1978), 23 bezieht: “Person sein aktualisiert sich unter herkömmlichen Wertvorstellungen …, zu denen Schönheit und adlige Abstammung ebenso gehören wie tugent … ” Bei Wolfram aber will es mir scheinen, als löste sich dieses starre Modell langsam auf.
Vgl. Michel, S. 59 über die Ars versificatoria des Matthaeus sowie vor allem Edmond Faral, Les Arts Poétiques du XIIe et du XIIIe siècle, Bibliothèque de l’école des hautes études, I, fsc. 238 (1923). Michel, S. 60, stellt richtig fest, daß die Personenbeschreibungen der mittellateinischen Poetiken in der volkssprachigen Literatur kaum Verbreitung gefunden haben. Knapp, S. 3, will für Wolfram wie fur Chrestien eine stilistisch-rhetorische Übung, in Anlehnung etwa an Matthaeus sehen; sie wollten (bzw., wie insinuiert wird: mußten) sich “auch in der Beschreibung eines extrem häßlichen Wesens” versuchen. Es mag aber scheinen, als hätte Wolfram (und Chrestien), wie je große Literatur, wenig um Poetiken sich geschert.
S. K. Bertau, “Versuch über Wolfram,” Jahrbuch fiir fränkische Landesfor schung, 37 (1977), 27–43, jetzt wieder in K. B., Wolfram von Eschenbach: Neun Versuche über Subjektivität und Ursprünglichkeit in der Geschichte (1983), S. 145–165, bes. S. 152 ff. Als Beleg gegen Knapp und andere s. Paul Salmon, “The Wild Man in ‘Iwein’ and Medieval Descriptive Technique,” MLR, 56 (1961), 522f., der zeigt, wie Wolfram gegen ein elementares Prinzip der Personenbeschreibung nach den Poetiken verstößt: “Wolfram upsets the conventional order” (522), nämlich eine bestimmte Reihenfolge bei der Beschreibung von Kopf bis Fuß einzuhalten. Wolframs “account mores in no calculable order from one part of the face to another, and deals in turn with hair, nose, teeth …” (523).
Zur Dokumentation der Geschichte des Begriffs vom Erhabenen s. Peter Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie I: Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. Hegels Lehre von der Dichtung, Studienausgabe der Vorlesungen, II (2. Aufl. 1976), S. 241–245.
Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie (2. Aufl. 1974), S. 292.
S. dazu vor allem die Arbeiten Bertaus, besonders Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter II (1973), S. 774ff. sowie “Versuch über den späten Chrestien und die Anfänge Wolframs von Eschenbach,” Probleme mhd. Erzählformen, hrsg. Peter F. Ganz und Werner Schröder, Marburger Colloquium 1969 (1972), S. 73–106, jetzt wieder in K. B., Wolfram von Eschenbach, S. 24–59, hier besonders S. 47ff.
Vgl. dazu Kolb, Munsalvaesche, S. 42ff. Eine eingehende Darstellung der Geschichte der literarischen Tradierung dieses Motivs und dessen Herkunft aus dem Osten hat Wisbey, “Wunder des Ostens” geliefert. Zum Wolframs Cundrie s. vor allem S. 205 ff.
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Dallapiazza, M. Häßlichkeit und Individualität Ansätze zur Überwindung der Idealität des Schönen in Wolframs von Eschenbach Parzival. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 59, 400–421 (1985). https://doi.org/10.1007/BF03375946
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