Zusammenfassung
Skeptizismus heißt Zweifel an der Möglichkeit des Wissens. Versteht die klassische Tragödie dies als Zweifel an praktischem Wissen, so verhandelt Hamlet den Zweifel an der Erkennbarkeit der anderen. Hamlet zeigt diesen Zweifel als Konsequenz einer Haltung der Reflexion und entfaltet deren theatrale Genealogie. Damit führt auch Hamlet in praktischen Zweifel — und stellt die strikte Unterscheidung von klassischer und moderner Tragödie in Frage.
Abstract
Skepticism means doubting the possibility of knowlegde. While in ancient tragedy this refers to practical knowledge, modern tragedy deals with skeptical doubt about knowing other persons. Hamlet shows such doubt to be the consequence of an attitude of reflection and develops its theatrical genealogy. Thereby also Hamlet leads to practical doubt, thus contesting the strict distinction between ancient and modern tragedy.
Literature
Siehe Bernard Williams, Descartes: Das Vorhaben der reinen philosophischen Untersuchung, Frankfurt a. M. 1988, Kap. 2
Michael Williams, Unnatural Doubts: Epistemological Realism and the Basis of Scepticism, Princeton 1996, Kap. 5.
Zit. nach Sophokles, Tragödien, München 1990.
Es handelt sich daher nicht um „radikalen Skeptizismus“ in Michael Williams’ Sinn: „The most interesting sceptical arguments imply radical scepticism, the thesis that we never have the slightest justification for believing one thing rather than another“. Michael Williams, Problems of Knowledge, Oxford 2001 (im Erscheinen), Kap. 5.
Zu einer Lektüre des Ödipus als Verhandlung über das Wissenwollen siehe Bernard Knox, Oedipus at Thebes: Sophocles’ Tragic Hero and His Time, New Haven, London 1957, repr. 1998
und die Zuspitzung in Jean-Joseph Goux, Oedipus, Philosopher, Stanford 1993.
Ich zitiere Hamlet im folgenden nach der Arden-Ausgabe, hrsg. Harold Jenkins, Walton-on-Thames 1997, 1. Aufl. 1982.
Diese These bezeichnet, worin meine Lektüre Stanley Cavell, insbesondere seinem großen Lear-Essay („The Avoidance of Love: A Reading of King Lear“, in: Stanley Cavell, Must We Mean What We Say?, Cambridge, UK, New York, Melbourne 1976, 267–353), verpflichtet ist. Ich verzichte im folgenden Abs. II darauf, diesen Zusammenhang im einzelnen und an jeder Stelle nachzuweisen. Worin meine Lektüre von Cavells Vorbild abweicht, soll in Abs. III deutlich werden.
Aristoteles, Poetik, übers. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, 9. Zum folgenden siehe Kap. 6.
So wie Hamlet ebenso von „fate“ wie „providence“ spricht, so ist die Figur der dramatischen Ironie zunächst neutral gegenüber der strikten geschichtsphilosophischen Entgegensetzung, in der Benjamin den Unterschied von antiker Tragik und der Schicksalserfahrung im Trauerspiel faßt. Das „Entgleisen der Rede“ in tragischer Ironie versteht Benjamin als Umschlag von der einen zur entgegengesetzten Bedeutung der Handlung unter der Macht einer polytheistischen mythischen „Satzung“ (siehe Ursprung des deutschen Trauerspiels, Gesammelte Schriften, hrsg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1974, I/1, 279ff.; ähnlich auch Jean-Pierre Vernant, „Ambiguïté et renversement“, in: Jean-Pierre Vernant, Pierre Vidal-Naquet, Mythe et tragédie en grèce ancienne, Paris 1973, 102–131). Schicksal im Sinn des Trauerspiels dagegen hat nach Benjamin seinen Grund nicht in mehrfacher Bedeutung, sondern in der Preisgegebenheit an die bedeutungslose Natur der „profanen Dingwelt“ (die in der antiken Dramatik „keine Stelle hat“; 312). Hamlets eigene Schicksalserfahrung entspricht ohne Zweifel diesem zweiten Modell; es ist die Erfahrung, daß „über das Menschenleben, ist es einmal in den Verband des bloßen kreatürlichen gesunken,... auch das der scheinbar toten Dinge Macht“ gewinnt (311). Wie auch immer sie weiterhin gedeutet werden mag, die Verkettung der Umstände, die das Drama (als dramatische Ironie) präsentiert, hat zunächst jedoch weder mythischen noch dinglichen, sondern textuellen Charakter.
Sie erscheint uns — so der „Annex on Dramatic Irony“ zum ersten Kapitel von William Empson, Seven Types of Ambiguity, 1. Auflage 1930, repr. Harmondsworth 1965, 38ff. -als das Gewebe sprachlicher Verweisungen, das den dramatischen Text ausmacht.
Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, Kritische Studienausgabe, hrsg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München, Berlin, New York 1988, I, 76.
Dramatische Absorption, das Gegenteil von theatraler Reflexion, ist Michael Frieds Begriff, den Cavell seiner Shakespearedeutung zugrundelegt; vgl. Michael Fried, Theatricality and Absorption: Fainting and Beholder in the Age of Diderot, Chicago, London 1980.
Darin ist die Haltung des reflektierenden Zuschauens „neuzeitlich“ (oder „modern“) und steht im Gegensatz zum antiken Modell des „theoretischen“ Zuschauens. Der griechische Theoriebegriff „ist abgeleitet von dem vorphilosophischen Begriff des theoros, des Gesandten zu den heiligen Spielen“. „Theorie“ bezieht sich von daher auf eine Form des Zuschauens, deren Sinn „Feiern des Gottes im Anschauen des Göttlichen“ ist: „Während die Einen auf diesem Fest ihrem Vergnügen nachgehen und andere die Gelegenheit nutzen, ihre Waren feilzubieten und zu handeln, ist der Philosoph derjenige, der in der Theorie den Sinn des Festes begreift“ (Joachim Ritter, „Die Lehre von Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles“, in: Joachim Ritter, Metaphysik und Politik, Frankfurt a. M. 1977, 16). Nach diesem Modell beschreibt Gadamer auch das Zuschauen im Theater als ein „Dabeisein“, das Gegenwart bezeugt: „[Das] Sein des Zuschauers [ist] durch sein ‚Dabeisein’ bestimmt. Dabeisein ist mehr als bloße Mitanwesenheit mit etwas anderem, das zugleich da ist. Dabeisein heißt Teilhabe.... Zuschauen ist also eine echte Weise der Teilhabe. Man darf an den Begriff der sakralen Kommunion erinnern, wie sie dem ursprünglichen griechischen Begriff der Theoria zugrunde liegt.
Theoros heißt bekanntlich der Teilnehmer an einer Festgesandtschaft“ (Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1975, 118).
Cavell (Anm. 8), 313. — Damit formuliert Cavell die direkte Gegenthese zu der weit verbreiteten Ansicht, daß die theatrale Selbstreflexion der Tragödie die (Darstellung der) Tragik auflöse. Diese Ansicht habe ich als die des „romantischen“ Paradigmas der Tragödientheorie dargestellt (und kritisiert) in: Christoph Menke, „Die Gegenwart der Tragödie. Eine ästhetische Aufklärung“, Neue Rundschau, 111. Jahrgang, Heft I (2000), 85–95
Christoph Menke, „Ethischer Konflikt und ästhetisches Spiel. Zum geschichtsphilosophischen Ort der Tragödie bei Hegel und Nietzsche“, in: Andreas Arndt u.a. (Hrsg.), Hegels ästhetik. Die Kunst der Politik — Die Politik der Kunst (Hegel-Jahrbuch 1999), Berlin 2000, 16–28.
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1_Dem Text liegt ein Vortrag im Rahmen der Tagung „Skepticism and Interpretation“ (Amsterdam 2000) zugrunde.
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Menke, C. Tragödie und Skeptizismus Zu Hamlet. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 75, 561–586 (2001). https://doi.org/10.1007/BF03375846
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