Zusammenfassung
B. Travens Totenschiff wäre weniger als Arbeiterroman denn mit Blick auf die politische Topographie der Moderne zu lesen. Das Schiff wird hier zum Un-Ort jener bürokratischen und assekuranztechnischen Prozeduren, die Staatenlose dem Kalkül des Versicherungsbetrugs übereignen. Gerade diese Spekulation mit der Verschollenheit ist B. Travens ‚Thanatographie ‘eingezeichnet.
Abstract
B. Traven’s Death Ship should be conceived not so much as an industrial novel. Rather, it has to be read with regard to the political topography of modernity. The ship becomes the non-lieu of those bureaucratic and underwriting techniques which surrender displaced persons to the calculus of insurance fraud. Exactly this speculation for disappearance is part and parcel of B. Traven’s ‘thanatography’.
Literature
B. Traven, Das Totenschiff, Frankfurt a.M., Wien, Zürich 1978, 127. — Diese Ausgabe wird im fortlaufenden Text in Klammern zitiert.
Dante Alighieri, Die göttliche Komödie, Anmerkungen von Peter Amelung, 3. Aufl., Darmstadt 1990, 16 (Inf. III., V. 9).
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Teil 2, Werke, Frankfurt a.M. 1995, XIV, 214f.
Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Berlin 1961, XIII, 3–160, hier: 11. (Die zitierte Dante-Stelle stammt aus dem dritten Gesang, Vers 14 und 15, des Inferno.) — Vgl. zudem Ders., Das Kapital, Bd. 1, in: MEW, Berlin 1962, XXIII, 261 (8. Kap. „Der Arbeitstag“, 3. „Englische Industriezweige ohne legale Schranke der Exploitation“).
Zum Topos des höllischen Kesselraums vgl. stellvertretend Egon Erwin Kisch, „Bei den Heizern des Riesendampfers” [1914], in: Schiffe in der Weltliteratur, hrsg. Manfred Gsteiger, Zürich 2001, 286–292. Hier ist durchgängig vom „Reich der Verdammnis“, von der „Unterwelt“ und „Höllenlandschaft“ (286–288) des Kesselraums die Rede.
Vgl. etwa James L. Kastely, „Understanding the ‚work’ of Literature: B. Travens ‚The Death Ship’“, Mosaic 18 (1985), 79–96, hier: 84, 90. Vgl. auch
Heiner Boehncke, „Arbeit und Abenteuer“, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), B. Traven, Text und Kritik 102 (1989), 6–16.
Joseph Conrad, „‚Well done!‘” [1918], in: Notes on life and Letters, hrsg. J.H. Stape, Cambridge 2004, 142–152, hier: 149, zudem Ders., „Ocean Travel“, in: Last Essays, London, Toronto 1926, 53–58, hier: 55.
„Erster Verhandlungstag, Montag, 14. September 1903: Die Lage der in der Seeschiffahrt beschäftigten Arbeiter“, Referat von Ernst Francke, in: Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik über die Lage der in der Seeschiffahrt beschäftigten Arbeiter und über die Störungen im deutschen Wirtschaftsleben während der Jahre 1900ff., Bd. 113, Leipzig 1904, 11–44, hier: 15.
Michel Foucault, „Andere Orte“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hrsg.), Aisthesis. Wahrnehmungheute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, 3. Aufl., Leipzig 1990, 34–46, hier: 46.
Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, 11. Aufl., Frankfurt a.M. 1995, 29.
Aristoteles, Politik, in: Philosophische Schriften, 7. Buch, 7. Kap., Hamburg 1995, IV, 1327a/b.
Vgl. Bernhard Siegert, „Pasajeros a Indias. ‚Auto‘-biographische Schrift zwischen Alter und Neuer Welt im 16. Jahrhundert“, in: Anja K. Maier, Burkhardt Wolf (Hrsg.), Wege des Kybernetes. Schreibpraktiken und Steuerungsmodelle von Politik, Reise, Migration, Münster 2004, 260–276.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke, Frankfurt a.M. 1995, XII, 118.
Carl Schmitt, Der Nomos der Erde. Das Völkerrecht des Jus Publicum Europœum, 4. Aufl., Berlin 1997, 189.
Vgl. hierzu John Torpey, „The Great War and the Birth of the Modern Passport System“, in: Jane Caplan, John Torpey (Hrsg.), Documenting individual identity. The development of state practices in the modern world, Princeton 2001, 256–270.
Vgl. Thomas Jürgens, Diplomatischer Schutz und Staatenlose, Berlin 1986, 52, 90.
Hannah Arendt, Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitärismus, 8. Aufl., München 2001, 608.
B. Traven, „Mein Roman ‚Das Totenschiff‘“, in: Die Büchergilde 3 (1926), 34–38, hier: 36.
Vgl. hierzu Joseph Vogl, „Asyl des Politischen. Zur Topologie politischer Gelegenheiten“, in: Uwe Hebekus, Ethel Matala de Mazza, Albrecht Koschorke (Hrsg.), Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik, München 2003, 23–38, hier: 35.
Vgl. Edward Everett Hale, „The Man without a Country“, in: The Man without a Country and other Tales, New York 1968, 7–48, hier: v.a. 13–16, 22, 38.
„Dies ist das Schiff des Todes: unsichtbar jedem Menschblick und nur Dem sichtbar, der sterben muß.“ — Heinrich Smidt, „Das Todtenschiff“, in: Seemanns-Sagen und Schiffer-Märchen, 2., vollständige Aufl., Berlin 1849, 125–132, hier: 129.
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Heinz Heike, Der Versicherungsbetrug im geltenden Recht und in den Entwürfen zu einem neuen Strafgesetzbuch, Göttingen 1925 (Diss.), 5. — Vgl. auch ebenda, 48f.
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Vgl. hierzu Marlies Lehmann-Brune, Die Story von Lloyd’s of London. Glanz und Tragödien des legendären Versicherungshauses, Düsseldorf 1999, 225.
Vgl. hierzu Alan Cameron, Roy Farndon, Scenes from Sea and City. Lloyds List 1734–1984, Essex 1984, 80ff.
Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a.M. 1997, 15.
Blaise Pascal, „Discours sur la condition des grands“, in: Œuvres, hrsg. Léon Brunschvicg, Pierre Boutroux, Félix Gazier, Paris 1914, IX, 359–374, hier: 365f.
Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: Kritische Studienausgabe, hrsg. Giorgio Calli, Mazzino Montinan; 2. Aufl., München 1988, I, 887f.
B. Traven, „In Memoriam ‚Yorikke‘“, in: Johannes Beck, Klaus Bergmann, Heiner Boehncke (Hrsg.), Das B. Traven-Buch, Reinbek bei Hamburg 1976, 160–163, hier: 161.
Friedrich von Schlegel, Geschichte der alten und neuen Literatur. Vorlesungen gehalten zu Wien im Jahre 1812, hrsg. Marie Speyer, Regensburg 1911, 87. (12. Vorlesung, u.a. zu Cervantes)
John R. Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt a.M. 1983, 258 und
Walter Benjamin, „Erste Notizen: Pariser Passagen I“, in: Gesammelte Schriften, Frankfurt a.M. 1991, V, 991–1038, hier: 1036.
J.L. Austin, How to do things with words. The William James Lectures delivered at Harvard University in 1955, 2. Aufl., Oxford, New York 1975, 22.
Zit. nach: Karl S. Guthke, B. Traven. Biographie eines Rätsels, Zürich 1990, 33.
Paul Sandau, Das Recht des Pseudonyms, Marburg 1932 (Diss.), 7f.
Zit. nach: Gerhard Söhn, Literaten hinter Masken. Eine Betrachtung über das Pseudonym in der Literatur, Berlin 1974, 154.
Michel Foucault, „Was ist ein Autor?“ [1969], in: Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M. 1988, 7–31, hier:13.
Angeblich hat sich B. Traven/Croves/Torsvan auch in seiner ‚bürgerlichen Existenz ‘mit Gale identifiziert: Sein mexikanisches Studio nannte er The Bridge, sich selbst sah er als Skipper, seine Frau und seine Töchter als Offiziere ersten bis dritten Grades, und der Haushalt sollte geführt werden unter dem Motto: Everything must be saved as if it were a ship. — Vgl. Donald O. Chankin, Anonymity and Death. The Fiction of B. Traven, Pennsylvania 1975, 117f.
„Die englische rote Flagge — ein Stückchen Kattung, symbolisch, schützend und warm, das über allen Meeren weht und so viele Jahre lang das einzige Dach über meinem Kopf sein sollte.“ — Joseph Conrad, Bericht über mich selbst, Leipzig, Weimar 1979, 166. — Das amerikanische State Fugitive Law von 1850 wurde von Melvilles Schwiegervater Lemuel Shaw erstmals umgesetzt, worauf besonders das 89. Kapitel des Moby Dick unter dem Titel „Fast-fish and loose-fish“ anspielt. — Vgl. hierzu
Alexander Pechmann, Herman Melville. Leben und Werk, Wien, Köln, Weimar 2003, 161.
Vgl. hierzu Titus Heydenreich, Tadel und Lob der Seefahrt. Das Nachleben eines antiken Themas in den romanischen Literaturen, Heidelberg 1970, 11, passim.
Hugo Friedrich, „Odysseus in der Hölle (Dante, Inferno XXVI)“, in: Ernesto Grassi (Hrsg.), Geistige Überlieferung. Das zweite Jahrbuch, Berlin 1942, 154–200, hier: 172.
Henning Teschke, „Dantes Innenräume“, Typoskript 2005.
Zur probabilistischen Transformation von Ciceros Topik bei Jakob Bernoulli vgl. Walter Hauser, Die Wurzeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die Verbindung von Glücksspieltheorie und statistischer Praxis vor Laplace, Stuttgart 1997, 101 f., 117.
Zum allegorischen „Passions=Schiff“ im 17. Jahrhundert vgl. Heimo Reinitzer, „Wasser des Todes und Wasser des Lebens. Über den geistigen Sinn des Wassers im Mittelalter“, in: Hartmut Böhme (Hrsg.), Kulturgeschichte des Wassers, Frankfurt a.M. 1988, 99–144, hier: 114f.
Hegel (Anm. 13), 119 sowie Max Horkheimer, Theodor W Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1988, 71.
Primo Levi, Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht, 6. Auflage, München 1997, 137. Vgl. zudem
Pier Paolo Pasolini, „Völkermord“, in: Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, Berlin 1988, 39–43 sowie Ders., Barbarische Erinnerungen. La Divina Mimesis, Berlin 1983, v.a. 54.
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Wolf, B. „Es gibt keine Totenschiffe.” B. Travens sea change. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 80, 435–455 (2006). https://doi.org/10.1007/BF03375664
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