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Zusammenfassung

Der Aufsatz erklärt, warum Erich Ungers Politik und Metaphysik von Benjamin als bedeutend eingeschätzt wurde. Hier fand er 1921 die Vorstellung vom katastrophalen Verlauf der Geschichte vorgeprägt. Sein Essay Zur Kritik der Gewalt ähnelt Ungers Schrift in Pathos und politischer Tendenz. Beide Texte sind typische Reaktionen auf Erfahrungen der Weimarer Zeit.

Abstract

This analysis shows why Benjamin judged Unger’s Politik und Metaphysik important. In 1921 he encountered here the idea that the whole of history was a catastrophe. His essay Zur Kritik der Gewalt resembles Unger0027;s piece in its emotionalism and its political attitude. Both texts demonstrate typical reactions to the Weimar period.

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Literature

  1. Walter Benjamin, Briefe, hrsg. G. Scholem und Th. W Adorno, Frankfurt a. M. 1966, I, 252. — Es ist das Verdienst von Manfred Voigts, zum ersten Mal näher auf die Beziehung der beiden Philosophen eingegangen zu sein: Manfred Voigts, „Metaphysische Politik und psychophysisches Problem. Das Verhältnis von Walter Benjamin und Erich Unger“, Neue deutsche Hefte 35 (1988), 798–808.

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  2. Vgl. Erich Unger, Politik und Metaphysik, hrsg. Manfred Voigts, Würzburg 1989

  3. Daß die Denkfigur, scheinbar Gegensätzliches als identisch zu erweisen, Unger prägt, erweist bereits sein früher Dialog Die Gehemmten, in welchem er die „innerste Gemeinsamkeit“ des Wissenschaftsmenschen und des Ästheten begründet. Vgl. den Wiederab-druck des 1910 in der Zeitschrift Der Sturm erschienenen Textes in: Erich Unger, Vom Expressionismus zum Mythos des Hebräertums. Schriften 1909 bis 1931, hrsg. Manfred Voigts, Würzburg 1992, 12–16.

  4. Zur philosophischen Diskussion vgl. z.B. Wolfgang Marx (Hrsg.), Philosophie und Psychologie. Leib und Seele — Determination und Vorhersage, Frankfurt a. M. 1989 und

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  5. Josef Seifert, Das Leib-Seele-Problem in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion, Darmstadt 1979.

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  6. Unger (Anm. 2), 33 f. — Unger benutzt den Begriff „Volk“ gleichbedeutend mit dem Begriff „Nation“, wie seine Aussage bestätigt, daß die Nationen einmal „lebendige Urgebilde“ gewesen seien, die sich jetzt in Scheinbarkeit aufgelöst hätten (37). Vgl. dazu Reinhart Koselleck, „‚Volk‘, ‚Nation‘, ‚Nationalismus’ und ‚Masse ‘1914–1945“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. Otto Brunner u. a., Stuttgart 1992, VII, 389–398. — Hinter Ungers Ansatz steht die von Ferdinand Tönnies 1878 in seinem Buch Gemeinschaft und Gesellschaft entwickelte Gegensätzlichkeit der beiden Titelbegriffe, die bereits mit der Gegenüberstellung von ‚organisch ‘und ‚mechanisch ‘operiert. Vgl. die Neuauflage Darmstadt 1979, 4.

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  7. Unger (Anm. 2), 30 f. Es verwundert daher nicht, daß Unger davon spricht, die ersehnte Gesamtheit müsse „von oben“ konstituiert werden (44). Zuweilen erinnert seine Hoffnung auf die Erlösung durch die Auserwählten an den Bericht Scholems über den Forte-Kreis, dessen Mitglieder davon träumten, die geistige Gemeinschaft einer kleinen Elite könne die Welt aus den Angeln heben. Vgl. Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 4. Auflage, Frankfurt a. M. 1993, 106.

  8. Auch der George-Kreis sowie Ludwig Derleth, Rudolf Pannwitz, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt erwarteten die Besserung der Weltzustände vom Überbau, nicht von der Basis. Vgl. dazu Stefan Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995, 43, 120, 122 f., 146, 168. Das dabei erwartete goldene Zeitalter, welches Unger propagiert und prognostiziert, stammt nicht nur aus dem Mythos, es bedeutet seine Wiederkehr. Angeregt wird das Programm von den Münchner Kosmikern und von George.

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  9. Vgl. Ulrich Schödlbauer, Stefan George: Positionen der Moderne, Hagen 1992, 82.

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  10. Vgl. z.B. Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher, Leipzig 1890, 280

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  11. Lagarde und Langbehn werden umfassend dargestellt in: Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, München 1986.

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  12. Unger (Anm. 2), 32. Auch in seiner zweiten Veröffentlichung, dem Aufruf zur Gründung einer „gesetzgebenden Akademie“ geht es Unger um die Fortentwicklung eines Geistes, der den Problemen der Leiblichkeit gewachsen sein soll. Er bezeichnet dabei die Juden als das Volk, welches den Geist um des Körperhaften willen am weitesten getrieben habe. Vgl. Erich Unger, Die staatslose Bildung eines jüdischen Volkes, Berlin 1922, 28.

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  13. Unger (Anm. 2), 32. — Daß der Zeitgeist zu Beginn der Zwanziger Jahre — und später — mit dem Opfer des Lebens großzügiger umging, als dies Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts plausibel erscheint, beweist der Essay Benjamins weiter unten. Auch Hofmannsthal erwartete, daß sich die Suchenden, denen die Rettung der Welt anheimgegeben ist, opfern, und Borchardt forderte eine Elite des deutschen Geistes, die es erträgt, Blut zu sehen. Vgl. Breuer (Anm. 11), 148 und 168. Carl Schmitt bezog die Eventualität, das eigene Leben opfern zu müssen, in seine Definition des Politischen mit ein. Vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien), Berlin 1963, 36.

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  14. In einem Brief, der sich im Nachlaß von Ludwig Strauß findet, spricht Benjamin von einer Pflicht, die man gegen eine Aufgabe erfülle, die die Persönlichkeit ergriffen habe. Vgl. Hans Puttnies, Gary Smith, Benjaminiana, Gießen 1991, 50.

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  15. — Der Terminus „Aufgabe“ findet sich häufig beim frühen Benjamin, etwa im Titel seines Essays Von der Aufgabe des Übersetzers. In einem Brief von 1913 postuliert er die blinde Pflichterfüllung als Sühne für das Selbstbewußtsein einer Berufung! Vgl. Walter Benjamin, Gesammelte Briefe, I (1910–1918), hrsg. Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 1995, 162.

  16. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, II/1, hrsg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1977, 182. (Diese Werkausgabe wird künftig als GS zitiert.)

  17. Benjamin (Anm. 18), 193 f. — Für Benjamins Verhältnis zu Sorel siehe Chryssoula Kambas, „Walter Benjamin liest Georges Sorel: ‚Réflexions sur la violence‘“, in: Michael Opitz, Erdmut Wizisla (Hrsg.), ‚Aber ein Sturm weht vom Paradiese her‘. Texte zu Walter Benjamin, Leipzig 1992, 250–269. Über Sorels Philosophie, seine von Bergson und Nietzsche herkommende Verherrlichung der Gewalt als einer Manifestation des Lebens und seine Prophezeiung der großen Katastrophe informiert Hanna Arendt in ihrem Buch Macht und Gewalt, 8. Auflage, München 1995, 70–74.

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  18. — Über die juristische Einschätzung des Streikrechts in der Weimarer Republik — insbesondere über die Frage, ob die in Artikel 159 der Verfassung gewährte Vereinigungsfreiheit ein Streikrecht impliziere —, informieren z. B. Adolf Arndt, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Berlin, Leipzig 1927, 399–402

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  19. Fritz Poetzsch-Heffter, Handkommentar der Reichsverfassung, 3. Auflage, Berlin 1928, 492–494

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  20. Ludwig Gebhard, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, München, Berlin, Leipzig 1932, 552–554

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  21. Margarete Bulle, Die Nötigung mit besonderer Berücksichtigung des Streiks, Diss. Erlangen, Coburg 1928

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  22. Erich Litzka, Ist Eintritt in den Streik ein Grund zur fristlosen Entlassung?, Diss. Halle, Wittenberg 1933.

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  23. Daß man unter dem spröden Fruchtfleisch des Essays auf diesen zahnweichen Kern stößt, verrät Benjamin in einem Brief. Vgl. Walter Benjamin, Gesammelte Briefe, II (1919–1924), hrsg. Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 1996, 101. — Benjamins hier artikulierte Sympathie für den Anarchismus entspricht einer Konjunktur des Begriffs. So bekannten sich sogar eher als konservativ eingeschätzte Autoren in überraschender Weise: George wollte sich, trotz seiner Gründung eines staatsähnlichen Jüngerbundes, als Anarchist verstanden wissen, und Hofmannsthal feierte die Anarchie als Voraussetzung von Produktivität. Vgl. Breuer (Anm. 11), 146 und 221.

  24. Scholem berichtet, daß Benjamins Freundschaft zu Herbert Blumenthal 1917 scheiterte, weil Benjamin ihm gegenüber „einen unbedingten Führungsanspruch im Geistigen“ erhob, „dem dieser sich künftig unterzuordnen habe“. Er spricht sogar vom „des potischen Zug“ und von in seinem Wesen liegenden „Radikalismus“. Siehe Gershom Scholem, Walter Benjamin — die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt a. M. 1975, 57. — Benjamins Jugendbriefe — dazu passend — offenbaren seine Überzeugung vom Judentum als der geistigen Elite. Vgl. Benjamin (Anm. 17), 70, 71, 75.

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  25. Unger (Anm. 2), 12. — Voigts folgt Ungers Auffassung noch heute. Vgl Voigts (Anm. 1), 801. Nach Voigts’ Darstellung forderte Benjamin 1912/1913 eine undemokratische Schule. — Georg Simmel hingegen zählte den Kompromiß schon vor den Zwanziger Jahren zu den größten Erfindungen der Menschheit. Zum Thema und zu weiterer Literatur siehe K.-D. Osswald, „Kompromiß“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, IV, hrsg. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Darmstadt 1976, 941 f.

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  26. — Die Unfähigkeit der politischen Parteien Weimars zum Kompromiß führt Hagen Schulze auf ihren absoluten Wahrheitsanspruch zurück und weist auf die mißlichen Folgen für die Demokratie hin. Siehe Hagen Schulze, Weimar. Deutschland 1917–1933, Berlin 1982, 69.

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  27. Zitiert nach Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschlands München 1988, 19f. Vondungs Buch ist reich an Beobachtungen zur deutschen Vorliebe für den Untergang und eignet sich vorzüglich dazu, Benjamins Katastrophen-Denken im Kontext zu entschrecklichen.

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  28. Siehe Werner Kraft, Spiegelung der Jugend, Frankfurt a. M. 1996, 59.

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  29. Hermann Bahr, Expressionismus, München 1920, 110 f.

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  30. Benjamins Vorliebe für die metaphysische Einsicht stellt sein Jugendfreund Belmore heraus. Vgl. H.W. Belmore, „Some Recollections of Walter Benjamin“, German Life and Letters 28 (1974/1975), 119–127.

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  31. Benjamins Briefe bestätigen diese Vorliebe: Da gibt es z.B. den „metaphysischen Ursprung des talmudischen Witzes“ (382). — Daß eine gegen den Positivismus gerichtete Metaphysik aufkommen werde, prognostizierte Wilhelm Dilthey 1900 und Wilhelm Windelband 1910. Vgl. Wilhelm Dilthey, „Die Kultur der Gegenwart und die Philosophie“, in: Weltanschauungslehre, Ges. Schriften, VIII, Stuttgart, Göttingen 1962 und

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  32. Wilhelm Windelband, „Von der Mystik unserer Zeit“, in: ders., Präludien, I, Tübingen 1924.

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  33. — Daß Metaphysizierung die Germanistik, zumal die Barock-Forschung der Zwanziger Jahre prägte, untersuchte bereits Hans Epstein, Die Metaphysizierung in der literarwissenschaftlichen Begriffsbildung und ihre Folgen. Dar gelegt an 3 Theorien über das Literaturbarock, Berlin 1929 (Germanische Studien Heft 73).

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  34. Vgl. Peter Wust, Auferstehung der Metaphysik, Hamburg 1963 (Nachdruck der Ausgabe von 1920), XII.

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  35. Wust (Anm. 42), 10 und 15. — Peter Gay charakterisiert den typischen weimardeutschen „Hunger nach Ganzheit“ u. a. durch ein Zitat aus Hofmannsthals berühmter Rede Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, in welchem die Aufhebung aller Zweiteilung — ganz im Sinne Ungers — gefordert wird. Gays Beispiele für diese Tendenz reichen vom Vorwort des Zupfgeigenhansels bis zu Friedrich Meineckes Idee der Staatsräson von 1924 mit ihrem Ideal des organischen Gemeinwesens. Vgl. Peter Gay, Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918–1933, Frankfurt a. M. 1989, 108–130.

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  36. Fritz K. Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933, München 1987, 311. Gundolf beginnt seine Cäsar-Biographie mit den Worten: „Heute, da das Bedürfnis nach dem starken Mann laut wird, da man der Mäkler und Schwätzer müd sich mit Feldwebeln begnügt statt der Führer, da man zumal in Deutschland jedem auffallenden militärischen wirtschaftlichen beamtlichen oder schrift stellerischen Sondertalent die Lenkung des Volkes zutraut… möchten wir die Voreiligen an den großen Menschen erinnern dem die oberste Macht ihren Namen und Jahr hunderte hindurch ihre Idee verdankt: Cäsar

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  37. (Friedrich Gundolf, Caesar. Geschichte seines Ruhms, Berlin 1924, 7 — Von Benjamin ist bekannt, daß er dazu neigte, die Zahl der Kommas in seinem Text niedrig zu halten. Offenbar hat er in Gundolf einen Stilgenossen.) — Eine der frühsten Quellen für den Ruf nach den großen Individualitäten wie für den Schrei nach der neuen Ganzheit, für die Sehnsucht nach Aristokratie und die Ablehnung der Gleichheit ist Julius Langbehns Erfolgsbuch von 1890 Rembrandt als Erzieher. Benjamin äußert 1914 brieflich die Absicht, es zu lesen. Vgl. Benjamin (Anm. 17), 196.

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Rumpf, M. Pathos und Parole Walter Benjamin und Erich Unger. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 71, 647–667 (1997). https://doi.org/10.1007/BF03375655

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