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„Das gesprochene Wort verliert seinen Eigensinn“ Die Spuren der Sprach- und Lebensphilosophie Ralph Waldo Emersons im Werk Robert Musils

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Zusammenfassung

Der Beitrag verfolgt zwei Ziele: (a) Die vielfältigen Spuren, die die Emerson-Lektüre im Werk Musils, vor allem im Mann ohne Eigenschaften hinterlassen hat, werden erstmals umfassend interpretiert, (b) Die Sprach- und Lebensphilosophie Emersons und Musils wird als systematischer Beitrag zur Theorie der Moderne rekonstruiert. Hauptthemen sind die „dynamische Moral“ und der „Essayismus“, die Verschränkung von Leben und Sprache sowie der Status der Liebe.

Abstract

This paper focuses on two points: (a) It scrutinizes Emerson’s marked influence on Musil; new findings reveal Emerson’s hidden presence in The Man Without Qualities. (b) Emerson’s and Musil’s philosophies of life and of language are reconstructed as systematic contributions to the theory of modernity. Main topics are „dynamic morality“ and „essayism,“ the intertwinement of life and language, and the status of love.

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Literature

  1. Ich verzichte auf detaillierte Hinweise zur Debatte um die Theorie der Moderne. Zur Moderne als ‚Derzeitigkeit ‘vgl. Dieter Thomä, „Im Dreieck balancieren. Der Intellektuelle als Zeitgenosse“, in: Uwe Justus Wenzel (Hrsg.), Der kritische Blick. Über intellektuelle Tätigkeiten und Tugenden, Frankfurt a.M. 2002, 166–185. — An dieser Stelle erlaube ich mir noch ein Wort des Dankes: Dieser Text geht zurück auf einen Vortrag beim Musil-Symposium der University of Chicago im März 2006. Den Teilnehmern dieser Tagung und vor allem deren Veranstalter David Wellbery danke ich für zahlreiche hilfreiche Anmerkungen und Einwände. Außerdem danke ich Walter Fanta vom Robert Musil-Institut der Universität Klagenfurt sehr herzlich dafür, dass er mir Einsicht in die digitale Edition des Musil-Nachlasses gestattet und ermöglicht hat.

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  2. Arthur Rimbaud, Sämtliche Dichtungen, Heidelberg 1965, 325.

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  3. Michel de Montaigne, Œuvres complètes, Bd.II, Paris 1962, 782 („Du repenter“); Ders., Essais [1588], Zürich 1953, 623.

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  4. Charles Baudelaire, Sämtliche Werke, Briefe, München, Wien 1989, V, 225–228; Ders., Œuvres complètes, Bd. II, Paris 1976, 694ff. („Le Peintre de la vie moderne“). Er spricht von „l’estampille que le temps imprime à nos sensations“ (a.a.O., 696). Bei Baudelaire und anderen kommt „a modern metaphysical issue” zum Ausdruck, nämlich „an implicit assertion of the wholly transient, fragmented and perspectival nature of the real, a reality accessible only in contingent, individual ‚moments ‘of representation”

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  5. (Robert B. Pippin, Modernism as a Philosophical Problem, Oxford/Cambridge [Mass.] 1991, 36).

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  6. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes [1807]. Werke, Frankfurt a.M. 1970, III, 71.

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  7. Meist werden nur kursorische Hinweise gegeben; etwas ausführlicher ist Renate v. Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘, Münster 1966, 34ff. u. pass.

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  8. Vgl. Dieter Thomä, „Eine Philosophie des Lebens jenseits des Biologismus und diesseits der ‚Geschichte der Metaphysik‘. Bemerkungen zu Nietzsche und Heidegger mit Seitenblicken auf Emerson, Musil und Cavell“, Heidegger-Jahrbuch 2 (2005), 265–296.

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  9. Nebenbei gesagt: Bei Nietzsche finden sich Aussagen, die als Vorläufer jener Bemerkung Musils gelten dürfen (diesem freilich nicht bekannt waren). Nietzsche bemerkt, er fühle sich in Emersons Essays geradewegs „zu Hause und in meinem Hause” (vgl. KSA IX, 588), und bezeichnet ihn als eine „Bruderseele“ vgl. F. Nietzsche/ F. u. I. Overbeck, Briefwechsel, Stuttgart 2000, 242 (Brief v. 24.12. 1883).

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  10. Vgl. für die (in Kleinigkeiten abweichenden) Originalpassagen aus der von Musil benutzten deutschen Ausgabe Ralph Waldo Emerson, Essays 1. Reihe, Jena 1903, 102, 112, 98. Auch im Folgenden sind die Zitate, die den Musil-Exzerpten entnommen sind, gemäß dieser von ihm benutzten Ausgabe verifiziert worden.

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  11. Vgl. Hans-Georg Pott, Robert Musil, München 1984, 91, 95.

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  12. Zur zeitgenössischen Diskussion um Spinoza vgl. Ellen Key, „Das Glück als Pflicht“, in: Dies., Der Lebensglaube, Berlin 1906, 290–362, bes. 290, 295: „Dass der Lebenswille oder, wie man ihn damals nannte, der Selbsterhaltungstrieb auch die sittliche Triebfeder des Menschen sei, ist der Grundgedanke, auf dem Spinoza seine Ethik aufbaut. […] [J]ede Kraftentwicklung ist an und für sich Glück. Jeder Mensch folgt und soll auch in erster Linie dem Grundgesetz seines Wesens folgen: […] Je tätiger nach seiner Eigenart ein Wesen ist, desto mehr Freude empfängt es. […] Denn der Wille zum Leben und zum Sein ist Grundlage der Tugend“. Vgl. auch die Einordnung Spinozas bei Musil, Tb 1, 157.

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  13. Vgl. Ellen Key, „Die Entfaltung der Seele durch Lebenskunst“, Neue Rundschau 6 (1905), 641–686, hier: 649f.; eine leicht überarbeitete Fassung erschien unter dem Titel „Die Evolution der Seele durch Lebenskunst“ in: Key (Anm. 12), 363–466. — William Channings Schrift „Self Culture” ist übrigens ein besonders symptomatischer Text, der sich heute wie ein ferner Gruß an neuere Konzepte der „Selbstsorge” und der „Lebenskunst“ liest; vgl.

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  14. W.E. Channing, „Self Culture“ [1838], in: Ders., The Works, Boston 1882, 12–35 (Key führt ihn irrtümlich als „Canning„; vgl. Tb 2, 96). — Eine zweite Quelle für Musils Emerson-Bezüge ist der Emerson-Essay in Maurice Maeterlinck, Der Schatz der Armen [1898], Jena 1912, 67–80; vgl. Tb 2, 841. Musil hat die Übersetzungen von Emersons Essays und Conduct of Life aber auch direkt zur Kenntnis genommen.

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  15. Der Bezug zu Bergson erfährt an anderer Stelle im Musil-Nachlass eine Komplikation. In einem (frühen?) Fragment heißt es: „Das (nach Bergson) tiefere Ich hat keine Entwicklung u keinen Fortschritt aufzuweisen. Nur das metrifizierte hat ihn. Und hier wäre zum erstenmal die Forderung auch dieses in die Möglichkeit eines Fortschritts zu bringen“ (VII/11/108). Musil bezieht sich hier auf Bergsons Unterscheidung zwischen dem in die „numerische Mannigfaltigkeit der Bewußtseinszustände […] zerkleinerte[n] Ich“ und dem „fundamentale[n] Ich“; vgl. Henri Bergson, Zeit und Freiheit [1889], Frankfurt a.M. 1989, 97. Die Statik, die dem der ablaufenden Zeit enthobenen „fundamentalen Ich“ Bergsons zukommt, will Musil nicht übernehmen, er kämpft hier aber offensichtlieh damit, die Dynamik oder Entwicklung begrifflich zu fassen. Einstweilen meint er an einem revidierten Fortschritts begriff festhalten zu können.

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  16. Vgl. ausführlicher Dieter Thomä, Vom Glück in der Moderne, Frankfurt a.M. 2003, 175 ff.

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  17. Im Mann ohne Eigenschaften heißt es: „‚Wo ein Mensch seine höchsten Möglichkeiten findet und seine reichste Kraftentfaltung erfährt, dort gehört er auch hin‘, dachte sie, ‚denn dort nützt er zugleich der tiefsten Lebenssteigerung des Ganzen!‘“ (MoE 1, 426); für die Vorlage bei Key vgl. das Exzerpt in den Tagebüchern: „Wo ein Mensch die reichste Kraftentwicklung findet, erfährt er die tiefsten Seelenbewegungen; wo dies, empfindet er das vollste Glück, wo dies erlangt er die höchste Seelensteigerung und fördert die höchste Lebenssteigerung für das Ganze.“ (Tb 1, 165f.; vgl. das Originalzitat in Key, „Die Entfaltung […]“ [Anm. 13], 678). Zu weiteren Parallelen und versteckten Key-Zitaten im Mann ohne Eigenschaften vgl. MoE 1, 426; Tb 1, 165; vgl. auch Tb 2, 101 ff. — Zu den „Maeterlinckparaphrasen“ und einem „Dialog“ als „Austausch von Maeterlinckzitaten“ vgl. Elisabeth Albertsen, Ratio und ‚Mystik ‘im Werk Robert Musils, München 1968, 80.

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  18. Vgl. Albrecht Schöne: „Zum Gebrauch des Konjunktivs bei Robert Musil“, in: Jost Schillemeit (Hrsg.), Interpretationen, Bd. III: Deutsche Romane von Grimmeishausen bis Musil, Frankfurt a.M. 1966, 290–318, hier: 304.

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  19. Walter Fanta in einer schriftlichen Nachricht an den Verf., 26.2. 2006; vgl. auch Walter Fanta, Die Entstehungsgeschichte des „Mann ohne Eigenschaften“, Wien 2000. Es ist freilich einzugestehen, dass es sich tatsächlich um eine Vermutung handelt. Marie-Louise Roth scheint anderer Meinung zu sein, denn sie schreibt — freilich ohne Bezug auf das zitierte Nachlass-Fragment: „Musil hat sich von diesen beiden Autoren“ — gemeint sind Emerson und Maeterlinck -, „die seine Jugend beeinflußt haben, später distanziert. Im Mann ohne Eigenschaften werden sie parodiert. Verständlich ist, daß der junge Musil, auf der Suche seiner selbst, durch das ‚Seelenvolle ‘angezogen wurde.“

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  20. (Marie-Louise Roth, Robert Musil. Ethik und Ästhetik, München 1972, 402) -Unabhängig davon, wie Musils Selbstdeutung zu lesen ist, geht jedenfalls Roths Auffassung ganz in die Irre, dass Emerson im Mann ohne Eigenschaften nur „parodiert“ werde. Wenn es denn noch einer Widerlegung dieses Befunds bedarf, so bezieht mein Beitrag daraus seine Berechtigung.

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  21. Vgl. Eduard Baumgarten, „Mitteilungen und Bemerkungen über den Einfluß Emersons auf Nietzsche“, Jahrbuch für Amerikastudien 1 (1956) 93–152, hier: 101.

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  22. Nietzsches Randnotiz an dieser Emerson-Stelle lautet: „Ihr lebt wie Betrunkene durchs Leben, besinnungslos — und mitunter fallt ihr die Treppe hinab und zerbrecht Euch nicht die Glieder, wegen eurer Betrunkenheit und Besinnungslosigkeit” (KSA IX, 618). Vgl. auch die Notiz: „das Selbst vergessen. Emerson“ (KSA X, 586). — Vgl. auch Stanley Cavell, The Senses of Waiden, Chicago, London 1992, 138: „The achievement of the human requires not inhabitation and settlement but abandonment […]“; Ders., Conditions Handsome and Unhandsome, Chicago, London 1990, 12.

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  23. Vgl. auch für das Folgende Dieter Thomä, Erzähle dich selbst, München 1998, 22, 261.

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  24. Die Verbindung von Ethik und Ästhetik, für die Musil plädiert, hat seinen tieferen Grund in der Forderung, dem Leben gerecht zu werden: Dieser ethische Anspruch wird nur von einem ästhetischen Zugang zum Leben erfüllt. Vgl. Roth (Anm.21); Sabine A. Döring, Ästhetische Erfahrung als Erkenntnis des Ethischen. Die Kunsttheorie Robert Musils und die analytische Philosophie, Paderborn 1999 (der kritische Vergleich zwischen Musil und Rorty, den Döring am Ende ihres Buches anstellt, geht freilich an der eigentlichen Pointe Musils vorbei).

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  25. Ich habe eine ähnliche Konstellation am Beispiel von Rousseaus Rêveries d’un promeneur solitaire analysiert und mich bei dieser Gelegenheit kritisch mit der dekonstruktivistischen Rousseau-Interpretation Derridas und de Mans auseinandergesetzt; vgl. Dieter Thomä, „Das ‚Gefühl der Existenz ‘und die Situation des Subjekts. Mit Rousseau gegen Derrida und de Man denken“, in: Andrea Kern, Christoph Menke (Hrsg.), Philosophie der Dekonstruktion, Frankfurt a.M. 2002, 311–330.

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  26. Vgl. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Frankfurt a.M. 1977, II.1, 144 (Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen).

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  27. Vgl. Dieter Thomä, „Ein metaphysischer Krach um die Nation“, in: Wolfgang Emmerich, Frauke Meyer-Gosau (Hrsg.), Über Grenzen. Jahrbuch für Literatur und Politik, Bd. II, Göttingen 1995, 85–108.

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Thomä, D. „Das gesprochene Wort verliert seinen Eigensinn“ Die Spuren der Sprach- und Lebensphilosophie Ralph Waldo Emersons im Werk Robert Musils. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 80, 456–485 (2006). https://doi.org/10.1007/BF03375665

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