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Die Regel der Ausnahme Revolutionäre Souveränität und bloßes Leben in Brechts Maßnahme

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Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Bertolt Brechts umstrittenes Lehrstück Die Maßnahme von 1930/31 entwirft ein Szenario des Politischen, in dem der Ausnahmezustand zur Regel geworden ist. Das diesem Ausnahmezustand unterworfene Subjekt findet sich entweder im Status der Illegalität oder im Zustand einer Verelendung, in dem es auf sein ‚bloßes Leben’ reduziert wird. In Anknüpfung an Carl Schmitt, der zeitgleich mit Brecht seine überlegungen zum „Maßnahmenstaat“ entwickelt, und an Michel Foucaults Konzept der Biopolitik hat Giorgio Agamben eine Theorie moderner Souveränität vorgelegt, die diese als Ausnahme und Aussetzung des Rechts beschreibt, durch die menschliche politische Existenz in bloßes biologisches Leben verwandelt wird. Diese Theorie der Souveränität läßt sich für eine Lektüre der Maßnahme fruchtbar machen, die deren Skandalon, ihre paradoxe Verknüpfung von Moral und Politik, Recht und Taktik in den Kontext einer Struktur des Politischen der Moderne stellt. Der politische Impetus der Brechtschen Poetologie des Lehrstücks wird damit, jenseits vulgärmarxistischer oder volkspädagogischer Lesarten, deutlich als eine Reflexion auf die Möglichkeit einer Politik der Kontingenz.

Abstract

Bertolt Brecht’s somewhat infamous Lehrstück Die Maßnahme (1930/31) presents a political scenario in which the state of exception has become the rule. Any subject falling within the domain of this state will either find itself in a fundamentally illegal situation or be stripped of its existential means and impoverished to the point of being reduced to ‘bare life’. The two sides of this alternative have been theorized respectively by Carl Schmitt, who developed his ideas on the “State of measures” (Maßnahmenstaat) contemporaneously with Brecht, and in Michel Foucault’s concept of bio-politics. It is Giorgio Agamben who has recently presented a theory of modern sovereignty which combines the insights by Schmitt and Foucault and bases sovereignty on the rule of exception, the suspension of legality, and the reduction of human political existence to bare biological life. Agamben’s theory can be applied in a reading of Die Maßnahme, and the scandal the play presents, its linkage of radical politic measures and morals, of rights and tactics can thus be situated within the context of a political structure of modernity. Without any recourse to interpretations based on vulgar Marxism or on ideas of mass pedagogy, it becomes possible, by means of this reading, to understand the political impetus of Brecht’s poetics of the Lehrstück as a reflection on the possibility of a politics of contingency.

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Horn, E. Die Regel der Ausnahme Revolutionäre Souveränität und bloßes Leben in Brechts Maßnahme. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 75, 680–709 (2001). https://doi.org/10.1007/BF03375849

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